INTERVIEW - «Man kann den Kolonialismus in Indien nicht rückgängig machen. Er ist tief im Blut», sagt der Bestseller-Autor Sathnam Sanghera über das britische Empire

interview - «man kann den kolonialismus in indien nicht rückgängig machen. er ist tief im blut», sagt der bestseller-autor sathnam sanghera über das britische empire

Die Begeisterung für ¨Cricket ist längst nicht das einzige, was die Inder aus der britischen Kolonialzeit mitgenommen haben. Manish Swarup / AP

Herr Sanghera, in Ihrem Buch «Empireworld» schreiben Sie, wer die moderne Welt verstehen wolle, müsse das britische Empire verstehen. Können Sie das erläutern?

Es gibt viele Alltäglichkeiten auf der ganzen Welt, die man mithilfe des Empires erklären kann. Zum Beispiel, dass Tee das Nationalgetränk Englands und auch Indiens ist. Die Popularität von Rum. Die Verbreitung des BBC World Service. Aber auch vieles, was wir jeden Tag in den Nachrichten sehen, kann man als Vermächtnis des Empires sehen.

Sie sprechen den Konflikt im Nahen Osten an.

Der Disput zwischen Israel und den Palästinensern ist einer der kompliziertesten der Welt. Anfang des 20. Jahrhunderts, zu Beginn des britischen Mandats in Palästina, versprach Grossbritannien das Gebiet gleichzeitig zwei Parteien: den Arabern und den zionistischen Juden. Diese widersprüchlichen Versprechen trugen bei zu einer Situation, die nur in Konflikt und Krieg enden konnte.

In Grossbritannien herrscht ein Kulturkampf um das Empire: darüber, ob es gut oder schlecht gewesen sei. Wieso ist diese Debatte so polarisiert?

Die Debatte um das Empire ist so alt wie das Empire selbst, Kolonialherrscher streiten mit Kolonialisierten. Sie hat sich in den vergangenen Jahren auch wegen britischer Politiker verschärft, die damit Wähler gewinnen wollten. So sagte Boris Johnson einst, er würde die Statue von Winston Churchill bis zu seinem letzten Atemzug beschützen. Das war zu einer Zeit, als er eigentlich Menschen vor Covid schützen sollte.

Die «Black Lives Matter»-Bewegung, die zur Zeit der Pandemie von Amerika nach Grossbritannien überschwappte, hat den Kulturkampf zusätzlich angeheizt.

Absolut. «Black Lives Matter» hat ein grosses Interesse daran entfacht, wie Kolonialismus modernen Rassismus erklärt. Es gab extreme Ansichten, aber im Grossen und Ganzen war der Effekt positiv. Nehmen Sie die Museen: Das British Museum und das Victoria and Albert Museum geben nun gestohlene Kulturgüter als langfristige Leihgaben nach Ghana. Das hätte ich vor drei Jahren noch nicht für möglich gehalten.

War das Empire nun gut oder schlecht?

Beim Schreiben von «Empireworld» habe ich realisiert, dass das Vermächtnis des Empires nicht nur komplex, sondern zu grossen Teilen auch widersprüchlich ist. Man kann nicht abstreiten, dass es die Verbreitung der Demokratie gefördert hat – zum Beispiel in Indien oder Australien. Das Empire schuf auch massive geopolitische Instabilität in Palästina, Nigeria, dem Irak oder dem Sudan. Das Empire war involviert in den Sklavenhandel, aber später auch an dessen Abschaffung beteiligt. Es hat die freie Presse und gleichzeitig deren Zensur verbreitet. Wenn man sich nur auf das Gute oder das Schlechte konzentriert, ist es, als würde man das Wetter erforschen, sich dabei aber nur auf die Sonnen- oder die Regentage fokussieren. Das Gute und das Schlechte sind gleichzeitig wahr.

In Grossbritannien haben viele Menschen das Bedürfnis, sich klar zur kolonialen Vergangenheit zu positionieren: Sie wollen sich entweder für sie schämen oder stolz auf sie sein.

Das ist idiotisch. Heutige Zeitgenossen sind nicht verantwortlich für das Empire. Es gibt Ausnahmen: zum Beispiel Familien oder Individuen, deren Reichtum im Sklavenhandel wurzelt. Sie empfinden vielleicht keine Scham, aber Verantwortung. Grundsätzlich sind Stolz oder Scham jedoch nicht relevant für die Geschichtsforschung. Wir sollten eher versuchen, 350 enorm komplexe Jahre zu verstehen, anstatt uns auf unsere Gefühle zu konzentrieren.

Man muss sich als Brite also gar nicht zum Empire positionieren?

Ich sehe es so: Es ist, als würde man in eine Psychotherapie gehen. Es ist gut, die eigene Familie zu verstehen. Es ist gut, die eigene Motivation zu verstehen und zu wissen, woher man kommt. Man geht dann vielleicht gesunder durch die Welt. Grossbritannien muss die eigene Geschichte kennen, damit es sich nicht mit Nichtwissen lächerlich macht, wenn es andere belehrt oder Handelsabkommen mit ehemaligen Kolonien aushandeln will.

In ehemaligen Kolonien wie Indien gibt es grosse Bemühungen, die koloniale Vergangenheit hinter sich zu lassen. Kann Dekolonialisierung gelingen?

Es gibt grossartige Dinge, die im Namen der Dekolonialisierung passieren. Tasmanien beispielsweise hat die Suicide Bay umbenannt, Schauplatz eines Massakers an den Aborigines. Der Ort trägt jetzt einen indigenen Namen. Aber am Ende können solche Versuche immer nur symbolisch sein. Man kann Indien das Cricket nicht wegnehmen. Man kann Afrika nicht das Christentum wegnehmen. Man kann nicht ganze Nationen abschaffen. Nigeria, Sierra Leone, Pakistan, Australien, all diese Länder haben die Briten kreiert.

In Indien gibt es den Begriff «colonial hangover», der koloniale Kater, unter dem das Land noch immer leide. Ist er je vorbei?

Man kann den Kolonialismus in Indien nicht rückgängig machen. Er ist tief im Blut. Die Menschen denken bei Dekolonialisierung immer an gestürzte Statuen oder geänderte Strassennamen. Aber er steckt viel tiefer in der Psyche drin: Er steckt im Bildungssystem, im politischen System auch, das nach dem Vorbild von Westminster kreiert wurde. Wie sollte man das je alles rückgängig machen?

Indiens Hindu-nationalistische Regierung sagt, sie wolle tausend Jahre Sklaverei der hinduistischen Mehrheit beenden. Diese sei zuerst von den muslimischen Moguln, dann von den Briten unterdrückt worden. Dekolonialisierung wird in Indien so zur Ausrede, um Minderheiten oder die Zivilgesellschaft an den Rand zu drängen.

Dekolonialisierung wird als Waffe genutzt, um eine islamophobe Agenda zu propagieren. Etwas Ähnliches ist in Simbabwe passiert. Dekolonialisierung kann auch zur Ausrede werden, um schlimme Dinge zu tun. Man muss intelligent mit ihr umgehen. Das Problem ist, dass die Politik sich mit komplexen Dingen schwertut. Sie hat Mühe mit der Idee, dass gegenteilige Dinge gleichzeitig wahr sein können. Auch die sozialen Netzwerke haben dieses Problem.

Indien ist geprägt vom Empire, und doch gibt es kaum eine differenzierte Debatte darüber.

Mein Eindruck ist, dass moderne Inder völlig andere Prioritäten haben als das Empire. Ich habe allerdings Mühe damit, wenn indische Autoren heute sagen, die Briten hätten Indien ruiniert. Das beraubt die Inder ihrer Rolle als Akteur. Inder haben mit dem Empire auf verschiedene komplexe Weise interagiert. Manche haben von ihm profitiert. Andere haben sich ihm widersetzt. Mahatma Gandhi war ein Anhänger der imperialen Werte, als er sich in London zum Anwalt ausbilden liess. Dann wurde er zu ihrem grössten Gegner. Im Verlauf seines Lebens positionierte sich Gandhi unterschiedlich zum Empire. Die Realität ist komplex und widersprüchlich.

Sowohl Indien als auch Grossbritannien wählen dieses Jahr. Wird das Empire eine Rolle spielen?

In Indien glaube ich nicht. Die koloniale Vergangenheit ist eher ein rhetorischer Trick, den Politiker auspacken. In Grossbritannien ist das anders. Premierminister Rishi Sunak spricht immer wieder über Menschen, die Grossbritannien angeblich hassen. Dass er nicht wolle, dass britische Geschichte neu geschrieben werde. Dabei ist es genau das, was Historiker tun: Sie schreiben Geschichte neu.

Seine Kritik erstaunt auf den ersten Blick: Rishi Sunak hat selbst Wurzeln in der ehemaligen Kolonie Indien.

Rishi Sunak sieht sich als Beweis dafür, dass es keinen Rassismus mehr gebe in Grossbritannien. Aber er wurde weder vom Volk noch von seiner eigenen Partei gewählt. Die Konservativen zogen ihm sogar Liz Truss vor, die hoffnungsloseste politische Figur in meiner Lebenszeit. Was, wenn er jetzt abgewählt wird – haben wir dann ein Rassismusproblem? Man sollte nicht zu viele Schlüsse aus einer einzelnen Person ziehen.

Der britischen Königsfamilie scheint ihrerseits die koloniale Vergangenheit vor allem unangenehm zu sein.

Nehmen Sie die Krönung von Charles III. im vergangenen Jahr: Die Staatsführer aus ehemaligen Kolonien kamen nach London, alle wollten über Reparationszahlungen reden. Sie störten sich daran, dass geraubte Edelsteine aus ihren Ländern als Kronjuwelen präsentiert wurden. Aber die Königsfamilie versuchte alles, um eine Debatte darüber zu vermeiden. Die einst vom Palast gesteuerte Royal Africa Company hat mehr Sklaven über den Atlantik geschickt als jede andere Institution im Sklavenhandel. Vielen wurde bei der Ankunft das Siegel des Duke of York ins Fleisch gebrannt. Charles sagte, er sei einverstanden, dass zur Rolle der Royals im Sklavenhandel geforscht werde. Das ist aber nicht genug.

Das Königshaus war schon immer ein Ort der kleinen Schritte, nicht der grossen Sprünge.

Da haben Sie recht. König Charles’ Reise nach Kenya im November war eine positive Antwort auf den völlig missglückten Trip von William und Kate in die Karibik im Jahr zuvor. Die Karibik-Reise war eigentlich wie jede andere royale Tour in den Jahrzehnten zuvor gewesen. Aber plötzlich wirkte es lächerlich, als William und Kate hinten auf einem Land Rover standen und schwarzen Menschen zuwinkten. Das geht nicht in Ländern, die durch den Sklavenhandel ruiniert worden sind. In Kenya sprach Charles III. dann viel über das toxische Vermächtnis des Empires. Grossbritannien hat bereits 2013 in einer aussergerichtlichen Einigung 20 Millionen Pfund Entschädigung für gewisse koloniale Verbrechen bezahlt.

Aber sind Reparationszahlungen überhaupt sinnvoll, so viele Jahre nach dem Ende des Empires?

Es geht nicht um Schuldgefühle. Es geht um das Lösen von echten Problemen. Die Karibik hat eine der höchsten Diabetes-Raten der Welt. Wieso? Weil die europäischen Kolonialherren diesen Teil der Erde zum Ort für die industrielle Zuckerproduktion erkoren. Wir liessen ihnen zudem kein Gesundheits- oder Bildungssystem zurück und nehmen ihnen jetzt noch die besten Ärzte weg.

Wie könnten solche Reparationen aussehen?

Der Prozess ist längst in Gang, viele haben es nur noch nicht realisiert. Grossbritannien hat seine Beziehungen mit Irland in den letzten Jahrzehnten auf eine völlig neue Grundlage gestellt. Das Karfreitagsabkommen von 1998 enthielt Reparationen für Opfer des Bürgerkriegs. Es gab eine offizielle Entschuldigung Grossbritanniens für die grosse irische Hungersnot und für den Bloody Sunday. Dadurch sind die Beziehung viel besser geworden.

Jahrzehnte nach dem Ende des Empires wendet sich Grossbritannien mit dem Brexit wirtschaftlich von der EU ab und sucht nun wieder die Nähe der ehemaligen Kolonien. Wie kommt das dort an?

Beim Brexit ging es auch um das Empire. Grossbritannien beherrschte einst einen Viertel der Welt, und dann sollten die Briten plötzlich der EU, einem Klub aus vielen Ländern, angehören? Das fühlte sich für viele Briten wie ein Abstieg an. Die meisten von den Brexiteers versprochenen Freihandelsabkommen mit Commonwealth-Staaten sind aber nicht zustande gekommen. Für mein Buch bin ich nach Indien, Mauritius, Nigeria und Barbados gereist. Nirgendwo habe ich einen grossen Wunsch gespürt, den Briten auszuhelfen.

Brite mit Wurzeln in Indien

Sathnam Sanghera

Der Journalist und Autor wurde im englischen Wolverhampton als Sohn indischer Einwanderer geboren. Er studierte in Cambridge Englisch und Literatur. Sanghera schrieb als Journalist zuerst für die «Financial Times», heute arbeitet er für die Londoner «Times». 2021 publizierte er den Besteller «Empireland», ein Buch, das sich mit dem Vermächtnis des britischen Empires in Grossbritannien beschäftigt. Das 2024 erschienene Buch «Empireworld» ist die logische Fortsetzung: Sanghera reiste dafür in ehemalige britische Kolonien und erforschte die Auswirkungen, welche der britische Imperialismus bis heute vor Ort hat. 2023 wurde er zum Fellow in der Royal Historical Society gewählt.

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