Wie man sich aus fremden Geschichten befreit: Sam Thompsons Roman

Eines Nachts, Willow kann wieder einmal nicht schlafen, hört sie Geräusche von der Tür zum Garten. Ihr Vater schleicht sich, wie sie durchs Fenster sieht, hinaus bis zum Waldrand hinter dem Haus. Dort kommen ihm Füchse entgegen, mit denen er offenbar erregt diskutiert. Schließlich springt ihn ein riesiges schattenhaftes Tier an und zerrt ihn mit sich in den Wald hinein.

Man könnte nun ein Mädchen in Panik erwarten, das nicht glauben kann, was es da sieht, angefangen mit dem Gespräch des Vaters mit den Tieren. Willow aber gibt kein Zeichen von Erstaunen von sich. Stattdessen macht sie sich, ohne groß nachzudenken, auf den Weg, dem Vater hinterher.

Sorgen um den Vater hatte sich Willow, aus deren Perspektive Sam Thomp­son seinen Roman „Der Turm der Füchse“ erzählt, schon länger gemacht. Er zeigt Zeichen von Verwahrlosung und scheint damit überfordert zu sein, Willow nach dem frühen Tod ihrer Mutter allein großzuziehen. Die Verantwortung aber, die sie nun für ihn übernehmen muss, stellt die bisherige Sorge weit in den Schatten. Sie schlägt sich im düsteren Wald durch, erschrickt vor den dort lebenden Tieren und flieht schließlich vor einer Wölfin.

Die Fuchsfamilie in der S-Bahn

Dann aber bekommt auch sie es mit sprechenden Tieren zu tun. Die Wölfin, ein zahmer Rabe und eine Fuchsfamilie tun sich mit ihr zusammen, um ihren verschleppten Vater zu finden und zu befreien. Der Weg führt sie in einen riesigen Turm mitten im Wald, der einer in die Vertikale gebauten menschlichen Stadt entspricht, samt Versammlungsplätzen, Aufzügen, S-Bahnen und Slums. Dort wird ihr Vater von dem charismatischen Fuchsherrscher Reynard gefangen gehalten, während ein Löwe namens Nobel ihn entthronen will.

Thompson packt eine Menge in seinen verrätselten Roman, der mal an eine Allegorie auf menschliche Gesellschaften erinnert und mal diese Lesart geschickt unterläuft. Es stellt sich mehr und mehr heraus, dass Willows Reise, die das Mädchen über den Turm hinaus und zu einem Abbild der toten Mutter führt, nicht zuletzt dazu dient, sprachliche Zuschreibungen in Form suggestiver Geschichten zu überwinden: Ist der Dachs notwendig grimmig, der Fuchs schlau, der Löwe König? Wer stellt Normen sozialer Ordnung auf, wie lassen sie sich unterlaufen? Eine besondere Rolle dabei spielen lehmgeschaffene Wesen, die wie Golems dem Willen ihres Schöpfers folgen, die sich auch physisch an das anpassen, was von ihnen verlangt wird, und doch irgendwann, als die Ordnung – hier heißt das: der Turm – zusammenbricht, anfangen, die großen Fragen zu stellen: Warum sind wir hier, und was kommt danach?

Es ist diese Emanzipation, die Thomp­sons spannende und bilderreiche Geschichte erzählt. Für Willow und ihren Vater bedeutet das Erlebnis im Wald noch nicht, dass sich alles zwischen ihnen ändert. Erst die Umkehrung der ersten Szene und mit ihr die Richtung der Fürsorge bringt etwas in Bewegung. Für die Freiheit von den Geschichten der anderen muss man sich entscheiden, zeigt Thompson in seinem reichen, anspruchsvollen Roman. Die Leser werden ihm mühelos folgen.

Sam Thompson: „Der Turm der Füchse“. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Thienemann Verlag, Stuttgart 2023. 208 S., geb., 15,– €. Ab 10 J.

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