Maßregelvollzug in Berlin: Chefarzt berichtet von Patienten, die auf dem Fußboden schlafen müssen
Im Maßregelvollzug sollen psychisch kranke Straftäter therapiert werden. Doch in Berlin waren die Zustände wohl so desolat, dass Chefarzt Sven Reiners kündigte. In einem Interview offenbarte er nun Details.
Maßregelvollzug in Berlin: Chefarzt berichtet von Patienten, die auf dem Fußboden schlafen müssen
Bereits am Freitag war bekannt geworden, dass der Chefarzt des Berliner Maßregelvollzugs, Sven Reiners, gekündigt hat. Laut eigenen Angaben hat er seine Tätigkeit »aus Gewissensgründen« aufgegeben. Unter den Bedingungen, wie sie im Maßregelvollzug seit Jahren herrschten, sei eine fachlich angemessene Arbeit nicht möglich, sagte er dem »Tagesspiegel«.
In den Maßregelvollzug kommen Straftäter, wenn ein Gericht sie als psychisch auffällig oder suchtkrank einstuft. Sie verbringen dort teils mehrere Jahre. In Berlin ist der Maßregelvollzug seit Jahren überlastet und überbelegt. Wegen des Platzmangels kamen laut Berliner Staatsanwaltschaft im vergangenen Jahr 20 Straftäter zunächst frei, in diesem Jahr kamen weitere Fälle dazu. Beschäftigte und Verbände hatten zuletzt wiederholt Alarm geschlagen.
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Nun offenbarte Reiners weitere Details aus dem Klinikalltag. In einem Interview mit »Zeit Online« sagte er, es gebe kleine Räume, die als Fünfbettzimmer genutzt würden. »Teils müssen Patienten auf dem Fußboden schlafen«, so Reiners. »Wir stopfen die Patienten irgendwo hin.« Die räumliche Enge führe unter anderem dazu, dass mehr Psychopharmaka verabreicht werden müssten, als es unter besseren Bedingungen nötig sei.
Besonders im Hinblick auf junge Ärztinnen und Ärzte habe er die Zustände nicht mehr ertragen können. »Ich konnte zum Schluss nicht mehr in diese Augen sehen, die erwartungsvoll sind, die leuchten. Weil ich genau weiß, was sie in diesem Haus erwartet.« Weiter sprach Reiners von »ausgebranntem Pflegepersonal« und »riesigen, dunklen, archaischen Stationen, die nichts mit einer zeitgemäßen psychiatrisch-forensischen Versorgung zu tun haben«.
Gewalt gegen Personal
Durch die personelle Unterbesetzung und die schlechten räumlichen Bedingungen könnten notwendige Therapien nicht in vollem Umfang angeboten werden. »Unter besseren Bedingungen könnten wir viel schneller dazu kommen, dass Menschen weniger gefährlich sind und gelockert werden könnten«, sagte Reiners. Unter den derzeitigen Umständen geschehe jedoch das Gegenteil, so nehme auch Gewalt gegen das Personal zu: »Wir hatten dieses Jahr so viele Übergriffe wie noch nie in einem vergleichbaren Zeitraum.«
Auch das Risiko für Ausbruchsversuche steige durch die fragwürdigen Zustände. An Heiligabend gelang es zwei Patienten, aus der Klinik auszubrechen, nachdem sie zwei Krankenschwestern verletzt hatten.
Insgesamt zeigte sich Sven Reiners auch in Bezug auf die zukünftige Entwicklung konsterniert. Er habe den Eindruck, dass man sich nicht wirklich mit dem Problem beschäftigen wolle. »Und ich sehe keinerlei Perspektive«, sagte er im Interview mit »Zeit Online«.
Die Berliner Gesundheitsverwaltung hat die überraschende Kündigung des ärztlichen Leiters in einer Mitteilung bereits am Samstag als »außerordentlich bedauerlich« bezeichnet. Die von dem Arzt als Begründung für seinen Schritt genannten personellen Probleme und fehlenden räumlichen Kapazitäten seien der Senatsgesundheitsverwaltung sehr wohl bewusst, hieß es in einer Mitteilung. Die geäußerten Sorgen würden sehr ernst genommen.
»Die Senatsgesundheitsverwaltung arbeitet intensiv daran, die angespannte Situation aufzulösen und Versäumnisse vergangener Jahre nachzuholen«, hieß es in der Mitteilung. Das sei im Interesse der Beschäftigten, Patienten und nicht zuletzt auch im Interesse der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger von Berlin. Mit »höchster Priorität« werde derzeit an der Sanierung von Gebäuden am Standort in Reinickendorf auf dem Gelände der ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik gearbeitet.
Nach früheren Angaben der Gesundheitsverwaltung waren Stand Ende Januar von rund 670 Stellen im Maßregelvollzug 158 nicht besetzt.