Otto-Hahn-Gymnasium: Wie begeistert man Schüler fürs Lesen?
Deutschunterricht in einer sechsten Klasse am Otto-Hahn-Gymnasium in Ostfildern
Es ist eine geheimnisvolle Textrolle, die nur den Anfang eines Textes offenbart und ansonsten aussieht wie ein Palimpsest aus antiker Zeit. Im Deutschunterricht liegt sie vor den Schülern einer sechsten Klasse am Otto-Hahn-Gymnasium in Ostfildern bei Stuttgart. Es handelt sich um Äsops Fabel „Der Löwe und die Maus“.
Die Lehrerin hat den Rand des marmorierten Papiers eigens brüchig gestaltet und lässt die zugänglichen Textteile in verteilten Rollen laut lesen. Die Leseflüssigkeit der Schüler erlaubt der Lehrerin Rückschlüsse auf das Leseverständnis. Zugleich nutzt sie die Gelegenheit, den Wortschatz der Schüler zu erweitern. „Was heißt ‚drauf und dran‘“, fragt sie.
Eine Schülerin möchte wissen, was „vergelten“ bedeutet, es werden Synonyme für „großmütig“ gesucht. Der unterschiedlich große Wortschatz und Sprachstand sind erkennbar, aber es gibt keine Kinder, denen offenkundig die Basis für die Bildungssprache Deutsch fehlt. Um die Tiefenstruktur des Textes mikroskopisch zu erfassen, geht die Lehrerin mit einem Korb selbst hergestellter bunter Mini-Lupen aus dem 3-D-Drucker herum.
Deutschunterricht zur Fabel „Der Löwe und die Maus“
Die Schüler wählen ihre Lieblingsfarbe. Die Lupe ist ab jetzt Programm. Die Literaturdidaktiker nennen das „deep reading“. Das bedeutet, Texte in ihrer Tiefenstruktur zu erfassen, sie auch kritisch zu durchdringen und einen ästhetischen Genuss mit der Lektüre zu verbinden.
Inzwischen ist der Text mit der Fabel „entrollt“, und auch das Ende ist erkennbar geworden. Auf einem Arbeitsblatt sollen die Schüler in acht Minuten mit ihrem Sitzpartner die Charaktermerkmale der beiden Tiere aus dem Text nennen. Auch eine Sprinteraufgabe für diejenigen gibt es, die besonders schnell fertig sind. In einem letzten Schritt versuchen die Schüler noch herauszufinden, wo der Bezug der alten Fabel aus dem Jahr 600 vor Christus mit ihrem eigenen Erleben liegen kann. Vor allem die kleine Maus, deren Schwäche sich als Stärke entpuppt, weil sie den Löwen rettet, als er in eine Falle gerät, hat es den Kindern angetan. Die Fremdheit des Textes erst zu überwinden und dann den Bezug zur eigenen Lebenswelt herzustellen ist ein Weg, Kinder auch für ältere Literatur zu gewinnen.
Eine Schülerin arbeitet mit einer Fabel Äsops.
Der Deutschunterricht scheint daran aber oft zu scheitern. Während einige Lehrer der Auffassung sind, dass die Überwindung der Hürden des Verstehens eines zunächst fremden Textes ein Lernerfolg der eigenen Art ist, halten es andere für nötig, die Schüler „abzuholen“, und muten ihnen dabei womöglich weniger zu, als sie eigentlich leisten könnten. Fremde Textwelten bleiben ihnen so auf Dauer verschlossen.
Die meisten Schüler erwarten vom offiziellen Schulstoff gar nicht erst, dass er irgendetwas mit ihnen zu tun haben oder gar Freude machen könnte. Während die Schullektüre früher das häusliche Lesen ergänzte, sei sie heute oft das Einzige, was Schüler lesen, gibt einer der erfahrenen Deutschlehrer zu bedenken. Umso wichtiger ist, dass dieses Lesen gelingt und das Absterben der schulischen Lesesozialisation nicht stillschweigend akzeptiert wird.
Ganz gleich ob PISA oder IQB-Bildungstrend: alle Leistungsstudien haben eine auch im internationalen Vergleich massive Lese-Unlust und einen regelrechten Widerwillen gegen das Lesen unter deutschen Schülern offenbart. Bis auf Bayern und Sachsen, die beim IQB-Bildungstrend durchgängig bessere Ergebnisse erzielen als der Bundesdurchschnitt, waren die Ergebnisse katastrophal. Baden-Württemberg lag bei der Lesekompetenz und der Rechtschreibung immerhin über dem Bundesdurchschnitt.
In Englisch schnellten die Fähigkeiten der Schüler bundesweit in ungeahnte Höhen, die selbst die Bildungsforscher in Staunen versetzten. Dass es „cool“ ist, englische Texte zu lesen, ist nur eine mögliche Erklärung, das häufige Filme-Sehen auf Spotify-Kanälen und die englischen Computerspiele während der Corona-Pandemie eine andere. Unbestritten führt die häufige Benutzung digitaler Geräte zu einem anderen Leseverhalten, häppchenhaft und oberflächlicher mag es sein. Manche behaupten auch, dass der Deutschunterricht weniger modern sei als der Englisch-Unterricht, was sich aber nicht verallgemeinern lässt.
Englischunterricht am Otto-Hahn-Gymnasium
Der Zeitfaktor spielt eine große Rolle – ein Deutschlehrer am Otto-Hahn-Gymnasium verweist auf acht verschiedene Textanalyse-Modelle, die im Abitur beherrscht werden müssen. Die interpretierenden Literaturaufsätze früherer Gymnasiasten gehören der Vergangenheit an. Die Aufsätze sind kleinteiliger und aufgabenzentrierter. Jede Lösung ist mit einer bestimmten Punktzahl gewichtet. Sie sind ein Ergebnis der zunehmenden Verrechtlichung der Leistungsnachweise, die angesichts der Klagewut mancher Eltern allesamt nachprüfbar und gerichtsfest sein müssen.
Das achtjährige Gymnasium und ein vertiefter Literaturunterricht passen offenbar nicht gut zusammen. Sowohl Deutsch- als auch Englischlehrer beklagen den ständigen Zeitdruck und sind hin- und hergerissen zwischen exemplarisch vertieftem Lernen und den Vorgaben der Bildungspläne, die mit einer kaum zu bewältigenden Stofffülle aufwarten.
Warum aber wird Literaturlektüre so oft mit Langeweile in Verbindung gebracht? Ist das Modell, den Unterricht mit Lektüre anzureichern, die Schüler nicht von sich aus zu Hause lesen würden, nicht mehr zeitgemäß? Sind die literarischen Häppchen manches Deutschunterrichts womöglich die einzigen Begegnungen mit Literatur, weil die Schüler zu Hause nichts mehr lesen? Die Präsentation von Lieblingsbüchern oder fesselnde Jugendbücher sprechen dagegen.
Kafkas Verwandlung ist ein schmaler Text, der reichlich Arbeitsmöglichkeiten birgt. Im Deutschunterricht einer zehnten Klasse am Otto-Hahn-Gymnasium geht es nicht nur um die Titelgestaltung einer Jubiläumsausgabe des Textes, sondern auch um die Textform: Textausgabe oder Graphic Novel. In Gruppen sollen die Schüler die Unterschiede zwischen beiden Formen für je ein Bild herausarbeiten und dann als Redaktionsteam entscheiden. Würde die comicartige Graphic Novel die Schüler eher zum Lesen locken? Ein Junge entscheidet sich gegen die Bilder, er wollte nicht in seiner Phantasie festgelegt sein.
Beim Thema „Immigration“ im Englischunterricht der zehnten Klasse zeigt die erfahrene Lehrerin in Sequenzen von Gruppenarbeit und Unterrichtsgespräch, wie die historische Dimension anhand alter Fotos mit den individuellen Erfahrungen von Flucht und Einwanderung nach Amerika und den großen Hoffnungen, die sich nicht alle erfüllten, mit der gesellschaftlichen Relevanz des Themas zusammengebracht werden kann. Die Schüler sprechen ein britisches, flüssiges Englisch und folgen der Stunde gespannt, weil sie klug aufgebaut ist.
Mario Lietzau ist Schulleiter des Otto-Hahn-Gymnasiums.
Am Otto-Hahn-Gymnasium wird in den Fachkonferenzen viel über den Unterricht reflektiert. Eine junge Deutschlehrerin berichtet von einer Fortbildung für sogenannte Lesebänder. Gemeint ist regelmäßiges, ritualisiertes lautes Lesen in der Grundschule, um Leseflüssigkeit und Leseverständnis zu trainieren. Davon profitiere sie auch für ihren Unterstufenunterricht, sagt die Lehrerin. Denn eine heterogene Schülerschaft macht auch den Gymnasien zu schaffen. Die Schulleitung versucht mit einem Doppelstundenkonzept und dem Klassenlehrerprinzip die Beziehungsebene zwischen Schülern und Lehrern zu stärken.
Schulhündin Alma im Otto-Hahn-Gymnasium
Der Schulneubau mit 1050 Schülern und 100 Lehrern bietet Klassenzimmer mit Beamer und Apple TV, Fachräume für Naturwissenschaften, eine Robotik-AG, Kunst, Musik und Informatik. Es gibt sogar eine Näh-AG und eine Bienen-AG. Das moderne und gepflegte Schulgebäude findet sich auf einem riesigen Campus mit einem weiteren Gymnasium, einer Gemeinschaftsschule, einer Realschule und einer Grundschule.
Insgesamt 3000 Schüler werden in Ostfildern unterrichtet. Auch die Stadtbücherei und ein Hallenschwimmbad befinden sich auf dem Gelände. In einer eigenen Berufsbildungsmesse mit den Betrieben der Umgebung und ihren Ausbildungsangeboten versucht das Otto-Hahn-Gymnasium seinen Schulabgängern auch andere Berufsmöglichkeiten neben dem Studium zu eröffnen. Für seine außergewöhnliche Berufsorientierung hat die Schule das baden-württembergische Siegel BoriS für berufsorientierte Schulen erhalten.
In der zweiten Hälfte der achten Klasse stellt die Schule jedem Lehrer und den Schülern ein Leih-Tablet, das sie auch mit nach Hause nehmen dürfen. Einige spielen sämtliche Bücher auf das Tablet und schreiben darauf, andere ziehen das Heft vor. Bis zur achten Klasse schreiben alle Schüler mit einem ergonomischen Füller. Für andere Jahrgänge stehen zusätzlich Notebook-Klassensätze zur Verfügung. Rektor Mario Lietzau verweist auf die Tablet-Regeln – zum Beispiel den Jugendschutzfilter, den Persönlichkeitsschutz mit der Regel, keine Fotos von Mitschülern zu machen, Schäden unaufgefordert zu melden. Die Nutzungsordnung für die Tablets wird von Eltern und Kindern unterschrieben.
Hinzu kommen kulturelle Möglichkeiten wie eine Rhetorik-AG, Kultur, Theater, ein Italienisch-Schwerpunkt sowie ein sportliches Profil: Die Schule ist Partnerschule der Olympiastützpunkte in Baden-Württemberg. Junge Athleten im Bundeskader können ihre Schulzeit in der Oberstufe um ein Jahr strecken, um ausreichend Zeit zum Trainieren zu haben. Rektor Lietzau, der selbst Physik und Sport unterrichtet, findet das völlig richtig und würde sich sehr wünschen, dass es auch für andere Schüler möglich wäre. Inzwischen ist das G9 beschlossene Sache, wie es genau aussehen wird, ist noch unklar.
Im Lehrerzimmer, das auch über einen Nebenraum mit Couch und Besprechungstischen verfügt, fragen die Pädagogen nach der Grundschulempfehlung. Die meisten baden-württembergischen Gymnasiallehrer leiden bis heute darunter, dass die bindende Grundschulempfehlung abgeschafft wurde, weil sie in der Unterstufe zu viele Kinder scheitern sehen. Im Gespräch ist nun im Südwesten eine Schullaufbahnempfehlung, die den Elternwillen sowie einen bestimmten Notendurchschnitt berücksichtigt und außerdem aus einem verlässlichen Leistungstest und einem übergreifenden Kompetenztest besteht.
Vor dem Lehrerzimmer liegt gerade die Schulhündin. Es ist wegen der sprichwörtlichen Gutmütigkeit dieser Rasse natürlich ein Retriever. Sie darf sogar mit in den Unterricht, wenn die Schüler sich das ausdrücklich wünschen, denn die tiergestützte Pädagogik ist seit dem Schuljahr 2021/22 Teil des pädagogischen Konzepts der Schule.
Neben der Schulsozialarbeit bietet das Gymnasium den Schülern auch individuelle Begleitung mit einem Coaching an. Schüler können eine individuelle Einzelberatung durch FIS-Angebote (flexible Intensivierungsstunden) oder Workshops bekommen. Unterschiedliche Themen wie „Lernen lernen“, Selbstorganisation oder Persönlichkeitsentwicklung können dabei im Mittelpunkt stehen. Auch im Gymnasium müssen zunehmend basale Fähigkeiten nachgeholt und gefestigt werden.