Eine halbe Million Berliner sind aufgerufen, erneut bei der Bundestagswahl abzustimmen. Der Versuch einer Zeitreise ins Jahr 2021 führt zu einigen Besonderheiten: Kandidaten haben ihre Partei verlassen oder sind verstorben. Auch auf andere Bundesländer könnte die Wahl Auswirkungen haben.
Am Sonntag steht die erste Wahl im Superwahljahr 2024 in Deutschland an: In Berlin wird die Bundestagswahl 2021 in Teilen wiederholt. Damals fehlten in manchen Wahllokalen Stimmzettel, es gab lange Warteschlangen, zwischenzeitliche Schließungen und die Stimmabgabe erfolgte teilweise deutlich nach Veröffentlichung der ersten Prognosen um 18 Uhr.
Vor einem Jahr mussten bereits die Abgeordnetenhauswahl und die Wahl zu den Kommunalparlamenten wiederholt werden, die 2021 zeitgleich mit der Bundestagswahl (und dem Berlin-Marathon, ein Grund für Probleme) abgehalten wurden. Anders als bei der Bundestagswahl sah das Berliner Landesverfassungsgericht „angesichts der Vielzahl und Schwere der Wahlfehler“ keine andere Möglichkeit, als die Wahl zum Abgeordnetenhaus in Gänze zu wiederholen. Die CDU wurde stärkste Kraft, Kai Wegner Regierender Bürgermeister.
Über die Bundestagswahl urteilte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe im Dezember. Die Richter entschieden nach umfassender Prüfung sogar der Niederschriften einzelner Wahlbezirke, dass die Wahl in 455 von 2256 Wahlbezirken und den zugehörigen Briefwahlbezirken erneut abgehalten werden muss.
Damit sind rund 550.000 Berliner erneut zu Wahl aufgerufen. Dass sich Berlin am Wahltag auf eine Zeitreise begibt und die Wahl so wiederholt wird, als wäre es erneut der 26. September 2021, ist Fiktion. Doch durch den Versuch, die Wahl möglichst getreu der Ausgangssituation zu wiederholen, sorgt für einige Besonderheiten bei der Wiederholungswahl.
Manche Stimmen zählen ein kleines bisschen mehr
Es gibt Wähler, die am Sonntag erneut abstimmen dürfen, obwohl sie 2021 gar nicht von Pannen betroffen waren. Wer damals seine Stimme ohne Beeinträchtigungen abgeben konnte, nun aber durch einen Umzug in einem Wahlbezirk wohnt, in dem die Wahl wiederholt werden muss, darf erneut an die Urne gehen. Außerdem sind Neu-Berliner, die in den vergangenen zweieinhalb Jahren in die Hauptstadt gezogen sind, wahlberechtigt – obwohl sie ihre Stimme ja eigentlich schon in Hamburg, Köln oder München abgegeben haben.
Grund ist das Bundeswahlgesetz: Es schreibt vor, dass bei Wahlwiederholungen, die später als sechs Monate nach der eigentlichen Wahl erneut abgehalten werden, ein neues Wählerverzeichnis erstellt werden muss. „Stichtag für die Eintragung in das Wählerverzeichnis ist für im Bundesgebiet gemeldete Personen der 42. Tag vor der Wahl“, sagt Landeswahlleiter Stephan Bröchler. Folglich seien also alle Personen nach ihren Hauptwohnsitzen am 31. Dezember 2023 in die Wählerverzeichnisse für die Wiederholungswahl einzutragen. Und auch wer inzwischen 18 Jahre alt geworden ist, darf wählen.
Kandidaten haben Parteien verlassen – oder stehen unter Terror-Verdacht
Anders als bei den Wählern sind bei den zu Wählenden kaum Änderungen möglich. Wie die Landeswahlleitung erklärte, haben Austritte oder Parteiwechsel keinen Einfluss auf die Wiederholungswahl. In Charlottenburg-Wilmersdorf steht zum Beispiel noch Eva-Maria Dörfler als Direktkandidatin für die AfD auf dem Wahlzettel, die die Partei vor rund einem Jahr verlassen hat.
Auf der Landesliste der AfD findet sich auch der Name Birgit Malsack-Winkemann. Die ehemalige Bundestagsabgeordnete ist zwar noch Mitglied ihrer Partei, wie ein Sprecher WELT bestätigte, sitzt allerdings in Untersuchungshaft. Die Bundesanwaltschaft wirft ihr und 26 Mitangeklagten vor, das politische System in Deutschland stürzen zu wollen.
Birgit Malsack-Winkemann, AfD-Politikerin und ehemalige Bundestagsabgeordnete, steht unter Terrorverdacht picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka
Malsack-Winkemann war im Dezember 2022 im Rahmen einer Anti-Terror-Razzia gegen die Reichsbürgerszene festgenommen worden. Der AfD-Landesverband erklärte, einen Ausschluss von der Liste geprüft zu haben. Aus Gründen der Unschuldsvermutung ist das jedoch nicht möglich, erklärte Landeswahlleiter Bröchler.
Nur, wenn ein Bewerber nicht mehr wählbar ist, etwa durch den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit oder eine Verurteilung, hätten die Parteien ihre Wahlvorschläge noch einmal ändern können. Das war in Berlin nicht der Fall. In einem Bezirk ist ein Direktkandidat inzwischen verstorben. Seine Kandidatur wurde ersatzlos gestrichen.
Michael Müller ist noch Regierender Bürgermeister
Die Vorgabe, die Wahl mit denselben Wahlvorschlägen zu wiederholen, führt auch zu Irritationen auf dem Wahlzettel. Denn die Berufe, die die Bewerber angegeben haben, entsprechen dem Stand von 2021. Michael Müller, inzwischen SPD-Bundestagsabgeordneter, ist noch immer Regierender Bürgermeister. Familienministerin Lisa Paus (Grüne), die sich wie Müller im Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf um ein Direktmandat bewirbt, ist nur Bundestagsabgeordnete. Möglich waren hingegen Änderungen des Namens, etwa nach Eheschließungen.
Straßen- und Häuserwahlkampf ist nur schwierig möglich
Es gibt Straßen, in denen einen Teil der Bürger noch einmal wählen darf, der andere nicht. Grund ist, dass die Wahl nur in rund einem Viertel der Wahlbezirke wiederholt werden muss. Und die Einteilung der Wahlbezirke, die sich im Vergleich zu 2021 nicht verändert hat, orientiert sich vor allem an praktischen Vorgaben, um die Wahlen in Schulen oder anderen Einrichtungen abzuhalten. So sollen nicht mehr als 2500 Einwohner in einem Wahlbezirk wohnen. Dass in einem Wahlkreis nicht alle Wähler erneut zur Wahl aufgerufen sind, stellt Kandidaten vor das Problem, dass sie auf den Straßen Wähler ansprechen, die gar nicht wahlberechtigt sind.
Gewählt wird in allen zwölf Berliner Bundestagswahlkreisen – allerdings sind sie unterschiedlich stark betroffen. In Pankow soll die Wahl in 180 von 215 Wahlbezirken wiederholt werden, in Charlottenburg-Wilmersdorf in 82 von 195 und in Reinickendorf in rund einem Drittel der Wahlbezirke. Die direkt gewählten Abgeordneten Michael Müller (SPD), Stefan Gelbhaar (Grüne) und Monika Grütters (CDU) müssen um den erneuten Sieg bangen.
Stefan Gelbhaar (Bündnis 90/Die Grünen) kämpft um die Wiederwahl im Wahlkreis Pankow picture alliance/dpa/Christoph Soeder
In Tempelhof-Schöneberg wird nur in 9,1 Prozent der Wahlbezirke erneut abgestimmt. Aufgrund des geringen Abstands wird es zwischen Wahlsieger und SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert (bisher 27,1 Prozent) und Grünen-Urgestein Renate Künast (25,1) noch einmal eng. Doch die genannten sind alle über die Landeslisten ihrer Parteien abgesichert. Das Nachsehen hätten nachstehende Kandidaten.
Die am wenigsten betroffene Wahlkreise sind Spandau (drei Wahlbezirke), Lichtenberg (sechs) und Treptow-Köpneick (acht). Rechnerisch können die Linken-Abgeordneten Gesine Lötzsch aus Lichtenberg und Gregor Gysi aus Treptow-Köpenick ihre Mandate nicht mehr verlieren, selbst wenn alle nun Wahlberechtigten für den dort zweitplatzierten Kandidaten stimmen würden. Die Linke war 2021 nur aufgrund des Gewinns von drei Direktmandaten, der sogenannten Grundmandatsklausel, in das Parlament eingezogen. Sie fällt durch die Wahlrechtsreform der Ampel künftig weg.
Auswirkungen auf andere Bundesländer
Die Wiederholungswahl hat Auswirkungen auf die Mandate in anderen Bundesländern Grund ist, dass die Verteilung der Sitze im Bundestag auf die Parteien und Länder auch anhand der absoluten Zweitstimmen erfolgt. Die Gesamtzahl von 598 Abgeordneten wird dabei durch Ausgleichsmandate so lange weiter erhöht, bis es nur noch drei Überhangmandate gibt. Deshalb umfasst der aktuelle Bundestag 736 Abgeordnete.
In einem Schritt in der Berechnung wird entschieden, wie viele der je Partei errechneten Sitze den einzelnen Ländern zustehen. Gehen deutlich weniger Berliner zur Wahl, könnte die Hauptstadt nur mit den 24 Mindestsitzen statt wie bisher 29 aus dem Wochenende gehen.
Ottilie Klein, Bundestagsabgeordnete und Generalsekretärin der Berliner CDU, steht auf einem unsicheren Listenplatz picture alliance/dpa/Annette Riedl
2021 lag die Wahlbeteiligung bei 75,2 Prozent – knapp unter dem bundesweiten Wert von 76,6 Prozent. Landeswahlleiter Bröchler hofft auf eine Wahlbeteiligung von um die 60 Prozent wie bei der Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl.
In Berlin müssen daher die Kandidaten, die als letzte auf der Landesliste noch in den Bundestag gerutscht sind, um ihr Mandat bangen. Bei den Grünen betrifft dies die Landesvorsitzende Nina Stahr, bei der CDU die Berliner Generalsekretärin Ottilie Klein. Zittern müssen auch die Abgeordneten Ana-Maria Trasnea (SPD), Pascal Meisner (Linke), Lars Lindemann (FDP) und Götz Frömming (AfD).
Mit Andreas Audretsch ist bei den Grünen ein weiterer Kandidat gefährdet, falls Stefan Gelbhaar sein Direktmandat in Pankow verliert und über die Landesliste in den Bundestag einzieht. Profitieren könnten auch Listenkandidaten in anderen Bundesländern, die zweieinhalb Jahre nach der Wahl doch noch in den Bundestag einziehen.
Wahltag 2025 ist näher als Wahltag 2021
Seit der Wahl 2021 sind bereits 868 Tage vergangen. Die Wiederholungswahl liegt näher an der nächsten Bundestagswahl als an der vergangenen. Der spätestmögliche Wahltermin wäre am 26. Oktober 2025. Das sind ab Sonntag noch 623 Tage. Damit ist die Abstimmung am Sonntag in Berlin vor allem ein Stimmungstest für die Ampel – und das erste Mal, dass eine Bundestagswahl überhaupt in Teilen wiederholt werden muss.
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