Mit Blumen statt Patronen – wie Portugal die Diktatur stürzte
Bis heute gilt die Nelkenrevolution als Musterbeispiel eines unblutigen Aufstands für die Freiheit. Dabei wäre die Sache um ein Haar schiefgegangen.
Mit einer Nelke in der Gewehrmündung: Das Movimento das Forças Armadas stürzte am 26. April 1974 das reaktionäre Regime.
In einem der Schaufenster der Rua António María Cardoso 22 im Lissaboner Stadtviertel Chiado sind heute Orangenpressen und Toaster mit Dolce&Gabbana-Design ausgestellt. Ein anderes Fenster zeigt Vitra-Möbel. Vor dem Gebäude rattert alle paar Minuten ein Trambahnwagen durch die Gasse, prall gefüllt mit Touristen, die den Flair des alten Lissabon suchen.
Nur eine kleine, im Boden verschraubte Metallplatte und eine unauffällige Inschrift auf der Fassade weisen darauf hin, dass in diesem Gebäude einst Portugals berüchtigte Geheimpolizei Pide residierte. Und dass vor 50 Jahren vor diesem Haus vier Menschen erschossen wurden. Es waren die einzigen Opfer des Umsturzes, der am 25. April 1974 die faschistische Diktatur in Portugal beendete und den Atlantikstaat in eine Demokratie verwandelte.
Am 1. Mai 1974 strömen die Menschen in Lissabon auf die Strassen und tun ihre Unterstützung kund für den am 25. April von der linksgerichteten Armeegruppe Movimento das Forcas Armadas geführten Militärputsch gegen die autoritäre Diktatur des Estado Novo in Portugal.
Angefangen hatte die Revolution an jenem Schicksalstag nur wenige Schritte vom Pide-Hauptquartier entfernt, in der Rua Capelo. Die dort ansässige Radiostation Renascença sendete kurz nach Mitternacht ein harmlos klingendes, fast kitschiges Lied. Das Städtchen Grândola wird darin besungen, «Grândola, braun gebrannte Stadt, Heimat der Brüderlichkeit. Das Volk ist es, das am meisten bestimmt in dir …».
Brüderlichkeit? Selbstbestimmung? Das war in den Augen des faschistischen Regimes eine gefährliche Botschaft. Tatsächlich hatte das Lied zehn Jahre zuvor der Antifaschist José Afonso geschrieben. In Portugal war es strikt verboten.
Viele Soldaten hatten die Sinnlosigkeit der Kolonialkriege satt
Dass «Grândola» im Radio erklang, war eine Ungeheuerlichkeit. Oppositionelle hatten es ins Studio geschmuggelt. In jener Nacht hatte es zudem einen konkreten Zweck: Für einen Geheimbund von rund 5000 Soldaten war es das Signal zum Aufbruch. Zwei Jahre zuvor hatte sich innerhalb der Streitkräfte eine Allianz unzufriedener Soldaten gebildet. Die Männer des Movimento das Forças Armadas hatten Grausamkeit und Sinnlosigkeit der Kolonialkriege satt, mit denen Portugal die Kontrolle über seine Überseegebiete zu behalten versuchte, von Angola über Moçambique bis zu den Kapverden.
Jubel auf den Strassen Lissabons: Das verhasste Regime unter Marcelo Caetano ist gestürzt.
Aus seiner Kavallerieschule im 80 Kilometer entfernten Santarém rückte auch ein gewisser Hauptmann Salgueiro Maia aus. Mit rund 200 teils noch unerfahrenen Soldaten, zehn Panzerwagen, zwölf Lastern und einem beachtlichen Arsenal an Waffen machte er sich auf den Weg Richtung Lissabon. Der Plan der Verschwörer: die Praça do Comércio einzunehmen, jene Freifläche im Zentrum der Stadt, an deren Südseite der Tejo in den Atlantik abbiegt. Zu den rührenden Anekdoten jenes Tages gehört, dass der 29-jährige Maia, auf dem Weg, die Geschichte Portugals neu zu schreiben, kurz vor der Hauptstadt an einer roten Ampel halten liess. Dem Regime wollten sich der Hauptmann und seine Leute nicht mehr unterwerfen. Mit der Strassenverkehrsordnung war das etwas anderes.
In den Morgenstunden trafen Konvois aus mehreren Teilen des Landes in der Hauptstadt ein. Unter ihnen waren auch regierungstreue Truppen, denen der beginnende Aufstand nicht verborgen geblieben war. Vielerorts war nicht klar, wer Revoluzzer war und wer Faschist.
«Wir wussten nicht, obs ein Staatsstreich von rechten Militärs war»
«Ich versteckte mich mit meiner Mitbewohnerin in meiner Wohnung», erinnert sich die Historikerin Irene Pimentel, die mehrere Bücher verfasst hat, unter anderem über die Geheimpolizei Pide. «Damals war ich Mitglied einer linken Untergrundorganisation», sagt Irene Pimentel. Im Jahr zuvor hatte Augusto Pinochet Chile in eine brutale Militärdiktatur verwandelt. «Wir fühlten, dass das hier auch drohen könnte. Ich verliess mein Versteck erst nachts, als klar war, was los war. Wir hatten ja noch keine Smartphones.»
«Nachts hatten wir noch Protestplakate geklebt»: Historikerin und Zeitzeugin Irene Flunser Pimentel.
An der Praça do Comércio kam es zu dem vielleicht entscheidenden Augenblick dieser eigenartigen Revolution. Ein Schütze eines Panzerwagens der Regierungstruppen verweigerte den Befehl seines Brigadegenerals, auf Maia und dessen Männer zu schiessen.
Der Einzige, der in diesem Moment schoss, war der Fotograf Eduardo Gageiro. Ihm gelang eines der berühmtesten Bilder jenes denkwürdigen Tages. Es zeigt Hauptmann Maia mit wie unter Schmerzen verzogenen Lippen.
Die Emotionen darüber erfassten das Volk. Zu Tausenden ging es auf die Strasse. Eine Kellnerin namens Celeste Caeiro brachte Blumen aus dem Restaurant, in dem sie arbeitete, und begann, diese an die Soldaten zu verteilen. Viele folgten, plötzlich waren überall Nelken, in den Gewehrläufen der Soldaten, auf der Kleidung der Zivilisten. Es wurde die Nelkenrevolution.
Dabei war die Sache längst nicht erledigt. Ein paar Gehminuten bergauf von der Praça do Comércio, oben im Viertel Chiado, hatte sich seit den Morgenstunden Marcelo Caetano, der amtierende Staatschef Portugals und Nachfolger des langjährigen Diktators António Salazar, im Hauptquartier der Nationalgarde verschanzt, der Guarda Nacional Republicana (GNR). Regimetreue Truppen bewachten das Gebäude am Largo do Carmo, einem idyllischen Platz, wo noch heute die GNR ihren Sitz hat.
Als Hauptmann Maia und seine Leute den Platz erreichten, hatten sich bereits Demonstranten versammelt. Es folgten Stunden extremer Anspannung, in denen sich Soldaten beider Seiten belauerten und Zivilisten die Soldaten mit Essen und Aufmunterungen motivierten. «Dass die Menschen dort waren, war von entscheidender Bedeutung», sagt die Historikerin Pimentel. Das habe ein Blutbad verhindert. Caetano weigerte sich, das Gebäude zu verlassen, auch als ihn die Geheimpolizei Pide auf der Rückseite mit einer Leiter ausschleusen wollte. Das fand er eines Regierungschefs nicht würdig.
Maia verlangt per Megafon mehrmals die Herausgabe des Staatschefs. Um 15.35 Uhr lässt Maia einige Salven auf das Gebäude schiessen, doch aus dem Hauptquartier kommt keine Reaktion. Kurz darauf verlässt ein Major der GNR das Hauptquartier und ergibt sich. Maia schickt den Mann zurück und gibt ein weiteres Ultimatum von zehn Minuten. Weil keine Reaktion kommt, lässt er erneut schiessen. Nur mit Glück trifft kein Querschläger die Menschen auf dem Platz.
Was die Aufständischen nicht wissen: Regierungschef Caetano lässt Kontakt zu António de Spínola aufnehmen. Spínola solle die Dinge in die Hand nehmen, «damit die Macht nicht auf die Strasse fällt». Gegen 16.15 meldet sich Spínola und erklärt sich einverstanden, das Amt des Regierungschefs zu übernehmen und die Demokratisierung einzuläuten. Die revoltierenden Soldaten, die nie mit der Absicht gehandelt haben, die Macht an sich zu reissen, stimmen zu.
Mann des Übergangs: General António Sebastião Ribeiro de Spínola besass auch bei der Opposition Portugals ein gewisses Ansehen. Seine Herrschaft 1974 währte nur kurz, sicherte aber den Systemwechsel zur Demokratie.
Um 17 Uhr betritt Hauptmann Maia schliesslich das Gebäude und zieht sich mit Marcelo Caetano zurück. Dass ein Hauptmann auf Augenhöhe mit dem Regierungschef verhandelt, gehört zu den bemerkenswerten Details dieser Revolution. Doch man einigt sich. Kurz vor 18 Uhr trifft General Spínola ein, und die Anspannung des Tages entlädt sich in einem Freudenfest. Spínola wird zur Projektionsfigur des demokratischen Wandels. Caetano wird unversehrt in einem gepanzerten Militärfahrzeug fortgebracht und ins Exil nach Madeira geschickt.
Schüsse vor dem Hauptquartier des Geheimdienstes
Als sich die Menschen nach dem Showdown auf dem Largo do Carmo aufmachen, auch die letzte Bastion des Faschismus zu stürmen, das Hauptquartier der verhassten Geheimpolizei, fliesst doch noch Blut. Verbarrikadierte Agenten schiessen auf die Menge und töten vier Demonstranten. «Die Namen der vier waren lange nicht bekannt, weil man das Narrativ der unblutigen Revolution erhalten wollte», sagt Irene Pimentel, inzwischen gibt es Dokumentarfilme über deren Leben.
Die Nelkenrevolution war das Ende einer 48 Jahre währenden Diktatur, die massgeblich von António Salazar geprägt gewesen war. Der «Estado Novo», der «Neue Staat», war dessen Projekt. Es war eine eigenwillige Form des Faschismus. Basierend auf Gott, Heimat, Autorität, Familie und Arbeit, prägte Salazar ein System, in dem die meisten Menschen kaum Bildung bekamen. Die Überseekolonien wurden mit unmenschlicher Gewalt im Griff gehalten.
Das wichtigste Werkzeug des faschistischen Machtapparates war die Geheimpolizei Pide (die in den letzten Jahren der Diktatur umbenannt worden war). Deren Agenten durften nach Gutdünken Menschen verhaften, monatelang einsperren und foltern.
General Spínola, der dann, am 25. April 1974, die Demokratisierung anstiess, warf nach vier Monaten das Handtuch. In seinen Augen gewannen linke Kräfte zu viel Macht. Tatsächlich folgten im März und im November 1975 Umsturzversuche von links wie rechts, bevor Portugal sich in eine stabile Demokratie verwandelte. In eine Demokratie, deren Wert fünf Jahrzehnte später viele Portugiesen nicht mehr zu schätzen wissen. Die Wahlbeteiligung lag bei den letzten Urnengängen bei unter 60 Prozent, und ein Sechstel der Menschen wählte die rechtspopulistische Partei Chega! («Es reicht!»).
«Kürzlich fing ein Taxifahrer an zu politisieren», erzählt Irene Pimentel. «Er sagte: ‹Die Freiheit der Politiker wird bald enden, jetzt kommt die Freiheit der Menschen.› Ich liess ihn halten und stieg aus. Es fühlte sich an wie im alten Regime.» Dennoch – in diesen Tagen wird das Jubiläum mit Büchern, Theaterstücken, Filmen, Konzerten und Ausstellungen gewürdigt.
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