Berliner kämpft sich aus Obdachlosigkeit: „Ich habe mich als Mensch zweiter Klasse gefühlt“

berliner kämpft sich aus obdachlosigkeit: „ich habe mich als mensch zweiter klasse gefühlt“

Ronny M. vor dem roten Backsteingebäude in Köpenick. Dort lebt er seit November in einer Wohngemeinschaft.

Ronny M. steht in der Schlange der Tee- und Wärmestube in Neukölln des Diakoniewerks Simeon für eine warme Mahlzeit an. Am Monatsende ist es besonders voll hier, weil das Bürgergeld knapp wird. Auch bei ihm. Und doch geht es dem 41-Jährigen heute um Längen besser als in den vergangenen Jahren. Der zweifache Vater war vier Jahre lang obdachlos, fast ein Jahr davon hat er auf der Straße gelebt – zu häufiges Schwarzfahren führte indes zu einer Gefängnisstrafe. Der Berliner Zeitung erzählt er, wie er aus dem Teufelskreis ausbrechen konnte: eine tragische Geschichte vom Scheitern und von Neuanfängen.

„Ich bin tief gefallen und habe alles verloren“, sagt der gelernte Maurer und Stuckateur. Ronny M., ein großer, breitschultriger Mann mit abrasierten dunklen Haaren, hat jahrelang auf dem Bau gearbeitet und schwere körperliche Arbeit verrichtet. Das hat ihn abgehärtet – jedoch nicht gegen die Folgen eines gebrochenen Herzens. Nach mehreren gescheiterten Beziehungen gab der Berliner auf.

Sie waren der Grund, sagt Ronny M., dass es überhaupt so weit gekommen ist und er hier an diesem Montagnachmittag gemeinsam mit anderen bedürftigen Menschen ansteht, um auf seine Portion Gulasch zu warten.

Als er vor 17 Jahren zum ersten Mal Vater einer Tochter wurde, sei noch alles in Ordnung gewesen. Bereits eineinhalb Jahre später folgte sein Sohn. Eine Familie hatte sich Ronny M. immer sehnlichst gewünscht – doch nach wenigen Jahren begann die Ehe zu bröckeln. „Wir haben immer häufiger gestritten und waren nicht in der Lage, unsere Konflikte respektvoll zu lösen“, erinnert er sich.

Die privaten Probleme häuften sich – Schlafstörungen, ewiges Grübeln darüber, wie man die Ehe noch retten kann – und je schlimmer es zu Hause wurde, umso schwieriger wurde es auch für Ronny M., im Berufsleben zu funktionieren. Die Folge: Ronny verlor beides, Job und Beziehung. Nach acht Jahren trennte er sich 2011, weil seine Frau ihn mit einem anderen Mann betrogen hatte. Der Schmerz sitzt noch heute tief. Er hat drei Jahre gebraucht, „um sich von diesem Schock zu erholen“.

Sechs Jahre später verliebte sich Ronny erneut, kündigte bereits nach wenigen Monaten seine Wohnung und zog zu ihr nach Marzahn. Die ersten Konflikte ließen nicht lange auf sich warten. Ronny M. hatte finanzielle Sorgen und sich verschuldet; das belastete auch die Beziehung schwer. Weil er zu oft beim Schwarzfahren erwischt wurde, musste er 2018 für 110 Tage ins Gefängnis – die Geldstrafe konnte er nicht zahlen. In der JVA Plötzensee begegnete er Männern, die schwere Straftaten verübt hatten und sogar wegen Totschlags einsaßen. „Das war sehr erschütternd zu erleben und ich habe bemerkt, welch ein bedeutendes Gut die Freiheit ist“, so sagt er.

Kurz nachdem er aus der Haft entlassen wurde, endete auch diese Beziehung nach zwei Jahren. „Sie hat mich einfach von heute auf morgen aus der Wohnung geschmissen und ich stand mit all meinen Sachen da und wusste nicht, wohin“, erzählt er.

Dann ging es weiter bergab. Der 41-Jährige zog zunächst vorübergehend zu einem Freund. Doch weil er in dieser Zeit nirgendwo gemeldet war, bekam er sein Arbeitslosengeld nicht weiter gezahlt und musste von dem Einkommen seines Freundes leben. „Ihm ist irgendwann der Geduldsfaden gerissen und er hat mich gebeten, mir woanders Hilfe zu holen“, sagt Ronny M. Wochenlang irrte er orientierungslos durch Marzahn, schlief in Hauseingängen und unter Kellertreppen. Um sich etwas zu essen und zu trinken kaufen zu können, begann er Pfandflaschen zu sammeln und auch an öffentlichen Plätzen zu betteln.

„Es war mir so peinlich und ich habe mich als Mensch zweiter Klasse gefühlt“, sagt Ronny M. Er besuchte mehrmals in der Woche Ausgabestellen der Tafel und Suppenküchen, um irgendwie über die Runden zu kommen.

Am allermeisten habe ihn sein Körpergeruch belastet, weil er über Monate nicht geduscht hat. „Es war mir schon unangenehm, mich selbst zu riechen, und ich habe mich vor mir selbst geekelt“, sagt er. Er habe sich kaum noch unter Menschen gewagt. Den Kontakt zu seinen beiden Kindern hat er auch abgebrochen. Er wollte nicht, dass sie mitbekommen, dass er auf der Straße lebt, „weil er sich so dafür geschämt hat“. Die Mutter, seine Ex-Frau, habe ihnen gesagt, dass er für längere Zeit auf Montage ist. Das hätten sie natürlich nicht geglaubt und immer nach ihm gefragt.

An einem Herbstabend wurde ein Streetworker auf ihn aufmerksam. Er habe ihn gefragt: „Was ist los mit dir? Warum musst du auf der Straße leben?“ Mithilfe des Sozialarbeiters konnte er in einem Obdachlosenwohnheim unterkommen und erhielt dort auch Geld für Fotos und einen neuen Pass, damit er sich damit beim Jobcenter anmelden konnte.

Doch in dem Wohnheim wurden die Probleme noch größer. Der zweifache Vater traf dort auf Alkoholiker und Junkies und begann selbst, Drogen zu konsumieren. „Ich ließ mich dazu anstiften mitzutrinken, wenn die anderen tranken und konnte nicht Nein sagen. Und für einen kurzen Augenblick war die Welt dann auch schöner“, sagt Ronny M.

Er versuchte immer wieder, den Alkoholexzessen zu entkommen und die Sucht zu besiegen, doch das sei schwer gewesen, weil er immer wieder in Versuchung geraten sei.

Erst ein sehr einschneidendes Erlebnis im Wohnheim hatte ihn schließlich zur Abstinenz gebracht: „Ich bekam mit, wie ein Bewohner verstarb, weil er zu viel getrunken hatte. Dieses Bild vor Augen, wie er dort vom Bestattungsunternehmen abgeholt worden ist, bekomme ich bis heute nicht mehr aus meinem Kopf heraus.“

Nachdem Ronny M. seinen Alkoholkonsum in den Griff bekommen hatte, fand er über einen ehemaligen Kollegen einen neuen Job; zunächst einen Minijob. „Ich fühlte mich mit einem Mal wieder in einem Team integriert und zugehörig. Die Arbeit machte mir Spaß“, erzählt er.

Schon bald bekam er in dem Unternehmen eine Vollzeitanstellung. Doch damit begannen die nächsten Probleme. Er sollte im Wohnheim aus dem Zweibettzimmer in ein Einzelzimmer umziehen und Miete dafür zahlen, weil er jetzt eigenes Geld verdiente. „Das Zimmer kostete 890 Euro und ich bekam gerade knapp über dem Bürgergeld-Satz gezahlt“, sagt Ronny M.

Er bekam erneut finanzielle Schwierigkeiten und zog aus dem Wohnheim wieder aus. Eine fatale Entscheidung: Denn der zweifache Vater landete ein zweites Mal auf der Straße. Wieder suchte er zunächst Unterschlupf bei einem Freund, zog später täglich von Notunterkunft zu Notunterkunft.

berliner kämpft sich aus obdachlosigkeit: „ich habe mich als mensch zweiter klasse gefühlt“

Ronny M. geht gern in Köpenick spazieren. Wenn er noch ein bisschen Geld übrig hat, holt er sich beim Bäcker einen Becher Kaffee.

In Neukölln begegnete er zwei ehrenamtlichen Mitarbeitern der Tee- und Wärmestube in der Leinestraße. Durch sie fand er den Weg in die soziale Einrichtung und die Kraft, sich ein weiteres Mal Hilfe zu holen. Nach einigen Besuchen sprach er den Leiter an – und erhielt die Adresse der Plattengruppe in Köpenick für wohnungslose Menschen, die vom Diakoniewerk Simeon seit mehr als 30 Jahren betrieben wird.

Ein Glücksfall für Ronny M.: Im November vergangenen Jahres bekam er dort einen Platz in einer Vierer-WG. Er teilt sich die Wohnung mit drei anderen Männern und wohnt dort in einem etwa zehn Quadratmeter großen Raum, eingerichtet mit Tisch, zwei Stühlen, Bett, Kleiderschrank und Kühlschrank.

An der Wand in Ronny M.s Zimmer hängt ein Tierposter, auf dem ein Affe abgebildet ist. Der vorherige Bewohner hat es für ihn dort hängen lassen. „Ich habe ja nichts mitgebracht, weil ich mein ganzes Hab und Gut unterwegs verloren habe“, sagt er.

Seitdem Ronny M. wieder einen festen Wohnsitz hat, bekommt er auch wieder Bürgergeld. Mithilfe von Sozialarbeitern tastet er sich langsam zurück ins Leben.

„Es ist unsere Aufgabe als Staat und Gesellschaft, die Not solcher obdachlosen Menschen wie Ronny M. zu lindern, ihnen Hilfe anzubieten sowie eine neue Perspektive aufzuzeigen, damit sie wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können“, sagt Thomas de Vachroi, Armutsbeauftragter des Diakoniewerks Simeon und Kirchenkreises Neukölln. Es gehöre aber auch einiges an Selbstbewusstsein und Selbstreflexion dazu, um sich aus so einer Situation befreien zu können, die eine persönliche Katastrophe sei.

berliner kämpft sich aus obdachlosigkeit: „ich habe mich als mensch zweiter klasse gefühlt“

Ronny M. denkt viel über sein Leben nach. In der Vergangenheit ist einiges schiefgelaufen.

Der Fall von Ronny M. sei kein Einzelfall in Berlin, aber schon sehr außergewöhnlich, weil er durch die private Begegnung mit den beiden ehrenamtlichen Mitarbeitern der Tee- und Wärmestube begann, die sich sehr engagiert hätten.

Die Obdachlosigkeit in Berlin habe sich seit Corona verschlimmert, so de Vachroi. Es gebe zwar nach wie vor keine zuverlässigen Zahlen, man gehe aber derzeit schätzungsweise von bis zu 6000 Menschen aus, die in Berlin auf der Straße lebten, die Dunkelziffer sei größer. Man brauche nur durch die Straßen zu gehen und könne sehen, wie groß die Not geworden sei.

„Trennungen wie bei Ronny M. führen häufiger in die Obdachlosigkeit. Die Menschen fallen dann in ein tiefes Loch und wenn sie keine Hilfe bekommen, ist es schwer für sie, dort allein wieder herauszukommen“, erklärt Berlins Armutsbeauftragter.

Gerade ist Ronny M. in zahnärztlicher Behandlung, weil sein Gebiss kaputt ist und runderneuert werden muss. „Ich bin kaum noch zum Zahnarzt gegangen, weil ich so große Angst vor dem Bohren hatte“, erklärt er. Die kaputten Zähne hätten ihm viel Selbstbewusstsein geraubt. Aus Angst, den Mund richtig zu öffnen und seine Zähne zu zeigen, begann er, leicht zu nuscheln. Die Zahnsanierung sei wichtig für seine Jobperspektive und sein Auftreten, um eines Tages wieder auf eigenen Füßen stehen zu können. Mit seinen schlechten Zähnen traue er sich nicht, sich einem Arbeitgeber vorzustellen.

Er lernt auch, wieder Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen. Zu seinem 16-jährigen Sohn und der 17-jährigen Tochter, die nicht in Berlin leben, hat er wieder regelmäßigen Kontakt und fährt sie zweimal im Monat besuchen. „Ich habe ihnen inzwischen die Wahrheit gesagt und sie wissen, wie es wirklich um mich steht“, sagt Ronny M.

Er versucht, das Vertrauen, das er durch den Bindungsabbruch zerstört hat, langsam wieder aufzubauen. Seine Tochter macht gerade eine Ausbildung zur Kfz-Mechatronikerin, darauf ist er sehr stolz. „Meine Kinder haben es nicht einfach gehabt. Ich bin sehr froh, dass sie trotzdem ihren Weg gehen.“

Auch er will sich jetzt mit 41 Jahren noch mal auf einen neuen Weg machen. Seine Tochter habe kürzlich zu ihm gesagt, dass er nach vorn blicken soll. Dieser Satz habe ihm viel Kraft gegeben. Er sagt: „Ich bin es mir selbst und auch meinen Kindern schuldig, dass ich mein Leben wieder in den Griff bekomme.“ Sein Ziel ist, irgendwann wieder eine eigene Wohnung zu beziehen. Dann können ihn seine Kinder auch mal wieder in seinem Zuhause besuchen. Das wünscht sich Ronny M. so sehr.

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