„Warum sehen Sie keine gesetzliche Beratungspflicht für Minderjährige vor?“

Justizminister Marco Buschmann (FDP) plant einen Umbau des Sorgerechts und neue Unterhaltsregeln für Trennungskinder. Sorgen vor verschärftem Betreuungsstreit weist er zurück. Und er erklärt seine Absicht hinter dem Selbstbestimmungsgesetz für eine leichtere Änderung des Geschlechtseintrags.

„warum sehen sie keine gesetzliche beratungspflicht für minderjährige vor?“

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) Amin Akhtar/WELT

WELT: Herr Buschmann, Sie haben nach Ihrem Amtsantritt die größte familienrechtliche Reform der vergangenen Jahrzehnte angekündigt. Inzwischen liegen ihre Vorschläge zur Reform von Abstammungsrecht, Kindschaftsrecht, Unterhaltsrecht und Namensrecht vor. Worin liegt die historische Dimension?

Marco Buschmann: Wir haben im Familienrecht seit langer Zeit einen großen Reformstau. Denn die Gesellschaft hat sich verändert, das Recht aber nicht. Die klassische Ehe und die Familie aus Vater, Mutter und Kindern sind weiterhin ein wunderbarer Weg zum Glück. Daneben gibt es heute aber auch viele andere Formen des Zusammenlebens: Paare ohne Trauschein, Trennungsfamilien, Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche Partnerschaften – auch mit Kindern. Für sie bietet das Recht noch keinen passenden Rahmen.

Wir wollen das Familienrecht auf die Höhe der Zeit bringen. Nicht um der Gesellschaft etwas aufzudrängen, sondern um das zu tun, was viele Experten seit Langem fordern: vernünftige und faire Regeln für Lebensentwürfe schaffen, die längst Realität sind.

WELT: Wenn eine Familie auseinanderbricht und minderjährige Trennungskinder zurückbleiben, ist das zunächst mal eine private Tragödie. Welche Verpflichtung ergibt sich für den Staat, hier steuernd einzugreifen?

Buschmann: Es entspricht grundsätzlich dem Kindeswohl, Umgang mit beiden Elternteilen zu haben. Wir greifen hier natürlich auch nicht steuernd oder paternalistisch ein. Aber wenn die Eltern sich nicht zum Wohle des Kindes einigen können, müssen wir für solche emotionalen und konfliktbelasteten Situationen im Interesse des Kindeswohls für die entsprechenden rechtlichen Instrumente sorgen. Das ist ein Auftrag des Grundgesetzes.

WELT: Sie wollen vor allem das Wechselmodell stärker befördern, also die wechselseitige Betreuung durch beide Eltern nach der Trennung. Möglich ist das schon heute, was kann eine zusätzliche gesetzliche Verankerung hier bewirken?

Buschmann: Die ausdrückliche Regelung des Wechselmodells kann die Sichtbarkeit und Akzeptanz dieser Betreuungsform fördern. Außerdem: Viele kennen nur das symmetrische Wechselmodell, in dem das Kind von beiden Elternteilen exakt hälftig betreut wird. Diese Gestaltung ist selten und auch besonders anspruchsvoll. Es gibt aber auch das sogenannte asymmetrische Wechselmodell, in dem ein Partner zwar weniger betreut, aber dennoch einen substanziellen Anteil übernimmt – etwa 30 oder 40 Prozent. Auch diese Möglichkeit soll als gleichberechtigte Alternative im Gesetz sichtbar gemacht werden. Denn auch dieses Modell kann im Interesse des Kindeswohls sein.

Generell gilt: Das Wechselmodell setzt immer voraus, dass die ehemaligen Partner vernünftig miteinander umgehen und ihre Konflikte nicht auf dem Rücken der Kinder austragen. Auch diese Voraussetzungen sollen Eingang ins Gesetz finden.

WELT: Relevant ist diese Reform vor allem im Zusammenspiel mit der Unterhaltsreform. Sie soll Unterhaltspflichtige, die sich zeitlich intensiver um ihre Kinder kümmern, stufenweise von Unterhaltszahlungen entlasten.

Buschmann: Heute haben oft beide Eltern das starke Bedürfnis, sich in der Erziehung der Kinder zu engagieren – auch wenn die Partnerschaft auseinandergegangen ist. Für das Kindeswohl ist das meistens vorteilhaft. Das Unterhaltsrecht trägt dem leider noch nicht Rechnung. Es geht immer noch von der Formel aus: Einer bezahlt, einer betreut. Bei den Unterhaltszahlungen macht es oft keinen Unterschied, ob ein Elternteil einen substanziellen Anteil an der Erziehung leistet oder sich nur selten einbringt. Das ist ungerecht. Denn wer sich in der Erziehung seines Kindes einbringt, übernimmt natürlich auch mehr Kosten.

Wir wollen diese Ungerechtigkeit beseitigen. Wir haben dazu eine Formel entwickelt, die die jeweiligen Betreuungsanteile, das Einkommen und die Fixkosten berücksichtigt und gleichzeitig sicherstellt, dass das Kind ausreichend versorgt ist. Damit werden wir nicht nur mehr Fairness schaffen – sondern auch mehr Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit. Es wird künftig viel einfacher sein, den Unterhalt zu berechnen. Das ist ein guter Weg, um Streit frühzeitig beizulegen.

WELT: Interessenverbände befürchten, dass zerstrittene Paare sich jetzt noch mehr um jede Stunde mehr oder weniger Betreuung streiten, weil sie finanzielle Folgen fürchten. Wie lässt sich dieses Dilemma auflösen?

Buschmann: Gutes Recht begegnet Konflikten dadurch, dass es transparent und verständlich ist. Das wollen wir leisten. Ein Streit um einzelne Stunden wird es nach unserem Modell gerade nicht geben – denn auf eine Stunde mehr oder weniger wird es nicht ankommen. Das Modell arbeitet mit Schwellenwerten und Pauschalen. Gerade auch dazu haben wir viele positive Rückmeldungen bekommen.

WELT: Bei häuslicher Gewalt soll ein gemeinsames Sorgerecht „regelmäßig nicht in Betracht kommen“ heißt es in Ihren Vorschlägen. Wie groß ist hier der Handlungsbedarf?

Buschmann: Völlig klar ist: Ein Elternteil, der Gewalt gegen sein Kind ausübt, kann für dieses Kind nicht die Verantwortung bekommen. Diese Fälle sind eindeutig. Wir wollen jetzt klarstellen, dass auch Partnerschaftsgewalt in Sorge- und Umgangsverfahren berücksichtigt werden muss. Wenn es um den Umgang geht, also den tatsächlichen Kontakt zum Kind, darf das Umgangsrecht nicht zu einer konkreten Gefährdung von Leib und Leben eines Elternteils führen.

WELT: Viele Kinder wachsen heute in Patchwork- und Stieffamilien auf, wenn ihre Eltern nach der Trennung neue Partner finden. Sie sollen über das sogenannte kleine Sorgerecht eine rechtlich gesicherte Beziehung zu den Kindern bekommen. Warum ist das wichtig?

Buschmann: Für alle Eltern kann das kleine Sorgerecht nützlich sein. Man kann es zum Beispiel Großeltern oder Nachbarn einräumen, die immer mal wieder bei der Betreuung einspringen, das Kind von der Kita abholen oder mit ihm zum Arzt gehen. Viele praktizieren das heute schon so. Denn Erziehung ist viel Arbeit, und Hilfe von vertrauenswürdigen Menschen ist vielen Eltern willkommen. Wir schaffen jetzt einen rechtssicheren Rahmen dafür. Interessant ist das kleine Sorgerecht auch für Patchwork- und Regenbogenfamilien, wo die Partner der leiblichen und rechtlichen Eltern dauerhaft Verantwortung für Kinder übernehmen sollen.

WELT: Ist das der erste Schritt zur Mehrelternschaft?

Buschmann: Nein. Die Strukturprinzipien des Abstammungsrechts bleiben unangetastet: Kinder haben immer nur zwei rechtliche Eltern. Die Frau, die das Kind gebiert, ist immer die rechtliche Mutter. Und der rechtliche Vater bleibt regelmäßig der Mann, der das Kind zeugt.

WELT: In einem Fall weichen Sie aber von diesem Prinzip ab, nämlich bei der lesbischen Mitmutterschaft.

Buschmann: In dieser Konstellation wollen wir schlicht die Benachteiligung gleichgeschlechtlicher Paare und ihrer Kinder abbauen. In einer Ehe zwischen Frau und Mann wird immer der Ehemann rechtlicher Vater eines in die Ehe geborenen Kindes – auch, wenn er nicht der leibliche Vater ist. Entsprechendes wollen wir gleichgeschlechtlichen Frauenpaaren ermöglichen. Sie müssen bisher einen aufwendigen Adoptionsprozess durchlaufen.

Wenn der Mann, der seinen Samen spendet, damit in einer Ehe zwei Frauen ein Kind gezeugt wird, selbst rechtlicher Vater des Kindes sein möchte, soll auch das möglich sein: über eine vor der Zeugung geschlossene Elternschaftsvereinbarung. Wir stärken hier die Autonomie der Menschen. Dagegen spricht auch nichts aus Sicht des Kindeswohls. Denn wir wissen, dass Kinder in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften genauso behütet aufwachsen wie in verschiedengeschlechtlichen.

WELT: Große Widerstände gibt es gegen ein anderes Vorhaben, an dem Sie beteiligt sind, dem Selbstbestimmungsgesetz für eine leichtere Änderung des Geschlechtseintrags. Haben Sie Verständnis dafür, dass der Gesetzesplan so viele Menschen verstört?

Buschmann: Wir leben in einer liberalen Demokratie. Jeder Bürger hat das Grundrecht der Meinungsfreiheit und soll Kritik üben dürfen. Bei unserem Vorhaben geht es um ein anderes Grundrecht – das der Achtung der geschlechtlichen Identität, das das Bundesverfassungsgericht anerkannt hat. Der Staat soll transgeschlechtliche Personen nicht länger wie Kranke behandeln. Zugleich nimmt unser Gesetzentwurf die Interessen der gesamten Gesellschaft in den Blick. Die Verbesserung für die Betroffenen wird nicht zulasten anderer gehen.

WELT: Warum sehen Sie keine gesetzliche Beratungspflicht für Minderjährige vor?

Buschmann: Es geht bei dem Gesetz nicht um geschlechtsangleichende Operationen oder andere medizinische Maßnahmen. Es geht nur um die Frage des Geschlechtseintrags im Personenstandsregister. Für junge Menschen, die diesen Eintrag ändern lassen wollen, stehen heute schon viele freiwillige Beratungsangebote bereit, wenn sie dies wollen. Die Pathologisierung von Transpersonen, diese Stigmatisierung als etwas Unnatürliches oder Krankes durch die Gesellschaft soll gerade enden.

WELT: Welchen Anteil haben solche gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen am derzeitigen Umfragetief der Ampel-Parteien?

Buschmann: Diese Frage mag für Polit-Strategen spannend sein. Meine Sorge gilt anderen Fragen: Warum entwickeln gesellschaftspolitische Debatten eine solche emotionale Hitze und werden teils in unerbittlicher Schärfe geführt? Unsere Vorschläge sind im internationalen Vergleich nicht ungewöhnlich. Wir nehmen auch niemandem etwas weg, wenn wir Benachteiligungen abbauen. Trotzdem war der generelle Debattenton zuletzt teilweise schrill. Ich mag die kontroverse politische Debatte, bei der mit Argumenten scharf gerungen wird. Natürlich muss man nicht mit allem einverstanden sein – bloß nicht! Aber ich würde mir für unsere Debattenkultur wieder etwas mehr Sachlichkeit wünschen.

WELT: Sind Sie zuversichtlich, die Kritiker noch überzeugen zu können?

Buschmann: Es gibt von dem großen Fritz Stern ein großartiges Buch: „Kulturpessimismus als politische Gefahr“. Darin entwickelt Stern eine These: Wenn Gesellschaften zu der Überzeugung gelangen, dass alles den Bach heruntergeht und man nichts mehr zu verlieren hat, dann werden sie anfällig für totalitäre Vorstellungen. Das kann niemand wollen. Daher glaube ich, dass wir öfter auch mal einen Moment gedanklich einen Schritt zurücktreten und uns eines klarmachen sollten: Wir feiern in diesem Jahr 75 Jahre Grundgesetz. Mit den Institutionen des Grundgesetzes habe wir als Land bislang alle Herausforderungen bewältigt – und zwar besser als in allen totalitären Staaten dieser Welt. Das wird uns auch in Zukunft gelingen.

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