Frostig: Erdoğan im November 2023 zu Besuch bei Steinmeier .
Es ist zehn Jahre her, dass zuletzt ein Bundespräsident die Türkei besucht hat. Einerseits ist das verständlich. Die Beziehungen zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan sind seit Langem zerrüttet. Andererseits überrascht es schon, dass es so wenig offizielle Kommunikation mit einem Land gibt, das so eng wie kaum ein anderes über persönliche Biographien mit Deutschland verbunden ist.
Auf diese Verbindungen will Frank-Walter Steinmeier den Fokus legen, wenn er an diesem Montag in Istanbul landet. Der Bundespräsident hat sich einen guten Zeitpunkt ausgesucht, um das deutsch-türkische Verhältnis neu zu vermessen. Der Sieg der Opposition bei den Kommunalwahlen vor drei Wochen hat den Blick auf die politische Landschaft in der Türkei geweitet.
Eine selbstbewusste Mittelmacht
Es ist sicher kein Zufall, dass Steinmeier den inoffiziellen Oppositionsführer, Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, trifft, bevor er zu Präsident Erdoğan nach Ankara weiterreist. Die jüngsten Wahlen haben die Möglichkeit in Erinnerung gerufen, dass es früher oder später eine Türkei nach Erdoğan geben wird, die sich dann vielleicht wieder stärker nach Europa ausrichten und an demokratische Spielregeln gebunden fühlen wird.
Es wäre freilich naiv zu glauben, dass sich Ankara unter einer anderen Führung über Nacht in einen einfachen Partner verwandeln würde. An der sicherheits- und geopolitischen Verortung des Landes würde sich angesichts der Kriege und Konflikte in der Region wohl ebenso wenig ändern wie an der Haltung gegenüber Griechenland und Zypern.
Die Türkei ist zu einer selbstbewussten Mittelmacht aufgestiegen, die eine aktive Rolle in der Krisendiplomatie sucht und sich als Waffenexporteur profiliert. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die geostrategische Bedeutung des Landes erhöht. In den Beziehungen zu Deutschland und der Europäischen Union schlägt sich die neue Lage aber bisher kaum nieder. Trotz aller Reden über eine geostrategische EU verstellt die Sorge, Erdoğan in die Karten zu spielen, den Blick auf gemeinsame Interessen.
Die gibt es zum Beispiel im Energiesektor. So wäre es im europäischen Interesse, wenn sich das NATO-Land nicht durch ein weiteres russisches Atomkraftwerk in noch größere Abhängigkeit zu Moskau begibt. In Bezug auf den Nachbarn Iran könnte die Türkei eine konstruktive Rolle spielen. In Washington hat man das erkannt und in den vergangenen Tagen über Ankara Botschaften nach Teheran gesandt.
Eindimensionales Türkeibild
Der EU-Beitrittsprozess hat sich für beide Seiten zur Sackgasse entwickelt. An eine Mitgliedschaft glaubt vorerst ohnehin niemand, weder in Brüssel noch in Ankara. Doch das Korsett des Kandidatenstatus verhindert auch die Weiterentwicklung der Beziehungen jenseits der Beitrittsperspektive, etwa für eine modernere Zollunion, die beiden Seiten nützen würde. Allzu gerne versteckt man sich in Brüssel hinter der Blockadehaltung Zyperns und nimmt in Kauf, dass der Schwanz mit dem Hund wedelt.
Das Gespräch des Bundespräsidenten mit Erdoğan wird zwangsläufig von den unüberbrückbaren Differenzen zu Israel und dem Gazakrieg überschattet werden, wie dies schon beim Treffen des türkischen Präsidenten mit Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin der Fall war. Dabei gäbe es mehr zu besprechen. Wo Erdoğan steht, hat er am Wochenende einmal mehr mit dem Empfang des Hamas-Führers Ismail Hanija deutlich gemacht. Mahnende Worte aus Berlin werden daran nichts ändern, zumal es auch in der türkischen Bevölkerung kein Verständnis für die deutsche Haltung in dem Konflikt gibt.
Ein Erfolg wäre Steinmeiers Reise dann, wenn es gelänge, das allzu eindimensionale Türkeibild in Deutschland und das Bild der Deutschen mit türkischen Wurzeln auszudifferenzieren. Wie eingefahren die deutsche Debatte ist, zeigte sich kürzlich an den schrillen Tönen, mit denen die Gründung der DAVA-Partei begleitet wurde. Auch wenn Erdoğan die Partei, wie befürchtet wird, nutzen will, um seinen Einfluss auf türkischstämmige Deutsche zu festigen, bliebe die Wirkung der Partei wohl begrenzt. Steinmeiers Besuch im Sirkeci-Bahnhof von Istanbul dürfte wenig dazu beitragen, alte Klischees zu überwinden. Von dort wanderten in den Sechziger- und Siebzigerjahren viele der sogenannten Gastarbeiter nach Deutschland aus.
Interessanter sind die Namen auf Steinmeiers Delegationsliste. Darunter sind Leute wie der Schriftsteller Dinçer Güçyeter, der Schauspieler Adnan Maral, der Geschäftsführer von DHL Express Deutschland, Mustafa Tonguç, oder Belit Onay, der Oberbürgermeister von Hannover. Nicht wenige Kinder und Enkel der Einwanderer sind inzwischen in die Türkei zurückgekehrt. In allen türkischen Parteien gibt es Politiker in führenden Positionen mit einer deutschen Biographie. Zumindest gefühlt sprechen in dem Land heute mehr Menschen Deutsch als Englisch.
Längst gibt es auch eine neue Einwanderungswelle nach Deutschland. Nicht nur Asylbewerber, sondern auch viele Fachkräfte verlassen das Land wegen der hohen Inflation und Erdoğans Repressionspolitik. Laut Bundesärztekammer kamen im vergangenen Jahr mehr als 2600 türkische Ärzte. Auch unter Krankenpflegern ist Deutschland ein beliebtes Ziel. In Berlin schweigt man sich darüber lieber aus, um nicht den Vorwurf auf sich zu ziehen, vom Braindrain aus der Türkei zu profitieren.
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