Macron bietet Europa die Atombombe an – nicht ganz uneigennützig
Der Krieg in der Ukraine, die Drohgebärden Russlands, das Schreckgespenst Donald Trump: Die EU muss ihre Verteidigung radikal neu denken. Und plötzlich gibt es eine Debatte über Frankreichs Nukleararsenal.
Nukleare Abschreckung funktioniert auch über Kommunikation: Ihr viertes und bisher jüngstes Atom-U-Boot tauften die Franzosen «Le Terrible».
«Le Terrible», der Schreckliche. So heisst Frankreichs bisher letzte Zugabe zu seiner Nuklearflotte, sein viertes Atom-U-Boot. Abschreckung lebt nun mal von Politik und Kommunikation, da gehören solche Namen dazu. Im Dienst ist «Le Terrible» seit 2010, ziemlich neu also. Normalerweise liegt das Boot bei Brest in der Bretagne, ausgestattet mit 16 Nuklearraketen des Typs M51. Aber was ist schon noch normal, seit in Europa wieder Krieg herrscht?
Im grossen Gewölbe der europäischen Verteidigungsstrategie geraten seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und seit den nuklearen Drohgebärden aus Moskau so manche alte Gewissheiten ins Wanken. Emmanuel Macron rüttelt mit seinen jüngsten Verlautbarungen mächtig mit.
Frankreichs Präsident, Oberbefehlshaber der einzigen verbliebenen Nuklearmacht in der Europäischen Union seit dem Brexit, stellt einmal mehr und so offensiv wie nie zuvor in Aussicht, dass sein Land seinen Schirm über alle europäischen Partnerstaaten spannen könnte. Wie genau, das wäre dann noch zu klären.
Alles soll auf den Tisch
In seiner Rede an der Sorbonne am 25. April sagte Macron, Frankreichs nukleare Abschreckung sei «ein unumgängliches Element bei der Verteidigung des europäischen Kontinents». Einige Tage später, im Rahmen eines zweitrangigen Termins, schickte er nach, weitere mögliche Elemente seien ein Raketenabwehrschirm und Langstreckenwaffen. «Wir sollten alles auf den Tisch legen und schauen, was uns wahrhaftig und glaubwürdig schützt.»
Europa sei sterblich, sagte Emmanuel Macron in seiner Rede an der Sorbonne vor einer Woche – bedroht durch mehrere Krisen.
In diesen Präzisierungen war nichts improvisiert, jedes Wort war gewogen. Macron findet also erstmals, dass das deutsche Projekt eines Luftverteidigungssystems durchaus seine Berechtigung habe. Bisher waren die Franzosen immer gegen diese «European Sky Shield Initiative» gewesen, zumal die Deutschen dabei ohne das Mittun französischer Rüstungskonzerne planen.
Macrons Volte ist keine überschwängliche, sie mutet eher wie ein Angebot zum Dialog an, wenn die Deutschen dafür offener mit seiner nuklearen Offerte umgehen. An der Sorbonne hatte er es so gesagt: «Ein Raketenabwehrschirm? Warum nicht?»
Am Ende geht es Macron aber vor allem um die Rolle Frankreichs in der Welt, um die knapp 300 französischen Atomsprengköpfe und die Frage, wie man die Partner in der EU an der Bombe teilhaben lassen könnte, ohne diese aber – Gott bewahre! – mit ihnen zu teilen.
Die nukleare Abschreckung ist seit sechs Jahrzehnten Kern und Stolz der französischen Verteidigung, ein zentrales Motiv auch für Frankreichs immer noch grossmächtiges Selbstverständnis. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Trauma der deutschen Okkupation galt es, Frankreichs nationale Souveränität zu polstern.
In einem Weisspapier zur Verteidigung aus dem Jahr 1972 heisst es, die Atombombe sei da, um die «vitalen Interessen» der Republik zu schützen. Und das sollte in aller Unabhängigkeit und höchstens parallel zur Nato passieren. Frankreich gehört der Nato zwar als Mitglied an, doch wenn die Alliierten des Pakts über Nukleares reden, sitzen die Franzosen nicht mit am Tisch. So wuchs ihre besondere Rolle im Konzert der westlichen Atommächte. (Lesen Sie hier mehr zur Rolle Frankreichs in der Nato.)
Macron hat keine roten Linien überschritten
Ihre Nukleardoktrin ist in Wahrheit längst nicht so exklusiv und nationalistisch, wie es französische Politiker aus allen Lagern gerne behaupten – auch jetzt wieder: Die Opposition wirft Macron vor, er verhökere die französische Souveränität, wenn er von einer Europäisierung der nationalen Nuklearmacht rede. Das tut der gar nicht, doch vor den Europawahlen ist der Tonfall nun mal besonders scharf.
Bruno Tertrais, einer von Frankreichs bekanntesten Nuklearexperten und Autor des Buchs «Pax atomica», sagte es dieser Tage bei einem Fernsehauftritt auf France 5 so: «Macron hat noch nie eine rote Linie überschritten, wie sie Frankreich für seine Souveränität selbst definiert hat – weder politisch, technisch noch operativ.»
Gemeinsame Manöver? Gemeinsames Budget? Alles offen
So war natürlich noch nie die Rede davon, dass der Präsident den Entscheid über den Einsatz der Bombe, der ihm laut französischer Verfassung ganz alleine zusteht, gegebenenfalls mit anderen teilen würde, schon gar nicht mit anderen Ländern. Auch ein gemeinsames europäisches Atomwaffenbudget ist unwahrscheinlich, obschon für eine modernere Abschreckung grosse Investitionen nötig wären.
Macron möchte jetzt vor allem reden, bewusst vage noch, er möchte seine Position stärken, vielleicht dann mal gemeinsame Manöver veranstalten mit den U-Booten und den Kampfjets Rafale, den beiden Trägern der französischen Sprengköpfe. Und Russland soll dadurch möglichst beeindruckt sein, abgeschreckt eben.
«Wer weiss?» Frankreichs Präsident Charles de Gaulle stellte 1963 auch den USA in Aussicht, dass sein Land im Notfall mit Atomwaffen helfen würde.
Der Vorwurf, Macron verscherble gewissermassen als erster Präsident die nukleare Eigenständigkeit des Landes, ist auch historisch widerlegt. Charles de Gaulle sprach schon 1963 davon, dass Frankreich «unter gewissen Bedingungen» mit seinen Nuklearwaffen seinen Alliierten helfen würde – und fügte in seiner unnachahmlichen Art an: «Wer weiss, auch Amerika.» Wie ernst er das meinte, sei dahingestellt.
Alle Präsidenten nach de Gaulle nahmen den Gedanken auf und verfeinerten ihn. Macron ging so weit wie keiner vor ihm, als er 2020 sagte, die «vitalen Interessen» Frankreichs hätten eine «europäische Dimension». Das war die bis dahin grösste Offensive aus Paris.
Doch es war Pandemie, niemand hörte hin. Überhaupt fand man in der EU immer, der viel grössere amerikanische Nuklearschirm mit seinen Stützpunkten in Europa würde immer da sein und den Kontinent schützen. Dass der vielleicht nicht ewig gespannt bleiben würde, galt als Fantasterei von Kulturpessimisten. Bis jetzt.
Was ist, wenn Trump gewinnt?
Nicht nur ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt: Auch die schützende Hand der Amerikaner schien schon verlässlicher gewesen zu sein. Washington schaut bei seinen strategischen Überlegungen mit mindestens einem Auge nach Fernost. Und sollte im kommenden Herbst Donald Trump wieder ins Weisse Haus gewählt werden – was wäre dann?
So ist die Debatte über die französische Nukleardoktrin schon im Gange, nicht in der grossen Öffentlichkeit, aber in europäischen Verhandlungszimmern und im Mund von Emmanuel Macron. Als Teil einer Fundamentalanalyse über die gemeinsame Verteidigungspolitik, die sich natürlich weiterhin an der Nato orientiert. Eingebunden ist selbstredend auch Grossbritannien und sein Nukleararsenal. Damit sich am Ende niemand traut, den Westen anzugreifen.
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