Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit – und Olaf Scholz ärgert sich, wenn «manche abschätzig vom Freizeitpark Deutschland reden»
Die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Yasmin Fahimi, spricht bei der Hauptkundgebung zum 1. Mai in Hannover. Julian Stratenschulte / DPA
Der deutschen Regierung droht der nächste Streit. Pünktlich zum Tag der Arbeit am Mittwoch erteilte Bundeskanzler Olaf Scholz den Überlegungen des Koalitionspartners FDP, das Renteneintrittsalter anzuheben, eine Abfuhr. Er nannte es «eine Frage des Anstands», denen, die schon lange gearbeitet hätten, nicht «den verdienten Ruhestand streitig zu machen». Ausserdem ärgere es ihn, wenn «manche abschätzig vom Freizeitpark Deutschland» redeten. Das Gegenteil sei der Fall. Die Deutschen hätten noch nie so viele Stunden gearbeitet wie im Vorjahr, sagte Scholz in einer Videoansprache.
Mit seiner Äusserung zur Rente wandte sich der Kanzler gegen den Finanzminister und Vorsitzenden der FDP, Christian Lindner. Die Liberalen hatten am Wochenende in Berlin einen 12-Punkte-Plan für eine «Wirtschaftswende» in Deutschland beschlossen. Darin fordern sie deutliche Einschnitte bei den Sozialausgaben, um die Wirtschaft zu beleben. Die Rente mit 63, ein Kernprojekt der Sozialdemokraten, könne sich Deutschland aufgrund des Fachkräftemangels nicht mehr leisten, heisst es darin. Bis anhin können Beschäftigte schon mit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen, wenn sie 45 Jahre lang in die staatliche Rentenversicherung eingezahlt haben.
Während die FDP der Ansicht ist, dass die Deutschen selbst entscheiden sollten, wie lange sie arbeiten und wann sie in Rente gehen, plädiert Scholz für eine gesetzliche Altersgrenze. Auch die Jüngeren, die am Anfang ihres Berufslebens stünden, hätten das Recht, zu wissen, wie lange sie arbeiten müssten, sagte er und lobte zugleich die derzeit hohen Tarifabschlüsse. Sie sorgten auch dafür, «dass viele Beschäftigte nun endlich wieder mehr Geld in der Tasche haben». Allerdings, sagte Scholz weiter, gebe es immer noch zu viele Menschen, die hart arbeiteten für zu wenig Geld.
Was Scholz nicht sagt
In seiner Videobotschaft lässt es Scholz offen, gegen wen konkret sich sein Ärger über die Äusserungen zum «Freizeitpark Deutschland» richtet. Die Metapher hatte 1993 sein Vorgänger Helmut Kohl benutzt. Mit Blick auf durchschnittlich sechs Ferienwochen, zwölf Feiertage und eine wöchentliche Arbeitszeit von 37,5 Stunden hatte der damalige Bundeskanzler gesagt, man könne Deutschlands Zukunft nicht dadurch sichern, «dass wir unser Land als kollektiven Freizeitpark organisieren».
Interessant ist, was Scholz zugleich nicht sagte. Er liess das Wort «wiedervereinigt» aus, als er davon sprach, dass in Deutschland noch nie so viel gearbeitet worden sei wie im Vorjahr. In der Zeit vor dem Mauerfall dürfte in den damals beiden deutschen Staaten weit mehr gearbeitet worden sein als heute.
Ausgelassen hat der Kanzler auch, dass zugleich die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Beschäftigten kontinuierlich gesunken ist. Das geht aus einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von Mitte April hervor. Danach ist das Gesamtarbeitsvolumen vor allem gestiegen, weil immer mehr Frauen erwerbstätig sind. Da zugleich aber viele Deutsche in Teilzeit arbeiteten, liege die durchschnittliche Arbeitszeit aller Beschäftigten heute nur noch bei 34,7 Wochenstunden.
In Anbetracht dessen mutete das Motto der vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) organisierten Demonstrationen am Tag der Arbeit fragwürdig an. «Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit» schien die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi denn auch eher als Werbebotschaft für potenzielle neue Gewerkschaftsmitglieder zu verstehen und weniger als ernsthafte politische Forderung. Seit Jahren verliert der DGB tendenziell immer mehr Mitglieder. Vor 10 Jahren waren es noch 6,1 Millionen, vor 20 Jahren gar 7,4 Millionen. Im Jahr 2023 lag die Zahl bei 5,7 Millionen.
Der DGB droht mit «tariflichem Häuserkampf»
Auf der zentralen Kundgebung in Hannover sagte Fahimi, von Januar 2014 bis Dezember 2015 Generalsekretärin der SPD, gute Bezahlung und faire Teilhabe am Wohlstand, sichere Arbeitsplätze, ein gutes Leben und die Gewissheit, im Alter über die Runden zu kommen, könne es nur mit Gewerkschaften geben. Vor mehreren tausend Demonstranten kritisierte sie die «Tarifflucht der Arbeitgeber», die einen jährlichen «volkswirtschaftlichen Schaden von 130 Milliarden Euro» anrichte. «Wenn ihr Sozialpartnerschaft wollt, dann treibt uns nicht in den tariflichen Häuserkampf. Dann beendet die Tarifflucht», sagte sie und erneuerte ihre Forderung nach einem Bundestariftreuegesetz.
SPD, Grüne und FDP hatten sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt, ein solches Gesetz auf den Weg zu bringen. Es soll festschreiben, dass Aufträge des Bundes nur noch an Unternehmen gehen, die Tarifverträge anwenden. Den Sozialversicherungen und dem Fiskus entgehen gemäss dem DGB jedes Jahr Milliardeneinnahmen, weil sich Unternehmen aus ihrer Verantwortung für gute Löhne stehlen und Tarifflucht begehen würden.
Tatsächlich lässt sich in Deutschland seit Jahren ein Rückgang der Tarifbindung beobachten. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts ist die Reichweite von Tarifverträgen in Westdeutschland (früheres Bundesgebiet) zwischen 1998 und 2022 von 75 auf 52 Prozent gesunken. In Ostdeutschland galten 1998 für 63 Prozent der Beschäftigten Branchen- oder Firmentarifverträge. Im Jahr 2022 waren es nur noch 45 Prozent.
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger lehnte die Forderungen des DGB am Mittwoch strikt ab. «Wir brauchen mehr und nicht weniger Arbeit», liess er verlauten. Deutschland diskutiere zu viel über die Bedingungen von Nicht-Arbeit – und zu wenig über den Wert von Arbeit. Im Mittelpunkt müsse die Frage stehen, wie der Standort Deutschland wieder attraktiv gemacht werden könne? Dazu gehöre auch, dass die Bürger mehr und länger arbeiten müssten.
Krawalle in Stuttgart
Der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, Frank Werneke, ebenfalls ein SPD-Mitglied, forderte, endlich die Schuldenbremse auszusetzen oder grundlegend zu reformieren. Dies sei notwendig, «weil Sozial- und Infrastrukturpolitik nicht länger gegeneinander ausgespielt werden» dürften. Dem widersetzen sich allerdings die Liberalen in der Bundesregierung, während SPD und Grüne dafür sind.
Insgesamt hat es nach DGB-Angaben mehrere hundert Kundgebungen überall in Deutschland gegeben. Dabei warnten DGB-Funktionäre davor, bei den kommenden Europa- und Landtagswahlen für die AfD zu stimmen. «Wer als Arbeitnehmer AfD wählt, wählt seine eigenen Rechte ab», sagte etwa das Vorstandsmitglied Anja Piel bei einer Demonstration in Halle an der Saale. Rechtsextreme Parteien wie die AfD hätten keine Antworten. Sie betrieben eine Politik, die weit weg von den Rechten der Arbeitnehmer führe. Der DGB beschreibt sich selbst als parteipolitisch unabhängig, aber nicht politisch neutral.
Für den Mittwochabend waren in einigen deutschen Städten weitere Demonstrationen angekündigt. Im Berliner Stadtteil Kreuzberg zum Beispiel hatten sich mehrere tausend Teilnehmer zur «Revolutionären
1.-Mai-Kundgebung» angesagt. Die Polizei hatte angekündigt, mit mehr als 5000 Einsatzkräften vor Ort zu sein und vor allem auch gegen antisemitische, israelfeindliche Rufe und Plakate vorzugehen. In der Vergangenheit war es bei Kundgebungen wie in Berlin-Kreuzberg wiederholt zu Ausschreitungen gekommen.
Die Polizei in Stuttgart hatte zuvor bereits eine Kundgebung von gewalttätigen linken Aktivisten und Autonomen aufgelöst und dabei Pfefferspray und Schlagstöcke eingesetzt. Es sei zu massiven Straftaten und Verstössen gegen Demonstrationsauflagen durch Teilnehmer an der Kundgebung gekommen, hiess es.