Nach dem Urteil aus Strassburg wechselt er die Seiten: War der «Anwalt der Schweiz» während des Klimaprozesses befangen?
Für Alain Chablais war nach dem Urteil des EGMR sofort klar, dass die Schweiz nun handeln muss. ; Jean-Christophe Bott / Keystone
Eigentlich hätte Alain Chablais zutiefst betrübt sein müssen, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der vorherigen Woche die Schweiz in einem abstrusen Urteil gerügt hatte, zu wenig gegen die Erderwärmung zu tun. Der 54-jährige Jurist ist der Bereichsleiter Internationaler Menschenrechtsschutz im Bundesamt für Justiz (BJ) und vertritt seit 2018 als «Agent du Gouvernement» die offizielle Schweiz vor den Richtern in Strassburg.
Juristen verlieren nicht gerne. Und Chablais, der unterlegene «Anwalt der Schweiz», hätte das Urteil persönlich nehmen müssen. Erst ein Jahr ist es her, da setzte er sich in der Fremde noch ein für die Anliegen der Eidgenossenschaft. Es sei falsch, dass der Bund in Sachen Klimaschutz untätig sei, sagte er damals bei der öffentlichen Anhörung in Strassburg. Der EGMR sei zudem nicht der Ort, der über die Schweizer Klimapolitik entscheide. Klare Kante im Namen der Schweiz.
Gegen Grüne durchgesetzt
Doch kaum war die Tinte der schriftlichen Urteilsbegründung trocken, schwärmte Chablais plötzlich von einem «historischen Urteil». Während sich das BJ sowie die Bundesräte unmittelbar nach dem Entscheid des EGMR zurückhielten oder – im Fall der Bundespräsidentin (und Juristin) Viola Amherd – «überrascht» zeigten, wusste Chablais ganz genau, in welche Richtung es nun gehen soll. Die Schweiz, so wurde ihr Mann in Strassburg zitiert, müsse das Urteil ernst nehmen und jetzt handeln.
In der Zwischenzeit scheint nun auch klar, warum sich das Verhältnis des Schweizer Prozessbevollmächtigten zum Strassburger Gericht derart schnell verbessert hat. Chablais, der in seiner Position als Vertreter der Schweiz vor dem EGMR in der Lohnklasse 30 eingereiht ist (jährlich bis zu knapp 215 000 Franken), wechselt schon bald die Seiten, von der Anklagebank auf den Richterstuhl. Am Mittwoch – und somit nur gut eine Woche nach dem Schuldspruch – hat die parlamentarische Versammlung des Europarats Chablais zum Richter am EGMR gewählt. Dort soll er am 1. September Carlo Ranzoni ablösen und für die kommenden neun Jahre – also praktisch bis zu seiner Pension – im Amt bleiben.
Nominiert und gewählt wurde der schweizerisch-französische Doppelbürger als Vertreter von Liechtenstein. Er ist damit der fünfte EGMR-Richter des Fürstentums seit dessen Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention vor über vierzig Jahren. Sowohl sein Heimatkanton Freiburg wie auch sein Karriereförderer Liechtenstein taten am Donnerstag ihre Freude kund und gratulierten Chablais öffentlich. In Bundesbern hält man sich mit Glückwunschbekundungen derweil zurück. Hinter den Kulissen brodelt es.
Wie kann ein Spitzenbeamter die Interessen der angeklagten Schweiz vertreten, wenn er geistig womöglich längst auf der Seite seines künftigen Arbeitgebers, eines internationalen Gerichts, ist? Hat er alles in seiner Macht Stehende getan, um seine künftigen Richterkollegen von der «Unschuld» seines Gerade-noch-Arbeitgebers, der Eidgenossenschaft, zu überzeugen? Die Koinzidenzen lassen Zweifel offen. Das Fürstentum Liechtenstein hat die frei werdende Richterstelle bereits im März 2023 «ausgeschrieben», eine Woche vor der öffentlichen Anhörung der Klimaklage in Strassburg.
Neben Chablais haben sich noch acht weitere Kandidaten gemeldet. In seiner Bewerbung machte er deutlich, dass er bereits in seiner Zeit als Bundesrichter am Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen darauf geachtet habe, die Entscheide aus Strassburg in die tägliche Praxis des Schweizer Rechtssystems einfliessen zu lassen. Zuoberst auf seiner Publikationsliste figuriert ein Beitrag von ihm über «Menschenrechte und Klimaschutz». Sein Lebenslauf zieht sich geschmeidig an Stellen in der Bundesverwaltung, dem EGMR, dem Bundesgericht und den hiesigen Hochschulen entlang.
Neben Chablais schafften es schliesslich zwei weitere Kandidaten auf die Shortlist der Liechtensteiner Regierung. Sie wurden nur wenige Tage vor dem grossen Showdown im Klimaprozess von der zuständigen Kommission des Europarats angehört. Das Gremium sprach sich knapp für Catherine Reiter, eine weitere Kandidatin aus der Schweiz, aus. Wie es Chablais, der einst CVP-nahe Freiburger, schaffte, die grüne Ostschweizerin zu überholen, nachdem diese im ersten Wahlgang noch knapp vorne gelegen hatte, ist schwer zu rekonstruieren. Fakt ist: Seit mehr als einem Jahr bewirbt und bemüht sich Chablais sehr aktiv um den Richterposten in Strassburg, just in jener heissen Phase also, in der er eigentlich die Klimaklage der Seniorinnen hätte abwehren müssen.
Im Eidgenössischen Justizdepartement (EJPD) sieht man derweil keinen Interessenkonflikt des eigenen Repräsentanten. Die Kandidatur von Chablais habe auf die Position der Schweiz im Verfahren «Klimaseniorinnen gegen die Schweiz» keinen Einfluss gehabt, schreibt Ingrid Ryser, die Informationschefin des BJ. Der Vertreter der Schweiz sei dem Gesetz und der schweizerischen Rechtsprechung verpflichtet.
Jans und Rösti widersprechen sich öffentlich
Die Position der Schweiz erfolge zudem stets in Absprache mit den relevanten Stellen – in diesem Fall namentlich mit dem Bundesgericht und dem Bundesamt für Umwelt (Bafu). «Die professionelle Vertretung der Schweiz war zu jedem Zeitpunkt absolut gewährleistet.» Weiter habe Chablais, der sich bis zum Amtsantritt nicht zur Wahl äussern will, seinen Vorgesetzten und seinen Mitarbeitern die Kandidatur offengelegt.
Bundesrat Beat Jans sei nach seinem Amtsantritt im Januar entsprechend informiert worden. Der neue Justizminister zeigt sich ohnehin entzückt vom Urteil aus Strassburg. Es sei ein Entscheid nicht gegen, sondern für die Schweizer Bevölkerung, sagte der Justizminister am Donnerstag in der SRF-Sendung «Gredig direkt». «Er stärkt die Rechte der Menschen, die in der Schweiz leben.»
Damit widerspricht Jans diametral seinem Kollegen Albert Rösti, dem anderen Bundesrat, der vom Urteil unmittelbar betroffen ist. Der Entscheid aus Strassburg verkenne, dass in der Schweiz die Bevölkerung über die Klimapolitik entscheide, sagte der Umweltminister am Rande des Sechseläutens auf Tele Züri. Das Urteil aus Strassburg, so Rösti, sei deshalb «nicht vereinbar» mit der direkten Demokratie.