Denkzettel für die Mullahs

Istambul. Analyse An diesem Freitag wird im Iran ein neues Parlament gewählt. Selbst staatliche Umfragen sagen eine historisch niedrige Beteiligung voraus. Die Boykott-Bewegung könnte die Legitimation der Islamischen Republik infrage stellen.

denkzettel für die mullahs

Wahlwerbung in Teheran. (Archiv)

Frauen ohne Kopftuch werden im Iran normalerweise verfolgt und bestraft. Doch vor den Parlamentswahlen an diesem Freitag werden sie plötzlich umworben. Frauen mit offenem Haar seien als Wählerinnen willkommen, sagt Hadi Tahan Nazif, Sprecher des ultra-konservativen Wächterrates. Aus seiner Einladung spricht die Furcht des Regimes vor einer Erniedrigung bei den Wahlen vom 1. März: Selbst staatliche Umfragen sagen eine historisch niedrige Wahlbeteiligung voraus. Die Boykott-Bewegung könnte die Legitimation der Islamischen Republik infrage stellen.

Rund 60 Millionen Iraner und Iranerinnen sind aufgerufen, die 290 Sitze ihres Parlaments und den sogenannten Expertenrat mit seinen 88 Mitgliedern neu zu bestimmen. Die Wahlen sind die ersten seit den landesweiten Protesten gegen das Regime, die sich am Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in der Gewalt der Religionspolizei im September 2022 entzündet hatten und von Polizei und Milizen niedergeschlagen wurden. Die Weigerung des Regimes, politische Veränderungen zuzulassen, treibe viele Menschen in den Boykott, sagt der türkische Iran-Experte Arif Keskin, dessen Analysen in Publikationen türkischer Denkfabriken erscheinen. „Die Leute wissen sehr genau, dass die Wahlen nichts an ihrem Schicksal ändern werden“, sagte der im Iran geborene Keskin unserer Redaktion.

Zur politischen Unzufriedenheit und zu den restriktiven sozialen Vorschriften wie der Kopftuchpflicht für Frauen kommen Probleme wie Inflation, Währungsverfall und Umweltzerstörung. Das Regime hat die meisten Reform­politiker von den Wahlen ausgeschlossen, deshalb stehen fast nur Hardliner zur Wahl. In der Vergangenheit seien Wahlen im Iran zwar nie frei und fair gewesen, aber immerhin habe es eine echte Konkurrenz gegeben, sagt Arash Azizi, Iran-Experte an der Clemons-Universität in den USA. Heute gebe es nicht einmal das. Führende Reformer rufen zum Boykott auf, einige – wie Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi – tun das aus dem Gefängnis heraus.

Die Beteiligung am Freitag dürfte deshalb auf einen neuen historischen Tiefstand fallen. Bei der jüngsten Parlamentswahl vor vier Jahren gingen 42,6 Prozent zur Urne – das war schon damals der schlechteste Wert seit der Revolution von 1979. In einer Umfrage des staatsnahen Instituts Ispa im Dezember sagten knapp 28 Prozent, sie wollten zur Wahl gehen. Seitdem veröffentlicht Ispa keine Zahlen mehr. Eine aktuelle Umfrage eines niederländischen Instituts unter 58.000 Internetnutzern im Iran ergab, dass fast jeder Zweite, der bei der jüngsten Wahl noch zur Urne ging, dieses Mal zu Hause bleiben will. Die Beteiligung am Freitag könnte laut der Umfrage auf 15 Prozent sinken. Laut der Zeitung „Vatan Emrooz“ weiß jeder zweite Wähler überhaupt nicht, dass am Freitag gewählt wird.

Warum das so ist, weiß das Regime aus internen Untersuchungen. Eine dieser Studien, die dem persischen Dienst der britischen BBC zugespielt wurde, zeigt die tiefe Kluft zwischen der Mullah-Regierung und dem Volk. Mehr als 70 Prozent der Iraner wünschen sich demnach eine Trennung von Politik und Religion und lehnen damit die Herrschaft der Geistlichkeit ab, ein Grundprinzip der Islamischen Republik. Die Macht des Regimes ist dadurch nicht in unmittelbarer Gefahr, denn es kann sich auf die Revolutionsgarde, die Polizei und regierungstreue Milizionäre verlassen. Ein Problem ist die Desillusionierung der Iraner für Revolutionsführer Ali Khamenei und Präsident Ebrahim Raisi aber trotzdem. Ihr Staat brüstete sich über Jahrzehnte, die damals hohen Wahlbeteiligungen von zeitweise mehr als 80 Prozent seien ein Beweis für die Zustimmung des Volkes zur Islamischen Republik, die 1979 als Antwort auf die Diktatur des Schahs errichtet wurde. Das Regime hatte gehofft, die Wahl am Freitag könnte einen Schlussstrich unter die Protestwelle der vergangenen Jahre ziehen und Regierung. Eine hohe Beteiligung wäre aus Sicht des Regimes ein Signal an die USA, Israel und andere Gegner, denn mit ihr könnte die Islamische Republik demonstrieren, dass das Volk hinter ihr steht.

Eine niedrige Wahlbeteiligung würde diese Hoffnungen zunichtemachen – und zwar zu einer Zeit, in der sich die Führung des Landes auf die Nachfolge des fast 85-jährigen Khamenei vorbereitet. Die Mitglieder des Expertenrats, die am Freitag gewählt werden, dürften in ihren acht Amtsjahren bis 2032 einen neuen Revolutionsführer wählen. Als Khamenei vor Kurzem alle Iraner aufrief, zur Wahl zu gehen, ließ er erkennen, wie wichtig das Thema für ihn ist: Wahlen seien die wichtigste Säule der Islamischen Republik, sagte er. Andere Regimevertreter versuchen, die Iraner mit den Argumenten zu motivieren, die Stimmabgabe sei eine religiöse Pflicht, während ein Wahl-Boykott nur den Feinden des Landes wie den USA nützen würde.

Die Opposition befürchtet, dass die Führung es nicht bei Appellen belässt. Die Regierung wolle am Freitag mehrfache Stimmabgaben ihrer Anhänger zulassen und so eine hohe Beteiligung vortäuschen, berichtete der regimekritische Exilsender Iran International. Solche Tricks würden dem Regime nicht helfen, meint Iran-Experte Keskin. Er hat beobachtet, dass manche Wähler nicht die Wahl, sondern im Gegenteil den Boykott als Pflicht betrachten: „Sie sehen die Zeit gekommen, dem Regime mit dem Wahl-Boykott einen Denkzettel zu verpassen.“

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