Mit Roberto Saviano unterwegs auf den Spuren des Mafiajägers Falcone

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Der italienische Schriftsteller und Journalist Roberto Saviano am Donnerstag den 29. Februar in einem Auto seiner Eskorte in Rom

Man weiß von der Cosa Nostra, dass sie Gegner unter Polizeischutz sehr oft nicht umgebracht hat, weil sie dafür eine Schießerei hätte riskieren müssen. Und Tote aus dem eigenen Lager hasst die Organisation, vor allem wegen der Symbolik. Der Mafiajäger Giovanni Falcone wurde deshalb im Mai 1992 zusammen mit seiner Frau Francesca Morvillo und seinen drei Leibwächtern einfach auf der A 29 nahe Capaci in die Luft gesprengt. Was davor geschah und wie es ist, ständig in Gefahr zu sein und eskortiert zu werden, davon erzählt jetzt der Roman „Falcone“. Geschrieben hat ihn Roberto Saviano, der selbst seit mehr als 15 Jahren unter Polizeischutz lebt. An diesem regnerischen Vormittag in Rom müssten er und seine Eskorte eigentlich schon eingetroffen sein.

Die Nachricht mit der Beschreibung des Treffpunkts kam ein paar Tage zuvor, mit einem Foto, auf dem ein rotes Kreuz den genauen Haltepunkt markiert: Da ist der Palazzo, da die Bar, da die Reihe geparkter Motorroller – und genau dort, wo die Eskorte mittlerweile vorgefahren sein sollte, steht seit zehn Minuten ein Lieferwagen. Wahrscheinlich drehen die Carabinieri deshalb noch eine Runde. Ein Mann kommt angeschlendert, das Telefon am Ohr. Er steigt ein, redet weiter, fährt los. Einen Augenblick später biegen zwei gepanzerte Autos mit getönten Scheiben in die Straße ein. Sie sehen aus wie Zwillinge. Auch die Carabinieri im Heck haben die gleiche Bauweise: Beide sind groß und breit.

Einer steigt aus, nickt und sagt: „Er sitzt in dem anderen.“ Er geht vorweg, zum hinteren Auto, öffnet die Fahrgasttür so, dass er mit seinem Körper den Innenraum abschirmt, und bedeutet der Journalistin, einzusteigen. Die Tür klappt zu. „Ciao, wie geht’s?“, sagt Roberto Saviano und grüßt mit Handschlag. Er trägt einen blauen Pullover, Jeans und sehr neu aussehende Doc Martens. Neben ihm auf dem mittleren Sitz liegt ein zerknautschter Rucksack. Man meint, seiner Haut anzusehen, wie viel Zeit er in geschlossenen Räumen verbringt. Vielleicht täuscht das aber auch, die Scheiben lassen nur gedämpftes Licht ins Auto. Niemand soll von außen erkennen können, wer darin sitzt.

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Die Richter Giovanni Falcone (l) und Paolo Borsellino (undatierte Aufnahme). Sie waren eng befreundet, beide wurde bei Bombenanschlägen der Mafia getötet

Kollegen, die nach und nach ermordet wurden

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Die Autobahn bei Capaci nach dem Anschlag vom 23. Mai 1992. Dabei getötet wurden der Richter Giovanni Falcone, seine Frau Francesca Morvillo und die drei Leibwächter Vito Schifani, Rocco Dicillo und Antonio Montinaro

Roberto Saviano ist Schriftsteller und Journalist, ein scharfer Kritiker von Italiens rechter Regierung und die wichtigste und lauteste Stimme des Landes im Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Für manche ist er der bedeutendste Mafia-Aufklärer weltweit. Er wurde 1979 in Neapel geboren, war 12, als er seinen ersten Mafiamord sah, und 13, als das Attentat auf Richter Falcone Italien für immer veränderte. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes gingen in den Tagen danach die Menschen auf die Straße, um gegen die Cosa Nostra zu demons­trieren.

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Manchmal schlich er sich davon und ging ins Kino: Giovanni Falcone im Oktober 1986 mit seinen Leibwächtern

Bis heute wird am 23. Mai, dem Datum des Attentats von Capaci, Falcones gedacht. Er ist eine Art Nationalheiliger. Aber was war er für ein Mensch? Saviano zeichnet das Bild eines Mannes, der sich nicht dem Opfer und auch nicht dem Verzicht verschrieben hatte, obwohl er viel für den Kampf gegen die Mafia aufgab. Savianos Falcone ist ein Mann voller Leben, er liebte seine Frau, das Meer – und erlebte aufgrund seiner Arbeit große Einsamkeit, Angst und Isolation. Auch diese Erfahrung kennt Saviano. Es steckt sehr viel Persönliches von ihm in dem Roman.

Die Wagen fahren los, der mit Saviano auf der Rückbank übernimmt die Führung. Sein Zwilling folgt, kein anderes Auto soll zwischen sie einscheren können. Es geht kreuz und quer durch die Ewige Stadt, die jetzt wie verstummt wirkt, weil die Panzerung den Schall fast schluckt. Das Ziel sind Orte, die für Falcone wichtig waren. Manchmal beschleunigen die beiden Autos, ohne dass man sagen könnte, warum. Saviano deutet aus dem Fenster, da ist der Palazzo dei Marescialli, Sitz von Italiens Oberstem Gerichtsrat. An der Fassade sind steinerne Soldatenköpfe angebracht. „Ihr Antlitz wurde nach jenem des Duce modelliert“, sagt Saviano und hebt die Schultern, als wolle er sagen: Italien eben. Für Falcone sei das Gebäude ein Ort des Schmerzes gewesen. „Er hatte für das Amt eines Ratsherrn kandidiert, wurde aber, wie eigentlich immer in seiner Karriere, übergangen, obwohl er bestens geeignet gewesen wäre. In Italien werden Führungsposten nie dem Kompetentesten gegeben. Er könnte ja auf die Idee kommen, einen ehrlichen Menschen einzustellen.“

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Er träumt von einem normalen Leben: Roberto Saviano im Park der Villa Torlonia in Rom

Saviano erzählt von Falcones Zusammenarbeit mit dem Mafia-Aussteiger Buscetta, vom Maxiprozess, von Falcones Freundschaft mit Kollegen, die nach und nach ermordet wurden, von der Isolation des Richters, dem Neid, den Medien, die ihm Karrierismus vorwarfen, und von einer Justiz, die seiner Arbeit feindlich gegenüberstand. Er nennt Zahlen, Daten, weitere Ereignisse, sodass aus dem gepanzerten Auto eine Zeitkapsel zu werden scheint, die sich immer tiefer in Italiens Vergangenheit bohrt, während vor den Fenstern Bilder der römischen Gegenwart vorbeiziehen.

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Der Regisseur Marco Bellochio erzählt in seinem Film „Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“, wie Richter Giovanni Falcone (Fausto Russi Alesi, l.) mit Hilfe des Mafia-Aussteigers Tommaso Buscetta (Pierfrancesco Favino, r.) die Anklage im berühmten Maxiprozess schuf.

Falcone hatte Palermo, wo ihm die Cosa Nostra nach dem Leben trachtete, an einem bestimmten Punkt seiner Karriere verlassen, um in Rom Sicherheit und etwas Normalität zu finden. Toto Riina, das Oberhaupt der Corleonesi, genannt „Bestie“, schickte seine Leute hinterher, unter ihnen war auch der junge Messina Denaro, der spätere „Boss der Bosse“, der Anfang 2023, nach dreißig Jahren im Untergrund und wahrscheinlich Dutzenden von Morden, von der Polizei gefasst wurde. Messina spähte Falcone aus. Er war wieder auf den Schutz durch seine Leibwächter angewiesen. „Wenn er meinte, nicht mehr atmen zu können, schlich er sich davon und ging ins Kino Adriano. Ein Mitglied der Cosa Nostra folgte ihm einmal, es saß während der gesamten Vorstellung hinter ihm. Aber Riina hatte da schon für Sizilien als Anschlagsort optiert. Er wollte einen Ort mit Symbolkraft.“

Das Klickern des Blinkers holt die Rückbank zurück in die Gegenwart. Die Carabinieri haben die Route so gewählt, dass die Eskorte nie in stockenden Verkehr gerät. Aus den Boxen neben ihren Sitzen dringt leise Achtzigerjahre-Disco-Pop. Die Songs sind sicherlich ihr kleinster gemeinsamer musikalischer Nenner, aber sie sind auch als höfliche Geste zu verstehen, wenigstens so zu tun, als hörten sie nicht das Gespräch auf der Rückbank, als hätte Saviano einen eigenen akustischen Raum.

Die Verkörperung einer persönlichen Tragödie

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Falcone und Borsellino sind bis heute Symbolfiguren im Kampf gegen die Mafia: Eine Frau hält das Bild der beiden bei einer Demonstration nach der Verhaftung von Messina Denaro Anfang 2023 in die Höhe

Die Männer wissen, dass sie für ihn die Verkörperung seiner persönlichen Tragödie sind, die 2006 begann, mit der Veröffentlichung seines Debüts „Gomorrha“, einer literarischen Reportage über die Praktiken und Vernetzungen der neapolitanischen Camorra mit Politik und Wirtschaft. Das Buch wurde, völlig unerwartet, ein Bestseller. Der Verlag druckte fast über Monate hinweg alle 14 Tage eine neue Auflage. Es wurde in mehr als 50 Sprachen übersetzt.

Redet man in Neapel mit Leuten, die Saviano schon vorher kannten, erinnern sie sich an einen berührend schüchtern wirkenden jungen Mann, der hervorragend Klavier spielt. Am Goethe-Institut machte er einen Deutschkurs. Er studierte Philosophie, ging als Erasmus-Student nach Düsseldorf, kam aber bald wieder zurück. Er wurde Journalist, schrieb sein Buch und erschien mit spiralgebundenem Exemplar zu den Lesungen. Bei anschließenden Essen in großer Runde nahm er lieber am toten Ende des Tisches Platz. Für sein hervorragend recherchiertes Debüt wird ihm bis heute in den Kreisen der neapolitanischen Justiz Anerkennung entgegengebracht. Saviano hatte in dem Buch, wie auch schon andere Autoren vor ihm, Namen von Cosa Nostra-Mitgliedern genannt. Wegen der großen Aufmerksamkeit, die es bekam, stieß das der Mafia jedoch übel auf.

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Roberto Savione: „Falcone“. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Hanser Verlag, 544 Seiten, 32 Euro

Das Todesurteil gegen Roberto Saviano

Im Oktober 2006 trafen sich die Obersten des Casalesi-Clans und fällten das Todesurteil über Roberto Saviano. Er war 26 Jahre alt, als Italiens damaliger Innenminister Amato ihm mitteilte, er müsse rund um die Uhr eine Leibwache haben. Es gibt ein Foto aus dieser Zeit. Es zeigt Saviano umringt von seiner damaligen Eskorte. Er läuft mit ihr über eine Piazza in Rom, hat die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben und schaut herausfordernd in die Kamera. Kennt er das Bild? „Nein, ich glaube nicht, aber ich kann mir vorstellen, was es erzählt. Anfangs dachte ich tatsächlich, dass das alles nicht lange dauern wird. Meine Familie war sehr besorgt, aber ich hatte das Gefühl, einfach einen außerordentlichen Moment zu erleben. Ich war sehr jung, sehr neugierig. Ich erfasste nicht, was passiert. Heute empfinde ich meine Situation als Albtraum. Es gibt Momente, in denen ich buchstäblich nicht atmen kann.“

Savianos bisheriges Leben riss abrupt ab. Es wurde ersetzt durch eines, das einem strengen Sicherheitsprotokoll folgt. Jahrelang war er gezwungen, immer wieder seinen Aufenthaltsort zu wechseln. Informanten berichteten von Attentatsplänen, es gab Todesdrohungen. Sie waren manchmal so konkret, dass er in den Kasernen der Carabinieri schlief. Danach verflüchtigten sich die Umrisse der Bedrohung immer wieder, und die Gefahr wurde wieder zum Gespenst, das man weder greifen noch sehen kann, von dem man aber weiß: Es ist da. Sich in einen anderen Menschen verlieben, Freunde treffen, eine Beziehung führen oder eine Familie gründen – Dinge also, die man gemeinhin tut, wenn man Mitte zwanzig oder in den Dreißigern ist, wurden von den Todesdrohungen der Cosa Nostra zunichtegemacht.

Sie zwangen Roberto Saviano zur Einsamkeit, zum Alleinsein, auch körperlich. Um diesen sozialen Tod zu überleben, las er Bücher, suchte sich Gefährten in der Literatur. In seiner Bi­bliothek soll mittlerweile 15.000 Werke stehen. Er schrieb auch selbst zahlreiche, immer wieder über die Cosa Nostra, obwohl ihn ja gerade das ins Unglück gerissen hatte. Er machte auch Filme und Serien über sie. Jetzt ist er 44, in seinem Bart ist mittlerweile viel grau, und wieder hat er mit „Falcone“ einen Roman über die Cosa Nostra geschrieben. Findet er kein anderes Thema?

„Es ist eine Obsession, und ja, mein Verhältnis zur Mafia hat etwas Manisches. Es gibt drei Dinge, die mich immer wieder hineinziehen. Erstens, die Eskorte erinnert täglich daran, dass man mir nach dem Leben trachtet. Das ruft, zweitens, Kampfgeist wach, man will gewinnen, was aber ein Fehler ist, weil man die Situation dadurch nur alimentiert. Drittens, ich kenne mich mittlerweile so gut aus, dass ich Dynamiken, Machtspiele und Allianzen erkenne. Es ist sehr schwer, sich unter solchen Umständen etwas anderem zuzuwenden.“ Das Auto fährt gerade durch die Via del Plebiscito. „Da vorne ist übrigens die Villa Grazioli, dort hat Silvio Berlusconi gewohnt, wenn er in Rom war“, sagt er.

Es war 2010, als Berlusconi, damals Ministerpräsident, ihn frontal angriff. Saviano trage mit seinen Büchern und Fernsehserien Schuld an der weltweiten Bekanntheit der italienischen Mafia. Genau genommen, werfe er mit seiner Arbeit ein schlechtes Licht auf Italien. Dieser Vorwurf wurde seitdem oft wiederholt. In Savianos Wohnung hängt das gerahmte Foto einer süditalienischen Parkbank, auf die jemand „Saviano Merda“ gesprüht hat. Für die einen ist er ein Nestbeschmutzer oder Wichtigtuer, der seine Situation in bares Geld verwandele, für andere ist er das gute Gewissen des Landes.

Keine Woche ohne einen Kommentar von Saviono

Tatsächlich vergeht keine Woche ohne einen Kommentar von ihm. Mal fordert er eine humane Flüchtlingspolitik oder äußert sich zum Gesangsfestival Sanremo, oder er nimmt, das macht er gerade am häufigsten, die Regierungspolitik auseinander. Er wird dafür geliebt oder gehasst, je nachdem, zu welcher Seite man sich zählt. Giorgia Meloni verklagte ihn wegen Beleidigung, und auch mit Salvini hatte Saviano schon Konflikte. Einmal drohte der Rechtspopulist damit, ihm den Polizeischutz zu entziehen. Die Frage, wo Saviano wohnt, steht bei Google Italien seit Langem ganz oben.

Vor einigen Monaten sagte Saviano, er suche nach einem Weg, endlich in ein normales Leben zurückzukehren. Hat sich das konkretisiert? „Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die Gefahr nicht mehr besteht, ist es nicht so einfach, sich nach all den Jahren aus dem Polizeischutz zu lösen“, antwortet er. „Man entscheidet selbst, was man machen möchte. Die Eskorte beschützt mich dann dabei. Aber die Entscheidung, wie weit ich gehe, liegt bei mir – und das ist gar nicht so einfach.“ Was wäre denn ein kleiner Schritt? Saviano überlegt. „Es geht mir wie Falcone. Auch ich würde gern mal wieder ins Kino gehen“, sagt er und lacht fröhlich, als habe er etwas vollkommen Verrücktes preisgegeben. Dabei ist Kino ja wirklich eine der tollsten Sachen der Welt. Allein weil die Mafia ihn seit gut 15 Jahren an diesem Vergnügen gehindert hat, gehörten alle, die etwas mit ihr zu tun haben, hinter Gitter.

Savianos Geständnis hat die Atmosphäre verändert, das Gespräch ist jetzt plötzlich so leicht, als säße man in einem Café. Guckt er Netflix oder Amazon Prime? Schaut er gerade eine Serie? Ja, sagt Saviano, eine Serie über den britischen Geheimdienst, und dann fällt ihm, der gerade noch das Auto mit Daten, Ereignissen, Namen geflutet hat, aber selten soziale Momente wie diesen erlebt, in denen sich eine Lücke auftut, die nicht geplant war, erst nach ein paar Anläufen wieder ein, wie sie heißt: „Slow Horses – Ein Fall für Jackson Lamb“, mit dem großartigen Gary Oldman. Ist er nicht wunderbar als runtergerockter Agent? „Ja, phantastisch“, sagt Saviano und lacht wieder. Einen Sieg habe er in diesem Jahr schon errungen: „Ich gehe wieder ins Fitnessstudio. Mit der Eskorte natürlich, trotzdem ist das eine große Sache für mich.“

Am frühen Nachmittag soll Saviano per Zoom als Experte für organisierte Kriminalität in die Sitzung eines Ausschusses des französischen Senats zugeschaltet werden. Er hat jetzt noch etwas Zeit. Wo hielt sich Falcone in Rom noch gern auf? Seine Wohnung war in der Via Santo Stefano del Cacco, unweit des Pantheons. „Wie weit sind wir von dort entfernt?“, fragt Saviano die Carabinieri. „Anderthalb Kilometer etwa.“ – „Gut. Versuchen wir es.“

Die Last der Ängste, seit mehr als zwanzig Jahren

Das Auto hält, Saviano zieht beim Aussteigen eine Schirmmütze über. Das Pantheon ist eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Roms. Schon jetzt, am Vormittag, sind dort in den Straßen viele Menschen unterwegs, vor allem Touristen. Saviano wirkt sofort angespannt. Die Last der Ängste, die ihn seit mehr als zwanzig Jahren begleiten, wiegt in diesem Augenblick offenbar wieder schwer. Die Leichtigkeit von eben ist fort. Trotzdem sagt er: „Frische Luft wird mir guttun“, und läuft los, mit leicht gesenktem Kopf, die beiden Carabinieri dicht neben ihm. Es geht eine Gasse entlang, in der sich Souvenirstände reihen, da ruft jemand „Roberto!“, und Saviano dreht sich zu der Stimme hin, sie kommt von einem der Stände. Dort werden Poster mit den Bildern berühmter Filmszenen verkauft, es ist eins von Marlon Brando als Don Corleone darunter. Auch die Carabinieri sehen sich um, schieben Saviano aber weiter.

Der Touristenwahnsinn vor dem Pantheon wirkt an der Seite von Saviano dynamischer, lauter und unübersichtlicher als sonst; Reisegruppen wabern an uns vorbei, eine Frau singt eine Opernarie, es wird gejubelt, geklatscht, Jugendliche mit Rucksäcken und kurzen Hosen stellen sich zum Gruppenfoto auf, Regenschirme werden aufgespannt und wieder zugeklappt, irgendwer lacht kreischend auf, die Schlange vor dem Eingang geht über den ganzen Platz, dazwischen eine alte Bettlerin, ein Straßenverkäufer mit Polaroidkamera. Wann ist Saviano das letzte Mal hier gewesen? „Das war in einem anderen Leben“, sagt er. Und dann zitiert er die lange Inschrift auf dem Grab von Raffael, das sich im Pantheon befindet. Sicherlich ist er in diesem Moment der einzige Besucher auf der Piazza, der das kann. Das Auto steht dort vorn, sagt in seinem Rücken einer der beiden Riesen, und es klingt, als würden sie ihn in eine Welt zurückkomplimentieren, die er eigentlich nicht verlassen darf.

Seine Welt. Später, Saviano ist schon in der Zoom-Konferenz mit den Franzosen, geht man noch mal zurück zu der Stimme, die nach Saviano rief. Sie gehört einem Mann mit selbstgedrehter Zigarette im Mund und Kapuze über den Kopf. Trotz des Regens trägt er eine Sonnenbrille, deren Gläser seine Augen genauso unsichtbar machen, wie die verdunkelten Scheiben Roberto Saviano in dessen Auto. Ja, er habe nach ihm gerufen, na und? „Mal grüße ich, mal grüße ich nicht, was geht dich das denn an, verschwinde“, sagt er in süditalienischem Dialekt, tritt hinter seinem Stand hervor, und es ist, als öffne sich für einen Wimpernschlag die Tür zur anderen, zur Gegenwelt von Roberto Saviano.

Roberto Saviano: „Falcone“. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Hanser Verlag, 544 Seiten, 32 Euro

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