Wie die sächsische SPD-Spitzenkandidatin Petra Köpping den Durchmarsch der AfD verhindern will

wie die sächsische spd-spitzenkandidatin petra köpping den durchmarsch der afd verhindern will

Petra Köpping, 65, tritt als SPD-Spitzenkandidatin für die sächsische Landtagswahl am 1. September an.

Den Optimismus immerhin haben sie sich bewahrt, die Sozialdemokraten in Sachsen. An der Wandtafel, vor der Petra Köpping in einem Besprechungszimmer der Dresdener SPD-Landeszen­trale gerade Platz genommen hat, bilden Magneten einen Pfeil nach oben. Es kann schließlich nur noch aufwärtsgehen nach dem Umfragewert von drei Prozent, den ein Institut Anfang Januar ermittelt hat, wenn auch eines von umstrittener Seriosität. Auf mehr als sieben Prozent kam die Partei zuletzt auch in anderen Erhebungen nicht. Das sind die Voraussetzungen, mit denen Köpping als Spitzenkandidatin in die Landtagswahl am 1. September zieht.

Schaut sie nicht nach hinten an die Wand, sondern nach vorne auf den Tisch, sieht sie einen roten Wimpel, darauf die drei Buchstaben S, P und D. Der Wimpel steht für die große Tradition der Sozialdemokraten hier im Land. In Leipzig gründete Ferdinand Lassalle 1863 den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, einen der beiden Vorläufer der SPD. August Bebel, der legendäre Übervater der Partei, vertrat anfangs sächsische Wahlkreise, erst Glauchau, dann Dresden. Vor 1933 galt das Land als das „rote Sachsen“ – eine Tradition, an die nach 1990 außerhalb von einzelnen Städten wie Leipzig kein Sozialdemokrat mehr anknüpfen konnte, auch weil der erste CDU-Ministerpräsident Kurt Biedenkopf den Freistaat zunächst so scheinbar mühelos in die neue Zeit führte.

Eine wichtige Wahl für die SPD

Jetzt schaut die ganze Republik auf Köpping. Kommt die SPD unter ihrer Wahlkampfführung nicht mehr in den Landtag, wäre es das erste Mal, dass die älteste Partei des Landes bei einer freien, gleichen und allgemeinen Wahl den Einzug in ein Parlament verfehlt. Aber es geht noch um mehr: Sollten es auch Grüne und FDP, Linke und Wagenknecht-Partei nicht in den gläsernen Plenarsaal am Dresdener Elbufer schaffen, was durchaus im Bereich des Möglichen erscheint, könnte die sächsische AfD eine absolute Mehrheit der Mandate erringen. Die Frage wäre dann nicht mehr, ob die Brandmauer der demokratischen Parteien hält, das schwierige Bündnis von CDU, SPD und Grünen weiterhin möglich ist. Die Rechtsextremisten könnten dann ganz direkt den Ministerpräsidenten stellen.

An Köpping hängt viel für das Land, aber sie versucht den Eindruck zu vermitteln, als könne sie das nicht schrecken. Bürgermeisterin eines 3000-Seelen-Örtchens zu DDR-Zeiten. SED-Austritt bereits einige Monate vor der Wende. Abermals Bürgermeisterin und dann Landrätin während der schwierigen Nachwendejahre mit Betriebsschließungen und Massenarbeitslosigkeit. Sächsische Integrationsministerin im Flüchtlingsjahr 2015 und Gesundheitsministerin im Corona-Jahr 2020. Sie hat schon zu viel erlebt, um noch größere Angstgefühle zu entwickeln. Auch die Kritik des sächsischen Rechnungshofs an allzu freigiebigem Umgang mit Integrationsgeldern in der hektischen Flüchtlingszeit ließ sie an sich abperlen.

Ausgesucht hat sie sich die Aufgabe allerdings auch nicht. Zum Zeitpunkt der Wahl wird sie ihren 66. Geburtstag schon hinter sich haben – ein Alter, in dem die meisten an Ruhestand denken, selbst der Dauerkanzlerin Angela Merkel erging es so. Aber sie muss noch mal ran, weil namenlose Genossen vor fünf Jahren das Acht-Prozent-Ergebnis des damaligen Frontmannes Martin Dulig für verheerend hielten und ihn von der Parteispitze entfernten, ohne selbst eine vorzeigbare Alternative präsentieren zu können.

Eine gewisse Logik hat es trotzdem, dass die sächsischen Sozialdemokraten diesmal nicht mit dem 49-jährigen Wirtschaftsminister antreten, sondern mit der 65-jährigen Sozialministerin. Dass die ökonomische Aufstiegsgeschichte der zurückliegenden drei Jahrzehnte für viele heute wenig zählt, das haben alle im Westen etablierten Parteien zuletzt bei ostdeutschen Wahlen erfahren müssen. Jetzt scheint es eher darum zu gehen, die Gründe für die grassierende Unzufriedenheit zu erforschen. Dass Dulig erst fünfzehn Jahre alt war, als in Berlin die Mauer fiel, erscheint in diesem Kontext fast schon als Nachteil. Kann nicht eine Frau wie Köpping, die als Erwachsene noch die DDR erlebte, die Seelenlage der im Durchschnitt ältesten Bevölkerung der Europäischen Union viel besser erfassen?

„Ich möchte die gesellschaftliche Mitte erreichen“

In Zeiten, in denen die Umfragewerte der Rechts-außen-Partei zuletzt stetig stiegen, setzt Köpping auf die Gemäßigten, die zuletzt geschwiegen hätten. „Ich möchte die gesellschaftliche Mitte erreichen, die im Moment relativ still ist“, sagt sie. „Das sind Menschen, die sich oft frus­triert zurückziehen, weil sie sagen: Ich will mich nicht beschimpfen lassen, ich will nicht, dass man hinterher in der Familie oder mit Freunden nicht mehr redet.“

Dass der Ministerin bis heute das etwas abgegriffene Etikett einer „Kümmerin“ anhängt, geht auf die Zeit der Flüchtlingsdebatte zurück. Erst in einer viel beachteten Rede 2016 und zwei Jahre später in einem Buch versuchte sie, das Unwohlsein eines Teils der ostdeutschen Bevölkerung aus den Erfahrungen der Nachwendezeit zu erklären. „In fast allen Fällen war recht schnell nicht mehr die ‚Flüchtlingsproblematik‘ das alles entscheidende Thema. Es ging um etwas viel tiefer Liegendes“, schrieb sie damals. „Fast alle Gespräche endeten mit den persönlichen Erlebnissen während der Nachwendezeit. Obwohl seitdem fast 30 Jahre vergangen sind, offenbarten sich unbewältigte Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten.“

Das kam trotzdem nicht bei allen gut an. Über eigene Verlustgefühle reden viele nicht gerne, es fällt leichter, sich über „die da oben“ zu echauffieren. „Sie immer mit Ihren Flüchtlingen! Integrieren Sie doch erst mal uns“, sagt ihr damals ein Demonstrant.

„Integrieren Sie doch erst mal uns“ – das wurde dann auch der provokant gemeinte Titel ihres Buchs, der einigen der Adressierten dann auch wieder nicht recht war. Die Ostdeutschen, die auch ohne Ortswechsel in die erweiterte Bundesrepublik quasi eingewandert waren, auf eine Stufe zu stellen mit den sogenannten Gastarbeitern früherer Jahre oder den Geflüchteten der jüngeren Vergangenheit, das war einigen dann doch zu viel – auch wenn es das Problem vermutlich ganz gut erfasste. Es liegt in der Natur jeder Gruppendynamik, dass Neuankömmlinge oft von jenen am misstrauischsten beäugt werden, die zuvor als Letzte hinzugetreten sind. Im Westen waren es nicht selten Deutsche mit türkischen Wurzeln, die syrischen Flüchtlingen mit großem Misstrauen begegneten.

Das Smartphone wird zum Kummerkasten

Wenn jetzt die Bundesregierung die Klimawende einleitet, mit Hilfen für die Ukraine die westlichen Demokratien verteidigt und dafür Putins Gasembargo in Kauf nimmt, dann ist das aus Köppings Sicht im Prinzip zwar richtig, aber für viele in Sachsen zu viel des Wandels. „Einmal im Leben schaffe ich eine solche Veränderung, aber nicht zweimal“: Das sei für viele Ostdeutsche die Bilanz nach den Umwälzungen der 90er-Jahre. „Die Leute haben sich einen gewissen Wohlstand erarbeitet, oft unter ihrem Qualifikationsniveau, und dafür haben sie viel aufgegeben. Da besteht die Angst, dass sie das verlieren könnten, dass sie eine zweite Veränderung nicht schaffen können.“

Inzwischen ist Köppings Smartphone zu einer Art Kummerkasten geworden. Sie bespricht per Kurznachricht die persönlichen Probleme, mit denen sich einzelne Bürger an sie wenden. Zuletzt klagte etwa eine Chemnitzer Reinigungskraft über ihr geringes Gehalt und andere Leute, die ohne Arbeit ihr Bürgergeld beziehen. Die Ministerin gab ihr spätabends noch Tipps, wo sie Wohngeld beantragen und wie sie sich mit einem Betriebsrat für ihre Rechte starkmachen könne. „Die Zeiten der Arbeitslosigkeit sind vorbei, aber ein Niedriglohnland sind wir immer noch“, kontert sie die Frage, warum die Stimmung so schlecht sei, obwohl es Sachsen wirtschaftlich so gut geht wie noch nie.

Im Buch zitiert Köpping eine Postkarte, die ihr während der Zeit der Pegida-Proteste ein Mann aus der sächsischen Provinz schrieb: „Wenn Sie für mich auf dem Land eine Frau finden, gehe ich nicht mehr zu Pegida.“ Tatsächlich sind aus den strukturschwachen Gegenden des Landes seit der Wende viel mehr Frauen als Männer weggezogen, weil sie oft mobiler und besser ausgebildet waren. Eine internationale Studie ergab zuletzt, dass populistische Parteien über alle westlichen Demokratien hinweg in Gegenden mit hohen Abwanderungsraten den größten Zuspruch finden.

An manchen Stellen liest sich Köppings Buch wie ein Manifest der alten PDS, als sie noch eine Regionalpartei für ostdeutsche Interessen war und noch nicht unter dem Namen einer gesamtdeutschen Linkspartei um die Grünen-Klientel in kleinen Biotopen wie Leipzig-Connewitz oder Dresden-Neustadt konkurrierte. Es geht um Fehler der Treuhandanstalt bei der Privatisierung der Ost-Betriebe, um Ungerechtigkeiten im Rentensystem (das freilich über die höhere Bewertung der Beiträge ostdeutsche Versicherte lange Zeit auch bevorzugte), um mangelnde Repräsentanz in Führungspositionen. In den Chor derjenigen, die einem angeblichen Gemeinschaftsgefühl zu DDR-Zeiten hinterhertrauern, stimmt sie indes nicht ein. Dass das bestenfalls eine Notgemeinschaft war, ist ihr sehr bewusst.

Bei zu vielen neuen Gesetzen „kommen die Leute nicht hinterher“

Man könnte allerdings nicht behaupten, dass Köpping den Leuten bloß nach dem Mund redet. Wenn es um ein höheres Kindergeld oder mehr Kita-Plätze geht, plädiert sie für mehr Kitas, da klingt sie fast schon ein ganz kleines bisschen nach der FDP. Und manchmal handelt sie auch ganz privat. Als die Proteste gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung vor acht Jahren ihrem Höhepunkt zusteuerten, nahm sie ein schwules Paar aus Syrien bei sich auf, das in der Flüchtlingsunterkunft drangsaliert worden war. Und während der Corona-Pandemie setzte sie als Gesundheitsministerin jene Vorgaben zum Infektionsschutz um, die gerade im Freistaat auf teils wütenden Protest stießen – und so wenig befolgt wurden wie an kaum einem anderen Ort in der Republik. Mit dem Ergebnis, dass die Lebenserwartung sächsischer Männer 2021 um volle anderthalb Jahre niedriger lag als noch 2019. So groß war der Rückgang sonst nirgends.

Zuletzt setzte sie als Ministerin eine Krankenhausreform durch, gegen die es viel weniger Widerstand gab als gegen die Pläne ihres Kollegen Karl Lauterbach auf Bundesebene. Es wird im Land zwar kein Krankenhaus geschlossen. Dabei verweist Köpping allerdings darauf, dass sich die Zahl der Standorte – anders als in vielen westdeutschen Ländern – schon während der 90er-Jahre von mehr als 130 auf 76 reduzierte. Aber sie verlangt Spezialisierungen von den Kliniken, was oft den Verzicht auf lukrative Behandlungen und weitere Wege für die Patienten bedeutet.

„Politiker glauben oft, neue Gesetze sind eine gute Sache. Aber wenn es zu viele sind, kommen die Leute nicht hinterher“, sagt sie. „Wir brauchen mehr Sicherheit in den Abläufen: die Leute erst einbinden, dann klare Entscheidungen treffen und nicht gleich wieder den nächsten Streit anfangen. Meine Krankenhausreform ist das beste Beispiel.“ Das ist natürlich auch eine kaum verhohlene Kritik am Gebaren der Ampelkoalition in Berlin, jener Stadt, aus der nach Ansicht so mancher Sachsen noch nie viel Gutes kam.

Eine Kritik, von der nicht bloß bei Köpping einer ausgenommen ist: Boris Pistorius, der Verteidigungsminister. Gemeinsam mit ihm, das haben viele schon wieder vergessen, hatte sie sich nach dem Rücktritt der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles im fernen Jahr 2019 für die Parteispitze beworben, zunächst als einziges Gespann der Realpolitiker gegen eine bunte Kandidatenschar vom linken bis sehr linken Parteiflügel. Sehr spät entschloss sich dann Olaf Scholz angesichts des Bewerberfelds, doch noch selbst ins Rennen einzusteigen. Dass Pistorius heute der beliebteste Minister ist und Köpping die letzte Hoffnung in Sachsen, das ist nur eine weitere Pointe der Geschichte, die Scholz zuerst ins Kanzleramt und dann die Regierung ins Stimmungstief führte.

News Related

OTHER NEWS

Ukraine-Update am Morgen - Verhandlungen mit Moskau wären „Kapitulationsmonolog" für Kiew

US-Präsident Joe Biden empfängt Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus. Evan Vucci/AP/dpa Die US-Regierung hält Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zum jetzigen Zeitpunkt für „sinnlos”. Bei einem Unwetter in Odessa ... Read more »

Deutschland im Wettbewerb: Subventionen schaden dem Standort

Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. November 2023 im Bundestag Als Amerikas Präsident Donald Trump im Jahr 2017 mit Handelsschranken und Subventionen den Wirtschaftskrieg gegen China begann, schrien die Europäer auf ... Read more »

«Godfather of British Blues»: John Mayall wird 90

John Mayall hat Musikgeschichte geschrieben. Man nennt ihn den «Godfather of British Blues». Seit den 1960er Jahren hat John Mayall den Blues geprägt wie nur wenige andere britische Musiker. In ... Read more »

Bund und Bahn: Einigung auf günstigeres Deutschlandticket für Studenten

Mit dem vergünstigten Deutschlandticket will Bundesverkehrsminister Wissing eine junge Kundengruppe dauerhaft an den ÖPNV binden. Bei der Fahrkarte für den Nah- und Regionalverkehr vereinbaren Bund und Länder eine Lösung für ... Read more »

Die Ukraine soll der Nato beitreten - nach dem Krieg

Die Ukraine soll nach dem Krieg Nato-Mitglied werden. Die Ukraine wird – Reformen vorausgesetzt – nach dem Krieg Mitglied der Nato werden. Das hat der Generalsekretär des Militärbündnisses, Jens Stoltenberg, ... Read more »

Präsidentin droht Anklage wegen Tod von Demonstranten

Lima. In Peru wurde eine staatsrechtlichen Beschwerde gegen Präsidentin Dina Boluarte eingeleitet. Sie wird für den Tod von mehreren regierungskritischen Demonstranten verantwortlich gemacht. Was der Politikerin jetzt droht. Perus Präsidentin ... Read more »

Novartis will nach Sandoz-Abspaltung stärker wachsen

ARCHIV: Das Logo des Schweizer Arzneimittelherstellers Novartis im Werk des Unternehmens in der Nordschweizer Stadt Stein, Schweiz, 23. Oktober 2017. REUTERS/Arnd Wiegmann Zürich (Reuters) – Der Schweizer Pharmakonzern Novartis will ... Read more »
Top List in the World