Neue Serie: Mir reicht's, ich geh in den Osten - „'Sieg heil' statt 'Prost'“: Kneipen-Chef erzählt erschreckende AfD-Geschichte
Erlebte Unglaubliches in seiner Bar in Sonneberg: Marcel Rocho. Ulf Lüdeke/Arabella Zeciri/FOCUS online
Die AfD könnte bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg erstmals stärkste Kraft werden. FOCUS online widmet sich dem Thema mit der neuen Serie „Mir reicht’s, ich geh in den Osten“. Erste Station ist Sonneberg, wo die AfD erstmals eine Landratswahl gewann. Ein AfD-Stadtrat soll dort in einer Bar mehrfach „Sieg Heil“ gerufen haben.
Viel sattes Grün, viele Gründerzeit-Villen, viel Schiefergebirge zum Wandern – es gibt diverse gute Gründe, dem Ort Sonneberg in Thüringen einen Besuch abzustatten. Doch die Kleinstadt mit ihren rund 23.000 Einwohnern und der gleichnamige Kreis sind seit vergangene, Sommer wegen politischer Umstände bundesweit bekannt. Denn damals gewann erstmals in Deutschland ein Politiker der AfD, die in Thüringen vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft wird, eine Landratswahl.
Und nicht erst seit diesem Ereignis, das selbst im Ausland für Aufsehen sorgte, wird der politische Umgangston in dem Urlaubsort rauer.
Kaum einer weiß dies besser als Marcel Rocho.
„Mit jedem Monat, der vergeht, testet die AfD die Grenzen des Sagbaren immer stärker aus“
Der 44-jährige Geschäftsführer der “Gewölbe Bar” hat vorigen Sommer kurz nach der Wahl von Robert Sesselmann zum ersten AfD-Landrat in Deutschland einen Stammtisch gegründet. „Mit einigen Stammgästen haben wir beschlossen, einen Ort zu schaffen, wo man offen kritisch und entspannt über die AfD reden kann.”
Immer wieder Thema seien dabei die “wachsenden Einschüchterungsversuche” der Partei. “Mit jedem Monat, der verstreicht, gehen die AfD und ihre Unterstützer in ihrer Radikalität einen Schritt weiter. Sie werden immer frecher und testen immer stärker die Grenzen des Sagbaren aus“, erzählt der 44-Jährige.
Rocho, der die Bar seit 14 Jahren betreibt, sitzt an diesem sonnigen Frühlingstag am frühen Nachmittag etwas müde in der schummrigen Bar am Tresen und wartet auf eine Getränkelieferung. Die Sorgen, dass öffentliche Äußerungen von Stammtischmitgliedern Folgen haben könnten, seien so groß, dass niemand mit einem Journalisten sprechen wolle – nicht einmal anonym, sagt Rocho.
Marcel Rocho in seiner “Gewölbe Bar”, wo ein AfD-Stadtrat aus Sonneberg “Sieg Heil” gerufen haben soll. Ulf Lüdeke / FOCUS online
Bar-Besitzer: „AfD-Stadtrat ruft in gut besuchter Kneipe zweimal ‘Sieg Heil’“
Wie sehr diese Grenzen des Sagbaren bisweilen überschritten werden, will Rocho in seiner Kneipe selbst erlebt haben – im Jahr 2022. An einem Wochenende in jenem Frühjahr, berichtet Rocho, sei eines Abends der AfD-Stadtrat Alexander Escher mit Gefolge in der „Gewölbe Bar“ aufgetaucht, die gut besucht gewesen sei.
Escher sei unter den Gästen sofort aufgefallen. Der Stadtrat, der auch im Jugend- und Kulturausschuss sitzt, habe ein hellblaues Polo-Shirt mit AfD-Logo getragen. Auf dem T-Shirt eines Begleiters sei der Spruch „I Love HTLR“ aufgedruckt gewesen, so Rocho weiter. HTLR gilt als ein Code in der Rechtsextremen-Szene für „Hitler“.
Wenig später habe der AfD-Politiker, der bei der Kommunalwahl am 26. Mai erneut kandidiert, direkt am Tresen plötzlich die Nazi-Parole „Sieg Heil“ statt „Prost“ gerufen, erinnert sich Rocho, der an jedem Abend selbst am Tresen bediente. Er habe den AfD-Stadtrat sofort verwarnt und gesagt, dass solche Worte in seiner Bar unerwünscht seien. „Kurz darauf hat Escher erneut ‘Sieg Heil’ gerufen. Ich habe ihn rausgeworfen und ihm Hausverbot erteilt.“
Von AfD-Politiker Alexander Escher, der erneut für Sonnebergs Stadtrat kandidiert, hängen überall in der Stadt Wahlplakate. Ulf Lüdeke / FOCUS online
Escher, von FOCUS online mit diesen Vorwürfen konfrontiert, äußerte sich bislang nicht dazu. Eine weitere Person, die das Geschehen an dem Abend ebenfalls mitbekam, bestätigte indes gegenüber FOCUS online die Angaben Rochos, deren Wahrheit der Bar-Chef FOCUS online an Eides statt versichert hat.
Projekt-Leiter: Zunahme rechter Gewalt gekoppelt an AfD-Sieg bei Landratswahl
Erstmals erwähnt hat der Sonneberger Bar-Betreiber diesen mutmaßlichen Zwischenfall am 10. April – ohne bislang jedoch zu erwähnen, dass es ein AfD-Stadtrat gewesen sein soll, der den Hitler-Gruß ausgerufen habe. Anlass war die Präsentation der Jahresstatistik 2023 der Gewaltopferberatungsstelle „Ezra“, bei der Rocho mitwirkte.
Der eingetragene Verein, der sich seit 2012 der Beratung von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen widmet, kommt in seinem „unabhängigen Monitoring“ unter anderem zum Schluss, dass sich neben Erfurt und Weimar 2023 „erstmals der Landkreis Sonneberg zu einem Hotspot rechtsmotivierter Angriffe“ entwickelt habe.
Die Ezra-Analyse geht sogar noch einen Schritt weiter – und verknüpft die Zunahme dieser Aggressionen in Sonneberg direkt mit dem AfD-Erfolg bei der Landratswahl. Projektleiter Frank Zobel: „Hier wird wie unter einem Brennglas sichtbar, wie rechte Gewalt dort zunimmt, wo Täter und Täterinnen erkennen, dass ihre Taten eine breite Unterstützung in der Bevölkerung haben.“
Was passiert, wenn die AfD in Sonneberg die Mehrheit erringt?
Während die Unterstützung für rechtsextreme Politik der AfD in Sonneberg ganz offenbar wächst, schwächeln die demokratischen Parteien. Im Sonneberger Kreistag liegt die CDU nach dem Auseinanderbrechen der Fraktion im Sommer 2022 mit 10 Mandaten nur noch eine Stimme vor der AfD auf Platz 1. Im Stadtrat rangiert die CDU hinter der neuen Fraktionsgemeinschaft „Pro Son“ (Pro Landkreis Sonneberg, 8 Mandate) mit sieben Mandaten auf Platz 2 nur knapp vor der AfD (sechs Mandate).
Durchaus denkbar, dass die AfD nach der Kommunalwahl am 26. Mai stärkste Fraktion in beiden Häusern wird. Die CDU, die bei den letzten Kommunalwahlen vor ihrem Auseinanderbrechen noch 40,1 Prozent erreicht hatte, ist in Sonneberg tief zerstritten.
Doch was passiert in dem Ort, wenn die AfD die Mehrheit erringt?
AfD-Kreistagsabgeordneter spekuliert öffentlich, Wirt wegen Kritik Konzession zu entziehen
Rochos Ezra-Auftritt trug jedenfalls dazu bei, dass der Ton in der Sonneberger AfD erneut schärfer wurde. Und dies sogar nachlesbar für jedermann auf dem öffentlichen Facebook-Account von Ricky Nixdorf, einem einschlägig bekannten Sonneberger Strippenzieher der Thüringer Rechtsrock-Szene. Nixdorf spielte einst selbst für Rechtsrock-Bands wie “Volksverhetzer” und “Sturmangriff”.
Der Sonneberger AfD-Keistagsabgeordnete Marco Homann postete auf Nixdorfs Account, (sic)„man sollte wirklich überlegen ob man so einen nicht die Gaststätten Konzession entzieht wegen Volksverhetzung“. Auf seinem Profilbild präsentiert sich der AfD-Politiker im militärischen Kampfanzug mit Sturmgewehr. Neben dem Bild postete er „Wladimir, ich stehe zu dir!!!“ samt Mucki-Emoji. In Homanns Foto-Galerie finden sich gleich drei Portraits des russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Ein Screenshot von der Facebook-Seite Ricky Nixdorf vom 11. April 2024, auf der der AfD-Kreistagsabgeordnete Marco Homann Rochos Auftritt bei “Ezra” kommentiert. Screenshot FOCUS online
Und noch ein weiterer Sonneberger AfD-Politiker ist zuvor schon durch extrem geschmackloses Verhalten in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gelangt: Holger Winterstein. Im Oktober 2022 sorgte der AfD-Kreistagsabgeordnete für Entsetzen, als er ein Bild in sozialen Medien teilte, das ihn stehend mit ausgebreiteten Armen auf einer der Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin zeigte, auf einigen sogar lachend. Sogar der AfD-Bundesvorstand tadelte Winterstein für dieses „äußerst respektlose Verhalten“. Winterstein trat daraufhin zwar als Vize-Chef des AfD-Gebietsverbandes Sonneberg zurück, behielt jedoch sein Kreistagsmandat.
AfD-Politiker Holger Winterstein tanzt auf dem Holocaust-Mahnmal in Berlin. Twitter
AfD-Landrat nennt Statistik zu rechter Gewalt „frei erfunden“
Sesselmann selbst reagierte auf die Ezra-Statistik in einem Video, in dem er offiziell als Landrat auftrat, mit der Behauptung, eine Steigerung rechtsextremer Straftaten in Sonneberg sei offenbar „frei erfunden“. Wer wisse, wer hinter Ezra stünde, dem sei auch klar, “dass derjenige mit Katharina König Preuss” (einer Sonneberger Landtagsabgeordneten der Linken, Anm. der Redaktion) zusammengearbeitet habe und somit sei klar, “wo die Reise langgeht“, erklärte der AfD-Landrat, ohne Hintergründe zu erläutern.
Was Sesselmann hingegen verschweigt, ist, dass die Opferberatung Ezra sich in Trägerschaft des Vereins „re:solut e.V.“ (Rundum engagiert: solidarische Unterstützung in Thüringen e.V.”) befindet – einem selbstständigen Werk der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland.
Pikant: Als eine seiner ersten Amtshandlungen hatte der AfD-Landrat versucht, eine Komplementärfinanzierung von 35.000 Euro für einen Jahreszuschuss von 250.000 Euro aus dem Bundesförderprogramm „Demokratie leben“ im Haushalt des Landkreises zu streichen. Auch Ezra wird durch dieses Programm gefördert.
Der AfD-Politiker konnte die Streichung nicht durchsetzen, da der Kreistag dem hätte zustimmen müssen – die AfD hat dort keine Mehrheit. Erst nachdem der Jugendhilfeausschuss mit einer Sondersitzung des Kreistags drohte, gab Deutschlands erster AfD-Landrat klein bei und unterzeichnete den neuen Förderantrag.
Wutbriefe und negative Ratings – Sonnebergs Ruf leidet auch bei den Touristen
Auch das Image Sonnebergs bei Touristen bleibt von den AfD-Erfolgen nicht unberührt. Schon kurz nach der Wahl Sesselmanns quoll das Postfach der kommunalen Touristen-Info über vor Beschwerdebriefen. „Ich habe selbst diverse negative Bewertungen wegen der Wahl des AfD-Landrats für mein Hotel bekommen – von Gästen, die nicht einmal bei uns gewesen sind“, sagt ein Sonneberger Hotelier, der lieber anonym bleiben möchte. Eine Anfrage von FOCUS online, wie sich Busreisen und Besucherzahlen seit dem vorigen Sommer verändert haben, ließ die Tourist-Info unbeantwortet.
Warum die AfD vor allem in Ostdeutschland so hohe Erfolge erziele, „müssen sich vor allem jene fragen, die in den letzten Jahren in Berlin an der Regierung waren“, so der Hotelier. „Der Frust im Volk ist hoch, vor allem im Mittelstand herrscht große Unzufriedenheit.“ Besonders das anhaltende Lohn- und Rentengefälle von West nach Ost, der Hickhack um das Heizungsgesetz und die explodierten Energiekosten empfänden viele Menschen als ungerecht.
Falls Björn Höcke die Landtagswahl gewönne, „wäre das jedenfalls eine Katastrophe für Thüringen“. Dass die AfD immer mehr zu einem Sammelbecken für rechtsextreme Ansichten werde, „blenden viele, die diese Partei wählen, leider aus“.
Bar-Betreiber enttäuscht: „Prinzip der Einschüchterung geht immer mehr auf“
Ein knappes Jahr nach Gründung des Stammtisches in der „Gewölbe Bar“ kann Marcel Rocho jedenfalls eine gewisse Enttäuschung nicht verhehlen. „Das Prinzip der Einschüchterung scheint immer mehr aufzugehen, da immer mehr Menschen Grenzüberschreitungen der AfD einfach hinnehmen – selbst jene, die aktiv gegen diese Partei sind.“ Das merke er auch immer deutlicher bei seinem eigenen Stammtisch.
Und Rocho nimmt sich selbst von dieser Kritik nicht aus. „Wenn jemand in einer voll besetzten Kneipe ‘Sieg Heil’ ruft, sollte man ihn sofort anzeigen. Der Paragraf 86a im Strafgesetzbuch ist da ziemlich eindeutig“, so Rocho. Das Verwenden verfassungswidriger Kennzeichen kann, so regelt es das Gesetz, bei einer Verurteilung mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden. „Doch statt konsequent zu sein und ihn anzuzeigen, habe ich es bei dem Hausverbot belassen, weil ich dachte, das würde reichen.“
Was Rocho beklagt, ist ein seiner Meinung nach mangelnder Widerspruch aller demokratischen Parteien in Sonneberg gegen die AfD, allen voran von der CDU. Sie sei die einzige starke Oppositionspartei, die nach Rochos Ansicht effektiv Paroli bieten könnte.
„Ich bin zwar kein Fan von dieser Partei. Aber der Stadt ist es viele Jahre gut unter ihr gegangen, wir profitieren alle noch heute davon.“ Ohne eine klare Positionierung der CDU gegen die AfD, befürchtet der Bar-Betreiber, werde sich an der Stimmung in Sonneberg nichts ändern.