Olympische Spiele in Paris: Miese Laune, hehre Ziele
Die Ukrainerin Maria Vysotchanska trägt die olympische Flamme durch die Straßen von Marseille, aufgenommen am Montag, 9. Mai.
Je näher in Frankreich die Olympischen Spiele rücken, desto schlechter wird die Stimmung. Aber das ist nicht ungewöhnlich. Wie der Zeitung „Le Monde“ dieser Tage in einem Artikel zu entnehmen war, der sich wie eine Selbstvergewisserung las, war die Stimmung vor den Sommerspielen in London, Rio und Tokio ebenfalls mies, teils aus ähnlichen Gründen.
Historischer Rahmen für das hehre Bild eines Olympia-Fackelträgers: Der Dreimaster Belem, der die Flamme in zwölf Tagen von Piräus nach Marseille brachte, lief 1896 vom Stapel.
Das Maskottchen wird verspottet, wie üblich
Auch in London, das in Frankreich zurzeit oft als Referenz für die Organisation erinnerungswürdiger Spiele herangezogen wird, sorgte man sich um Transport und Sicherheit. Das Logo der Londoner Spiele wurde genauso verspottet wie das Maskottchen der kommenden in Paris. Und die Kosten für das Spektakel überstiegen die Berechnungen ebenfalls um ein Vielfaches. Einer der jüngsten Umfragen zufolge bringt nur noch die Hälfte der Franzosen ein Interesse an den Olympischen Spielen auf – ihr Anteil ist binnen eines halben Jahres um 8 Prozentpunkte gesunken.
Dabei vergeht kein Tag ohne neue Geschichten darüber, wie sich das Land vorbereitet auf ein Ereignis, dessen „Magie“ sich erst mit der Eröffnungsfeier entfalte, wie seine Organisatoren mantraartig wiederholen. Man liest, wie teils legal, teils auch illegal in Frankreich lebende Migranten aus besetzten Häusern in der Banlieue oder aus Zelten unter den Brücken von Paris verdrängt werden und wie die Organisation „Le revers de la médaille“ (Die Kehrseite der Medaille) gegen diese „soziale Säuberung“ protestiert.
Razzien gegen die organisierte Kriminalität
Man liest, wie schwierig es für Sicherheitsfirmen, Transportunternehmen und Gastronomen ist, Personal zu finden. Man hört im Radio, wie der Pariser Polizeipräfekt erklärt, die Videoüberwachung lasse keine Gesichtserkennung zu. Immer wieder ist die Rede von den Razzien gegen die organisierte Kriminalität, vor allem in Marseille, wo sich Drogenbanden bekriegen, wo nun aber, nachdem sie lange in Griechenland unterwegs war, auch die olympische Flamme angekommen ist.
An Bord eines dreimastigen Segelschiffes fuhr sie die Küste entlang und in den alten Hafen ein, das gab sehr schöne Bilder. Genauso wie man sie vom anschließenden Fackellauf erwarten darf, der mit den Höhlen von Lascaux, dem Mont-Saint-Michel, den Schlössern an der Loire und den Weinbergen von Saint-Émilion bis Chablis an vielen Postkartenmotiven des Landes vorbeiführt. Dass als weitere Stationen die Landungsstrände der Alliierten in der Normandie ebenso wie Orléans (Jeanne d’Arc), Colombey-les-Deux-Églises (Charles de Gaulle) und Scy-Chazelles (Robert Schuman) hervorgehoben werden, sendet derweil erste Hinweise darauf, wie sich das Land der Welt präsentieren möchte – als freie Republik in Europa, deren demokratische Verfasstheit sich immer wieder erfolgreich verteidigt hat.
Hinzu kommt, dass in diesen Wochen die „Olympiade culturelle“, das Kulturprogramm, seinen Höhepunkt erreicht. Es geht den sportlichen Wettbewerben voraus und hätte locker das Zeug, sie in den Schatten zu stellen. Täglich wird ein Stück präsentiert, eine Diskussion geführt oder eine Ausstellung eröffnet, die sich im weitesten Sinne mit Sport befasst. Besonders in Paris: Der Louvre widmet sich der Entstehung der Spiele gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts; das Musée d’Orsay hat zeitgenössische Künstler gebeten, Werke zu schaffen, die den Sport mit der Sammlung des Hauses in Verbindung bringen; die Cité de l’architecture zeichnet den Aufstieg der Stadien als emblematische Orte sportlichen Tuns vom antiken Griechenland bis zu den großen Sportarenen unserer Tage nach; das Musée national de l’histoire de l’immigration untersucht, welche Krisen und Kämpfe die modernen Olympischen Spiele geprägt haben – vom Ringen um Gleichstellung der Geschlechter über die Forderung nach Bürgerrechten bis zum Kampf gegen Apartheid. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Plötzlich unterhält man sich über Sport
Es wirkt fast, als würden sich alle Weihestätten der französischen Kultur in einem seltenen Moment von Einigkeit einem Thema widmen, mit dem sie bislang eher nicht in Verbindung zu bringen waren. Als würde das Land in der Kulturolympiade, welcher der Anspruch auf exception culturelle so weithin sichtbar auf den Fahnen steht, seine geballte intellektuelle Energie mobilisieren, um sich den Sport zu erklären. Der bekommt plötzlich einen Stellenwert in der französischen Gesellschaft, den er normalerweise nicht hat. Erst recht nicht bei der Elite, die man sich beim Small Talk über Fußball, ganz im Gegensatz zu ihren deutschen Pendants, noch immer nicht vorstellen kann.
Ein schönes Beispiel für die Welten, die da in diesen Wochen zusammentreffen, erlebte man kürzlich erst an der Comédie française, wo sich der Schauspieler Denis Podalydès und der Fußballer Eric Cantona über das „Spiel auf hohem Niveau“ austauschten: Aus Versailles stammend der eine, aus Marseille der andere; Absolvent einer Schauspiel-Kaderschmiede der eine, Zögling in einem Fußballinternat der andere, offenbarten beide zwar eine Leidenschaft für die jeweilige Profession ihres Gegenübers. Sie identifizierten das Adrenalin als eine harte Droge auf dem Platz ebenso wie auf der Bühne. Sie sprachen über Schauspieler und Fußballer, die ihre Rollen je im Dienst einer höheren Sache spielten – aber viel weiter kamen sie eben nicht.
Ganz anders am Collège de France, dieser altehrwürdigen Edel-Volkshochschule, dessen überwiegend ergrautes Publikum sich glücklich schätzen darf, die nötige Zeit für die sechs, sieben Abende zu finden, die auch dieses Haus einem Gesprächszyklus über die Spiele widmet. Man lernte hier in den vergangenen Wochen allerlei über die Kodifizierung des sportlichen Tuns gegen Ende des 19. Jahrhunderts und die Ausbreitung des Regelwerks im Zuge kolonialer Eroberungen. Und man erfuhr, welche junge wissenschaftliche Disziplin die Sportgeschichte in Frankreich trotzdem noch ist.
Erst Ende der Neunziger hielt der Historiker Paul Dietschy das erste Seminar zur Sportgeschichte an der Sciences Po. Es gab den Anstoß, die Disziplin nicht nur als Zahlen- und Rekordsammlung, sondern als Sozialgeschichte zu verstehen, die politische Aspekte ebenso in den Blick nimmt wie ökonomische und kulturelle und die einen entscheidenden Anteil daran hatte, dass man sich spät, aber kritisch auch mit Pierre de Coubertin auseinandersetzte, dem Gründer der modernen Olympischen Spiele, dem man in Frankreich aufgrund seiner misogynen, rassistischen Theorien heute sehr viel distanzierter gegenübersteht als andernorts. Während der Eröffnungsfeier der Spiele werde Coubertin jedenfalls im Programm kein besonderer Platz zuteilwerden, lautete ein Fazit am Collège de France.
Bei der Frage, wer in die Ehre einer Position im Programm bei der ambitionierten Eröffnungsfeier auf der Seine und rund um den Eiffelturm kommen wird, riskiert man derweil nicht viel, wenn man auf die Sängerin Aya Nakamura setzt. Offiziell ist ihre Teilnahme nicht bestätigt, doch führt an ihr kein Weg vorbei. Als vor wenigen Wochen erste Gerüchte aufkamen, der R-’n’-B-Sängerin sei von Macron angetragen worden, während der Eröffnungsparty Chansons von Edith Piaf zu singen, schlug der aus Mali stammenden, in einem Pariser Vorort aufgewachsenen Aya Nakamura eine Welle rassistischen Ressentiments entgegen. In einem online zirkulierenden Video entrollte eine rechtsextremistische Gruppe eine Banderole mit dem Hinweis: Dies ist Paris, nicht der Markt von Bamako. Und Marine Le Pen ätzte im Radio. Aya Nakamura, die umgehend Unterstützung erfuhr, auch von Politikern, antwortete prompt, sie sei niemandem etwas schuldig. Aber obwohl das richtig ist – Edith Piaf singen müssen wird die junge schwarze Frau nun erst recht. Alles andere wäre eine dem Streben nach Grandeur in diesem olympischen Sommer klar widersprechende, viel zu frühe Kapitulation.