Nato-General über Bedrohung im Baltikum - Putin arbeitet bereits an einer „Massenarmee sowjetischen Ausmaßes“

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Verteidigungsminister Pistorius im gepanzerten Radfahrzeug Boxer bei der Übung „Griffin Lightning“ in Litauen. Kay Nietfeld/dpa

Greift Putin wirklich die Nato an? Im Baltikum ist das keine abstrakte Angst, sondern ein reales Szenario. Wie sich die Nato darauf vorbereitet und welche Rolle Deutschland dabei spielen muss, erklärt der regionale Befehlshaber der Allianz, der deutsche General Jürgen-Joachim von Sandrart, in diesem Gastbeitrag.

Mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wurde unser Sicherheitsempfinden bis ins Mark erschüttert. Im Baltikum, so die konkrete Befürchtung, könnte aufgrund der geostrategischen exponierten Lage ein russischer Angriff auf die Nato erfolgen. Das sonst eher abstrakte Gefühl einer Bedrohung wird dadurch für einige wieder, für viele erstmals greifbar. Zugrunde liegt diesem Gefühl die Einsicht, dass die eigene Unversehrtheit und Freiheit in Sicherheit keine Selbstverständlichkeiten sind. Manch einer kommt zu dem Schluss, dass Sie das niemals waren.

In der Retrospektive müssen wir uns eingestehen: Russland hat eine Zeitenwende spätestens 2014 mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim eingeläutet. Den Willen, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, hatten wir damals nicht. Umso entschiedener müssen heute die notwendigen Schritte vollzogen werden.

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NATO-General von Sandrart. Foto: Multinational Corps Northeast

 

Im Multinationalen Korps Nordost, einem der regionalen Hauptquartiere der Nato, bereiten wir die Verteidigung Nordpolens und des Baltikums vor und generieren dadurch eine glaubhafte Abschreckung. Als Kommandeur werde ich oft gefragt, ob ich wirklich glaube, dass Putin uns angreifen würde. In dieser Frage sollten wir unseren Verbündeten Polen, Litauen, Lettland und Estland zuhören: Sie haben als Länder mit Grenzen zu Russland und Belarus eine klare Meinung hinsichtlich des Willens Putins, seine Einflusssphäre durch das Mittel Krieg auf ihre Länder gewaltsam auszuweiten. Dass ihre Sicherheit physisch bedroht ist, ist für diese Nationen ein Fakt. Deswegen wird dort nicht mehr gefragt, wie sicher wir noch sind – sondern wie wir uns erfolgreich verteidigen.

Diese Entschlossenheit ist auch getragen von den Erinnerungen vieler, die in der Sowjetunion unter russischer Besatzung aufwachsen mussten. Einige meiner baltischen Kameraden waren in ihrer Jugend im Widerstand gegen die Sowjetunion aktiv. Die mit dem Zerfall der Sowjetunion wiedergewonnene Freiheit werden diese Menschen nicht wieder hergeben. Unser Auftrag ist es zu gewährleisten, dass das niemals passiert. Auch, weil unsere Freiheit unzertrennlich mit der Freiheit unserer Alliierten verknüpft ist.

Unsere Alliierten erwarten von uns die Rolle eines „Führungspartners“

Deutschland hat aus den tiefgreifenden Veränderungen im strategischen Umfeld Schlussfolgerungen gezogen und abgeleitet aus unseren nationalen Sicherheitsinteressen Verantwortung sowie Führung übernommen. Deutsche Soldatinnen und Soldaten bilden im Baltikum mit Kameraden aus nahezu allen Nato Mitgliedstaaten die vorderste Verteidigungslinie der Allianz.

Gleichzeitig, das ist die nüchterne Betrachtung, erfüllen wir damit auch Erwartungen. Die Rolle als „Führungspartner“, wie der Bundesminister der Verteidigung es richtig ausdrückt, ist eine, die der Großteil unserer Alliierten von uns seit Langem erwartet, manche sogar voraussetzen. Darüber hinaus übernehmen wir auch deshalb Verantwortung, weil wir die Möglichkeit haben, sie zu schultern. Das erfordert immense Investitionen in unsere Verteidigungsarchitektur, was national nicht nur auf Applaus trifft.

In der andauernden Kakophonie der Krisen sind wir versucht, diese in ihrer Bedeutung gegeneinander aufzuwiegen. Warum sollten wir in Sicherheit investieren, wenn im ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich ebenfalls Gelder fehlen? Diese verkürzte Betrachtung fällt mit Blick auf Sicherheit und Verteidigung besonders leicht, da der hier benötigte finanzielle Bedarf zunächst einmal demütig werden lässt.

Doch Investitionen in unsere Sicherheit sind am Ende ein Nullsummenspiel: Jeder Euro, der nicht in Verteidigung investiert wird, vergrößert unsere Vulnerabilität. Auch das ist eine vereinfachte Betrachtung. Aber ihr zugrunde liegt die Überzeugung, dass erst unsere Unversehrtheit uns die Sicherheit gibt, um in anderen Bereichen handeln zu können. Es geht hierbei ganz konkret um die Voraussetzung für unser alltägliches Leben in Freiheit.

Der Kreml arbeitet bereits an einer Massenarmee, wie zu Sowjetzeiten

Die Politik steht hier in der Verantwortung. Dort steht sie aber nicht alleine. Ein Umdenken ist auch militärisch gefordert. Generationen an Soldatinnen und Soldaten, für die Auslandseinsätze Determinante aller Führungsentscheidungen war, müssen Archiviertes der Bündnis- und Landesverteidigung neu internalisieren und implementieren. Das gilt auch und insbesondere für die Generalität der Bundeswehr. Gleichzeitig bleiben die Anforderungen des internationalen Krisen- und Konfliktmanagements bestehen.

In dieser kräftezehrenden Parallelbelastung ist eine meiner Beobachtungen die zunehmende politische Bereitschaft, die Bundeswehr als das militärische Instrument der Politik einzusetzen, das sie ist. Diese Tendenz ist eine richtige und notwendige Entwicklung. Sie muss konsequent weitervollzogen werden mit allen Implikationen, die sich daraus für die personelle und materielle Vollausstattung der Bundeswehr ergeben.

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Wladimir Putin. Imago

 

Denn während wir die notwendigen Debatten teils noch führen, hat der Kreml längst entschieden: In den nächsten Jahren soll der Umfang der russischen Armee auf 1,5 Millionen Kräfte anwachsen. Die Organisationsstrukturen der russischen Streitkräfte unter anderem an der Nordostgrenze zur Nato wurden bereits ausgebaut. Richtig implementiert, werden die russischen Reformen zu einer Massenarmee sowjetischen Ausmaßes führen. Damit wird „Masse“ auch in Zukunft eine militärische Qualität an sich bleiben. Der Krieg gegen die Ukraine ist für die Reform der russischen Streitkräfte als lernende Organisation der bestimmende Faktor. Eine Niederlage der Ukraine oder ein irgendwie gearteter russischer Sieg würde Putin und seine internationalen Seelenverwandten weiter darin bestärken, dass Krieg das Mittel der Wahl ist, um politische Ziele zu verwirklichen. Auch das müssen wir berücksichtigen, wenn ein „Einfrieren“ des Kriegs diskutiert wird.

Eine Bedrohung ist am Ende nur so groß wie die Angriffsfläche, die wir ihr bieten. Die Nato hat ihre Verteidigungspläne neu aufgelegt und die Kräfte an der Nordostflanke gestärkt. Die notwendige Entschlossenheit zur Verteidigung ist heute da – militärisch, politisch und in meiner Wahrnehmung auch gesellschaftlich.

Wird sie es bleiben? Dass auf dem Ludwig Erhard Gipfel ein Raum für sicherheitspolitische Themen geschaffen wurde, ist Ausdruck für das zunehmende Verantwortungsbewusstsein unserer Gesellschaft für die eigene Sicherheit. Gehen wir diesen Weg weiter, bekommt Sicherheit auch zukünftig die Ressourcen, die sie benötigt. Wie sicher wir an der Nato-Nord-Ostflanke sind, wird sich am Ende daran zeigen, wie viel Vulnerabilität wir als Gesellschaft in der Zukunft noch bereit sind, zuzulassen.

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