Ukraine-Krieg: Russischer Demograf erklärt, was in Russland wirklich passiert

ukraine-krieg: russischer demograf erklärt, was in russland wirklich passiert

Der Anschlagsort: Die Konzerthalle Crocus City Hall in Moskau.

Russland hat einen akuten Arbeitskräftemangel durch die Verluste im Ukraine-Krieg. Jetzt will die Regierung noch die Arbeitsmigration bekämpfen und die Geburtenrate erhöhen. Gehen die Pläne auf? Und wie wirken sich die Kriegsverluste auf die Wirtschaft aus? Wir haben mit dem unabhängigen russischen Demografen Alexei Rakscha gesprochen.

Berliner Zeitung: Herr Rakscha, der Terroranschlag bei Moskau am 22. März, an dem vier mutmaßliche Terroristen aus Tadschikistan beteiligt waren, führte in Russland zur regelrechten Hexenjagd gegen Arbeitsmigranten aus Zentralasien. Jetzt will die Staatsduma Migrationspolitik radikal überdenken. Man will die Visafreiheit für zentralasiatische Länder aufheben und Quoten einführen. Kann die russische Wirtschaft auf die Arbeitsmigranten verzichten?

Rakscha: Sie sägen an dem Ast, auf dem sie sitzen. Zumindest für die Bauindustrie wäre es ein großes Problem, da es in Russland wie noch nie an Arbeitskräften mangelt. Aber die Migration, wie sie jetzt stattfindet  – es kommen arme und schlecht ausgebildete Menschen aus einer fremden Kultur –, gefällt der ziemlich fremdenfeindlichen russischen Gesellschaft nicht. Wenn die Leute also hören: „Wir werden jetzt alle Migranten rausschmeißen!“, denken sie, dass ihre Gehälter dadurch steigen werden.

Wladimir Putin erklärte, dass angesichts des Fachkräftemangels in Russland entweder die Arbeitsproduktivität erhöht oder Arbeitsmigranten angezogen werden müssen. Wie passt das mit den Plänen der Duma zusammen? Sind die meisten Migranten zudem nicht in gering qualifizierten Jobs tätig?

Die Arbeitsproduktivität steigt mit dem technologischen Fortschritt. In Russland wird dieser Fortschritt jedoch wegen der westlichen Sanktionen behindert. Denn um die Arbeitsproduktivität zu steigern, sind Technologien erforderlich. Russland hat aber kaum eigene Technologien, deswegen bezog man sie ja aus dem Westen.

Hinzu kommt die hohe Korruption und der ineffiziente Einsatz von Arbeitskräften. Das heißt, wenn beispielsweise autonome Lieferroboter in größerem Umfang eingesetzt würden, wäre auch der Bedarf an Migranten geringer. Zum Vergleich: Im hoch technisierten Deutschland wird ein Asphaltweg in einem Park von einem Arbeiter und einer Menge Maschinen verlegt. In Russland machen das zehn Tadschiken mit Schaufeln und ein russischer Vorarbeiter.

Putin sprach von zehn Millionen Arbeitsmigranten in Russland. Kann man dieser Zahl vertrauen?

Nein, in Russland halten sich sechs bis maximal sieben Millionen Ausländer auf, darunter Studenten, Verwandte von Arbeitsmigranten und Touristen. Wir hatten 2013 eine offizielle Zahl von elf Millionen, aber das war ein Spitzenjahr, als die russische Währung stabil war. Es ist ganz einfach: Je stärker der Rubel, desto williger kommen Migranten nach Russland.

Das Innenministerium hat der Regierung einen Gesetzentwurf zur Verschärfung der Kontrolle über den Aufenthalt von Ausländern vorgelegt. Dies wird aber nur die Korruptionskomponente erhöhen und die Migration nach Russland leicht reduzieren, da der russische Arbeitsmarkt für Migranten aus Zentralasien im Vergleich zu Ländern wie der Türkei oder den Vereinigten Arabischen Emiraten weniger attraktiv wird.

Verschiedenen Schätzungen zufolge haben seit zwei Jahren etwa eine Million junger Menschen Russland verlassen oder wurden an die Front geschickt. Wie wirkt sich das auf die Wirtschaft aus?

Einerseits verlangsamt es das Wirtschaftswachstum, andererseits erhöht es die Löhne. Es ist paradox: Der Wirtschaft geht es schlecht, aber den Menschen geht es gut, weil die Löhne schneller steigen als die Preise. Russland hat ein riesiges Defizit auf dem Arbeitsmarkt, was ein Indikator für die Überhitzung der Wirtschaft ist.

Wie viele Russen sind bisher im Ukraine-Krieg gestorben, lässt sich das einschätzen? Und welchen Einfluss haben diese Verluste auf die Demografie?

Es sterben einerseits viele junge Menschen, was sich natürlich negativ auf die Wirtschaft auswirkt. Offizielle Angaben über die Zahl der Kriegstoten gibt es nicht. Investigative Journalisten rekonstruierten jedoch die Daten auf der Grundlage einiger Informationen, die in die offiziellen Rosstat-Statistiken eingingen, und kamen auf die Zahl von mindestens 18.000 Gefallenen im Jahr 2022. (Nach den letzten Recherchen des russischen Exil-Portals Meduza und des oppositionellen Medienunternehmens Mediazona sind bis zum Mai 2023 wenigstens 47.000 Russen im Ukraine-Krieg gefallen – Anm. d. Red.)

Die Geburtenrate ist andererseits im Jahr 2023 im Vergleich zu 2022 nur um 0,3 Prozent auf 1,41 Kinder pro Frau gesunken. Ich selbst hatte mit einem Rückgang um zehn bis 15 Prozent gerechnet. Aber Moskau hat schnell Geld gedruckt. Dieser enorme Geldfluss geht in die ärmeren Bevölkerungsschichten, was teilweise die Ungleichheit verringert.

In Russland gibt es 20 Millionen Männer im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Nur fünf Prozent davon haben das Land verlassen oder sind im Krieg. Für die restlichen 95 Prozent ist die Geburtenrate im Durchschnitt um vier Prozent gestiegen, weil sie jetzt verstärkt finanziell unterstützt werden. Viele von ihnen haben noch nie so viel Geld gesehen.

Und wie wird sich der Krieg langfristig auf die Demografie in Russland auswirken?

Nach meinen Berechnungen sind die jetzigen Kriegsverluste etwa vierzigmal schwächer als im Großen Vaterländischen Krieg bzw. im deutsch-sowjetischen Krieg, wenn man die Opferzahl pro Kopf der Bevölkerung berechnet. Wenn es jedoch der Krieg einen viel intensiveren und brutalen Charakter annimmt, wenn er noch viele Jahre andauert, werden die Folgen entsprechend sein.

Derzeit liegt Russland bei der Geburtenrate in der Mitte der entwickelten Länder. Aber nicht, weil sie in Russland gestiegen ist, sondern weil sie in Europa dramatisch gesunken ist. Alarmierend wäre es, wenn die Geburtenrate auf etwa 1,3 sinken würde.

Die Lebenserwartung von russischen Männern ist mit ca. 67 Jahren deutlich niedriger als in europäischen Ländern, und die Lücke in der Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen von fast 11 Jahren gehört zu den größten der Welt. Wie erklären Sie das?

Ich denke, einer der Gründe dafür ist die Heroisierung von Heldentaten als Erbe der Sowjetunion. Damals gab es den Slogan: „Für eine Heldentat gibt es immer einen Platz im Leben“. Dies ist ein äußerst schädlicher Slogan, weil es im normalen Leben überhaupt keinen Platz für Heldentum geben sollte. Aus Mangel an Gründen für eine Heldentat vollbringen russische Männer alkoholische „Heldentaten“.

Der starke Alkohol ist das große Unglück Russlands. In den letzten Jahren wurden die Verbrauchssteuern und Abgaben auf Wein und Bier erhöht, während der Preisanstieg bei Wodka unter der Inflationsrate bleibt. Es gibt den Begriff gefährlicher Alkoholkonsum, wenn viel harter Alkohol in kurzer Zeit konsumiert wird. Das bedeutet Sterblichkeit pur: Verkehrsunfälle, Erfrierungen im betrunkenen Zustand, Ertrinken, Brände, Schlägereien, Herzinfarkte usw.

Die Alkohollobby hat gesiegt: Der Einzelhandelsabsatz von Spirituosen stieg 2023 um 3,6 Prozent auf einen Rekordwert von 7,2 Litern pro Kopf. Und die Lebenserwartung steigt seit April 2022 nicht mehr: Im Jahr 2019 stieg sie auf einen für Russland rekordverdächtigen Wert von 73,5 Jahren, aber seitdem stagniert sie. Dabei ist die Sterblichkeitsrate im Januar 2024 die höchste seit der Corona-Pandemie.

Aber jetzt haben russische Männer die Möglichkeit, die „Heldentaten“ zu vollbringen, entschuldigen Sie meinen Zynismus – sie werden in den Krieg geschickt.

Um dort zu sterben. Ich glaube, dass der Krieg die Lebenserwartung russischer Männer um etwa 0,8 Jahre verringert, und zwar wenn man alle Männer, einschließlich Babys und Senioren, berücksichtigt. Und da seit 2022 immer häufiger junge Männer sterben, und immer häufiger im Krieg, könnte man vermuten, dass der Krieg einen erheblichen Beitrag zum Anstieg der Differenz in der Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen geleistet hat.

Die russische Regierung will die Geburtenrate erhöhen, indem sie sogenannte traditionelle Werte fördert. Die Vize-Premierministerin Tatiana Golikowa forderte russische Frauen auf, so früh wie möglich Kinder zu gebären. Und Patriarch Kirill schlug zum Beispiel vor, das „Verleiten“ von Frauen zur Abtreibung zu verbieten.

Die Zahl der Abtreibungen in Russland geht seit 35 Jahren stetig zurück und ist von vier Millionen im Jahr 1988 auf zuletzt 300.000 gesunken. Dabei hat der Rückgang der Abtreibungen nirgendwo auf der Welt zu einem Anstieg der Geburtenrate geführt. Das beste Beispiel ist Polen, wo trotz eines äußerst strengen Abtreibungsgesetzes die Geburtenrate extrem niedrig ist. Das Durchschnittsalter der Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes in Russland beträgt 26,2 Jahre. Im Jahr 1995 lag diese Zahl bei 21,5 Jahren.

Die Erhöhung des Alters bei der Geburt des ersten Kindes hindert einige andere Länder jedoch nicht daran, eine höhere Geburtenrate als Russland zu haben. Russische Beamten haben eine verzerrte Vorstellung von der Demografie, indem sie glauben, dass eine Frau, die früher gebärt, mehr Kinder zur Welt bringt. Dieser kausale Zusammenhang ist nicht nachgewiesen. Egal wie sehr der Staat versucht, die Verjüngung der Geburtenrate zu fördern, führt dies zu nichts.

Niedrige Geburtenraten und die Notwendigkeit von Arbeitsmigration: Sind diese Phänomen nicht auch für Deutschland typisch?

In Deutschland ist die Geburtenrate in den letzten zwei Jahren regelrecht eingebrochen:  Sie ist mit 1,36 Geburten pro Frau im Jahr 2023 niedriger als in Russland. Dafür gibt es mehrere Gründe, vor allem aber die Ungleichgewichtung der Wirtschaft als Folge von Corona-Maßnahmen und der hohe Inflationsdruck. Welche Rolle der Krieg in der Ukraine dabei spielt, ist schwer zu sagen.

Ich habe Daten über Finnland. In einer dortigen Umfrage gaben elf Prozent der Frauen an, dass sich der Krieg in der Ukraine negativ auf ihre Reproduktionspläne auswirkt. Allen Prognosen zufolge wird Deutschland die niedrige Geburtenrate und den Arbeitskräftemangel nur durch Zuwanderung auffangen können. Ich schätze, dass Deutschland mindestens eine halbe Million Menschen pro Jahr aufnehmen wird. Und es ist unwahrscheinlich, dass diese Zahl sinken wird. Wie sehr das den Deutschen gefällt, kann ich nur schwer beurteilen. Aber es ist eine Tatsache.

Vielen Dank Ihnen für das Gespräch.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns gern! [email protected]

News Related

OTHER NEWS

Ukraine-Update am Morgen - Verhandlungen mit Moskau wären „Kapitulationsmonolog" für Kiew

US-Präsident Joe Biden empfängt Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus. Evan Vucci/AP/dpa Die US-Regierung hält Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zum jetzigen Zeitpunkt für „sinnlos”. Bei einem Unwetter in Odessa ... Read more »

Deutschland im Wettbewerb: Subventionen schaden dem Standort

Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. November 2023 im Bundestag Als Amerikas Präsident Donald Trump im Jahr 2017 mit Handelsschranken und Subventionen den Wirtschaftskrieg gegen China begann, schrien die Europäer auf ... Read more »

«Godfather of British Blues»: John Mayall wird 90

John Mayall hat Musikgeschichte geschrieben. Man nennt ihn den «Godfather of British Blues». Seit den 1960er Jahren hat John Mayall den Blues geprägt wie nur wenige andere britische Musiker. In ... Read more »

Bund und Bahn: Einigung auf günstigeres Deutschlandticket für Studenten

Mit dem vergünstigten Deutschlandticket will Bundesverkehrsminister Wissing eine junge Kundengruppe dauerhaft an den ÖPNV binden. Bei der Fahrkarte für den Nah- und Regionalverkehr vereinbaren Bund und Länder eine Lösung für ... Read more »

Die Ukraine soll der Nato beitreten - nach dem Krieg

Die Ukraine soll nach dem Krieg Nato-Mitglied werden. Die Ukraine wird – Reformen vorausgesetzt – nach dem Krieg Mitglied der Nato werden. Das hat der Generalsekretär des Militärbündnisses, Jens Stoltenberg, ... Read more »

Präsidentin droht Anklage wegen Tod von Demonstranten

Lima. In Peru wurde eine staatsrechtlichen Beschwerde gegen Präsidentin Dina Boluarte eingeleitet. Sie wird für den Tod von mehreren regierungskritischen Demonstranten verantwortlich gemacht. Was der Politikerin jetzt droht. Perus Präsidentin ... Read more »

Novartis will nach Sandoz-Abspaltung stärker wachsen

ARCHIV: Das Logo des Schweizer Arzneimittelherstellers Novartis im Werk des Unternehmens in der Nordschweizer Stadt Stein, Schweiz, 23. Oktober 2017. REUTERS/Arnd Wiegmann Zürich (Reuters) – Der Schweizer Pharmakonzern Novartis will ... Read more »
Top List in the World