Nach 16 Jahre langen, extrem mühsamen Verhandlungen schaffen die Schweizer Handelsdiplomaten den Durchbruch mit dem bevölkerungsreichsten Land der Welt.
Handschlag in Mumbai: Der Schweizer Verhandlungsführer Markus Schlagenhof, Wirtschaftsminister Guy Parmelin, der indische Handelsminister Piyush Goyal, Staatssekretärin Helene Budliger und der indische Verhandlungsführer (von links nach rechts).
Noch am Donnerstagmorgen war unklar, ob der Coup gelingen würde. Guy Parmelin war am Weltwirtschaftsforum in Davos, traf ausländische Minister und sprach zwischendurch mit Schweizer Journalisten. Als sie ihm Fragen zu Indien stellten, antwortete Parmelin ausweichend. Mit gutem Grund: Seit 2008 versucht die Schweiz, mit Indien ein Freihandelsabkommen abzuschliessen. Guy Parmelin ist bereits der dritte Wirtschaftsminister, der sich daran die Zähne ausbeisst. 16 Jahre Verhandlungen und kein Erfolg. Bis am Donnerstagmorgen.
Dann überschlagen sich die Ereignisse. Kurzfristig sei eine Einladung aus Indien gekommen, heisst es aus Parmelins Umfeld.
Am frühen Freitagmorgen, als in Davos noch alles schläft, wird der SVP-Bundesrat im Schneegestöber nach Zürich chauffiert, wo der Bundesratsjet auf ihn wartet. Am Freitagabend sitzen Parmelin und seine Unterhändler bereits in Mumbai am Verhandlungstisch. Die Gespräche dauern bis tief in die Nacht. Am Samstagmorgen gehen die Verhandlungen weiter in einem Raum mit sehr dicken Teppichen und sehr dunklem Täfer und einem sehr langen Tisch.
Auf der einen Seite: Guy Parmelin aus dem Waadtländer 700-Seelen-Dörfchen Bursins, früher Weinbauer, heute Bundesrat. Auf der anderen Seite: Piyush Goyal aus der 21-Millionen-Stadt Mumbai, früher Investmentbanker, heute Handelsminister.
Dann, am Samstag um 23 Uhr: Die «SonntagsZeitung» publiziert online ein teilweise telefonisch geführtes Interview, in dem Parmelin den Durchbruch verkündet. Man habe sich mit Indien auf «die Grundzüge eines Abkommens geeinigt». Auf der Plattform X präzisiert Parmelin wenig später: Um das Freihandelsabkommen «baldmöglichst» unterzeichnet zu können, «arbeiten unsere Teams mit Hochdruck an der Klärung der letzten offenen Details».
Fast gleichzeitig mit diesem Tweet landete Parmelins Jet wieder in Genf. Sein Trip nach Indien hat 36 Stunden gedauert.
Ein Markt mit 1,4 Milliarden Menschen
Freihandel mit Indien: Es wäre der grösste Erfolg der Schweizer Handelsdiplomatie seit zehn Jahren, als das Freihandelsabkommen mit China in Kraft trat. Anders als bei China verhandelte die Schweiz mit Indien nicht nur für sich selber, sondern für die ganze Europäische Freihandelsassoziation (Efta). Dieser gehören auch Norwegen, Island und Liechtenstein an.
Diesen Kleinstaaten gegenüber steht Indien, mit über 1,4 Milliarden Menschen das bevölkerungsreichste Land der Welt. Vor wenigen Monaten hat es China überholt. Wirtschaftlich ist Indien zwar noch bedeutend kleiner als China. Hunderte Millionen Inder leben immer noch in bitterer Armut. Trotzdem ist Indien bereits heute die fünftgrösste Volkswirtschaft der Welt.
«Indien ist ein ganz wichtiger Zukunftsmarkt», sagt Monika Rühl, Direktorin von Economiesuisse, die höchst erfreut auf den Verhandlungsdurchbruch reagiert. Indien habe eine junge und gut ausgebildete Bevölkerung, die überdies sehr technologieaffin sei. «Das Potenzial, das sich der Schweizer Exportwirtschaft in Indien bietet, ist enorm.»
Im Jahr 2022 exportierte die Schweiz Waren für 1,8 Milliarden Franken nach Indien, vor allem Pharmaprodukte, Maschinen und Uhren. Umgekehrt importierte die Schweiz Güter im Wert von 2,4 Milliarden Franken; an erster Stelle stehen auch hier chemische Produkte, gefolgt von Textilien und Lebensmitteln. Zwar ist der bilaterale Handel mit China heute noch rund achtmal grösser als mit Indien – doch der Warenaustausch mit Indien wächst bedeutend schneller.
Im Wettstreit mit den Europäern
Trotz dieses Potenzials hoffte die Schweizer Wirtschaft jahrelang vergeblich auf einen Abschluss. Auch im Inland gab es Widerstand. Die Pharmabranche fürchtete, das Freihandelsabkommen könnte ihre Patent- und Markenrechte sabotieren. Jahrelang ging in den Verhandlungen fast gar nichts mehr, bis sie im Frühling 2023 neu lanciert wurden.
Tête-à-Tête: Der indische Handels- und Industrieminister Piyush Goyal (links) und Bundesrat Guy Parmelin am Samstag in Mumbai.
Doch nicht nur die Schweiz hat Indiens Potenzial entdeckt. Auch die EU und Grossbritannien verhandeln gegenwärtig um ein Freihandelsabkommen. Zu einer skurrilen Episode kam es im Sommer 2023, als eine indische Delegation nach London kam. Tagsüber verhandelten die Inder mit den Briten und am Abend mit der Schweizer Delegation, die aus Bern eingeflogen war.
Dass den Schweizern nun vor den Europäern der Durchbruch gelingt, erklärt Monika Rühl auch mit dem grossen persönlichen Engagement der Beteiligten. Rühl lobt das Verhandlungsteam um Botschafter Markus Schlagenhof, die zuständige Staatssekretärin Helene Budliger sowie Wirtschaftsminister Parmelin: Sie alle hätten «ein sehr hohes Engagement gezeigt».
Schadet das Abkommen den Armen?
Doch noch ist das Abkommen nicht unterschrieben. Der Inhalt der Einigung ist noch geheim – ebenfalls «die letzten noch offenen Details», von denen Parmelin spricht. Kenner des Dossiers gehen aber davon aus, dass die Schweizer alles daransetzen werden, das Abkommen definitiv unter Dach und Fach zu bringen, bevor im Mai in Indien nationale Wahlen stattfinden.
«Falls das Abkommen tatsächlich zustande kommt, wäre das ein sehr positiver Kontrapunkt in einer Zeit, in der die Weltwirtschaft lahmt und immer mehr Staaten protektionistische Massnahmen ergreifen», sagt Rühl. Als sehr exportorientiertes Land sei die Schweiz besonders angewiesen auf offene Exportmärkte.
Doch das Abkommen wird aller Voraussicht nach auch auf Widerstand stossen. Die entwicklungspolitische Organisation Public Eye begleitet die Verhandlungen seit Jahren kritisch. Ein Kritikpunkt: Indien gilt als die «Apotheke der Armen» und viele Entwicklungsländer mit günstigen Generika. Wenn im Abkommen tatsächlich die geistigen Eigentumsrechte der Pharmafirmen gestärkt würden, könne die Versorgung der Dritten Welt mit günstigen Medikamenten behindert werden, argumentiert Public Eye. Zudem müsse das Abkommen zwingend ein griffiges Nachhaltigkeitskapitel mit Bestimmungen etwa zu Klimawandel, Biodiversität und Waldmanagement enthalten, fordert ein Sprecher von Public Eye.
Wenn das definitive Abkommen unterzeichnet ist, muss es vom Parlament ratifiziert werden. Dann können allfällige Kritiker das Referendum ergreifen. Dass Freihandel auch im Volk auf Widerstand stossen kann, zeigte sich im März 2021. Damals wurde das Freihandelsabkommen mit Indonesien an der Urne nur extrem knapp angenommen.
Starten Sie jeden Tag informiert in den Tag mit unserem Newsletter Guten Morgen. Melden Sie sich hier an.
News Related-
Der Batzen und das Weggli für Dominik Egli
-
Mini-Grün auf der grünen Suppe
-
Eine Trainerin und ein Arzt kennen die Antwort: Fit werden, ohne zu schwitzen – geht das?
-
Häuser bereits verkauft: Dreijährige Kreuzfahrt abgesagt – Passagiere vor dem Nichts
-
Deutschland versinkt im Schneechaos
-
Von ZHAW gewählt: «Monsterbank» ist das Deutschschweizer Wort des Jahres
-
Frauen und Jugendliche – 33 weitere palästinensische Gefangene frei
-
Jans oder Pult: So stehen die Chancen der SP-Kandidaten
-
Müde und grummelig? Hier kommen 23 lustige Fails für bessere Laune
-
Innerhalb von 24 Stunden: „Wetten, dass..?“-Auftritt von Helene Fischer erreicht Meilenstein
-
So lief das Wochenende für die Schweizer Söldner: Unermüdlicher Xhaka spult Mammutprogramm erfolgreich ab
-
Hans Flatscher löst für Swiss-Ski Dinge, bevor sie ein Problem sind
-
Grenadier-Rekrut bricht auf Marsch zusammen: «Viele dachten während zwei Tagen, ich sei tot»
-
Novum: Frappart leitet Bayerns Heimspiel gegen Kopenhagen