Liverpooler Liebeserklärungen zum Abschied eines deutschen Trainers
Im Februar in Liverpool: Vor dem Premier-League-Spiel gegen den FC Burnley laufen Liverpool-Fans an einem Wandgemälde Klopps vorbei.
Deutschland hat zwei Botschafter in Großbritannien: den offiziell akkreditierten – und Jürgen Klopp. Sie könnten kaum gegensätzlicher sein. Unser offizieller Mann in London hat seinen Arbeitsplatz am Belgrave Square, mitten im nobelsten Viertel der britischen Hauptstadt. Klopp ist an der Anfield Road in Liverpool beschäftigt, die in einem der ärmsten Wohnviertel des Landes liegt. Botschafter Miguel Berger kennen einige Briten, weil er gelegentlich in Nachrichtensendungen der BBC auftritt, um deutsche politische Entscheidungen, oder – wie jüngst – militärische Geheimhaltungspannen zu erläutern. Der Liverpooler Fußballtrainer Klopp gibt zweimal wöchentlich eine eigene Pressekonferenz und berichtet über den Zustand seiner Mannschaft. Ihn kennen praktisch alle Engländer, jedenfalls alle, die Fans des FC Liverpool sind oder sich für Fußball interessieren.
Klopp würde sich selbst sicher nicht bewusst als Repräsentant seiner deutschen Heimat begreifen. Vielmehr ist er längst ein „Roter“, wie die Anhänger seines Vereins sich nach ihrer Vereinsfarbe nennen, und in Liverpool zu Hause. Aber eine gewisse Beispielrolle hat er doch. Als der britische Premierminister Rishi Sunak Ende April in Berlin bei Kanzler Olaf Scholz seinen ersten Besuch machte, rühmte er „das besondere freundschaftliche Band“ zwischen den beiden Nationen, das sich auch zeige „in der Zuneigung, die Liverpool für Jürgen Klopp aufbringt oder München für Harry Kane“.
Als Klopp im Januar ankündigte, er werde den Trainerposten zum Sommer aufgeben, war das eine nationale Nachrichtenmeldung in Großbritannien. Zwar ist jeder Trainerwechsel eines Klubs in der Premier League, der englischen Bundesliga, eine Meldung wert. Aber mit diesem Trainer verbindet sich Besonderes: Er war fast neun Jahre bei ein und demselben englischen Verein tätig, eine außergewöhnlich lange Zeit. Er gewann in dieser Zeit sieben verschiedene Titel mit seiner Mannschaft, und er kündigte das Ende seines Engagements selbst aus freien Stücken an, statt – wie es die Regel ist – vom Management des Vereins gekündigt zu werden.
„Er gehört zur Familie“
An einem Wochenende Anfang Mai ist die Zuneigung in den Pubs rund um die Anfield Road überall zu spüren; Hingabe wäre auch kein zu starkes Wort. Selbst wenn die Mannschaft auswärts spielt und der Anstoß schon mittags stattfindet, kommen Dutzende lieber in die Kneipe, statt das Spiel zu Hause anzusehen, viele bringen die Familie gleich mit. Keith Baldwin und Terry Faulkner, zwei Paketboten von Amazon, verlängern im Pub gerade ihre Mittagspause. Unter ihren gelben Warnwesten leuchten die roten Heimtrikots. Die beiden überbieten sich in liebevollen Charakterschilderungen des „Boss“ und des „Alten“. Seine Leidenschaft sei das Beste an ihm. Und dass er die Versprechen gehalten habe, die er anfangs machte, und vor der Kamera kein anderer sei als jenseits der Scheinwerfer. „Er gehört zur Familie“, sagt Faulkner, der Ältere der beiden, „er ist ein moderner Shankly“, sagt Baldwin, der Jüngere. Shankly, ein Schotte, war einst 25 Jahre lang Trainer des FC Liverpool, oder besser „Manager“, wie die englische Bezeichnung heißt, die es genauer trifft, weil es dort nicht nur um Taktik und Training geht, sondern um Wir-Gefühl, um eine Einheit zwischen Fans und Verein. „Und er übernimmt Verantwortung für uns“, lautet schließlich das rührendste Lob, das der Fan Faulkner für Klopp parat hat.
Liverpool war nach London im Zweiten Weltkrieg das Ziel der meisten Bombenangriffe der deutschen Luftwaffe. Sie galten dem wichtigsten britischen Nachschubhafen, erzeugten 4000 Tote und rund 70000 Obdachlose. Vor zwei Jahren erhielt Jürgen Klopp als erster Deutscher die höchste Auszeichnung der Stadt, „the Freedom of Liverpool“ – eine Art Ehrenbürgerwürde, zu der (anders als in Deutschland, wo damit oft ein Freifahrschein für den Nahverkehr verbunden ist) das ausdrückliche Recht gehört, fortan eine Schafherde durch die Straßen der Stadt zu treiben. Drei der Beatles haben die Auszeichnung auch und Nelson Mandela. „Kein Mensch hätte gedacht, dass mir mal irgendjemand den Schlüssel zu irgendeiner Stadt anvertrauen würde“, sagte Klopp damals scherzhaft – tatsächlich bekam er dann auch keinen Schlüssel, der gelegentlich mit der Verleihung der Ehrenbürgerwürde kommt, sondern eine Urkunde.
Als die ihm im Rathaus überreicht wurde, schritt der Trainer Hand in Hand mit seiner Frau Ulla zur Zeremonie, seiner „Missus“, wie er sie selbst oft im Einklang mit den umgangssprachlichen Liverpooler Gepflogenheiten auf Englisch bezeichnet. „My Missus and my sons“ – Klopp und seine Frau haben je einen Sohn aus früheren Ehen – seien ja noch viel tiefer in die freundliche, offene, warme Stadt der „Scousers“ eingetaucht als er selbst, erzählte er bei jener Gelegenheit, die ihn zum Ehren-Scouser machte. Die Liverpooler nennen sich selbst so mit Stolz; viele auswärtige Engländer verwenden die Bezeichnung eher mit verächtlichem Ton. Scouser leitet sich von Lobscouse ab, was wiederum das englische Wort für Labskaus ist, für jenes Seemannsgericht, das aus gepökeltem Rindfleisch, Roter Beete und Kartoffeln besteht.
Das zweifelhafte Image Liverpools im Vereinigten Königreich hätte theoretisch ein Handicap für die nationale Aufmerksamkeit sein können, die Klopp genießt. Es ist zudem eine Abneigung auf Gegenseitigkeit. Die Liverpooler Fans sind bekannt für ihr Pfeifen und Buhen, wenn im Stadion der Trommelwirbel die Nationalhymne ankündigt, bei ihnen ist die Erinnerung noch lebendig daran, dass die konservative Regierung unter Margaret Thatcher vor vier Jahrzehnten ernsthaft erwog, die Stadt mit ihren Abrissbrachen und verwaisten Lagerhäusern einem „geordneten Niedergang“ auszusetzen. Aber der FC Liverpool ist auch eine Weltmarke, mit Fanklubs in allen Ecken Englands und des Globus und, wie Klopp schwärmerisch sagt: „Liverpool ist das Herz des Fußballs.“
Ablenkung von Pflichten und Zwängen
Er selbst ist der Herzschrittmacher. Zwar wisse er, dass es wichtigere Dinge gebe im Leben, aber während der neunzig Minuten eines Spiels „habe ich das nie gespürt“. Und das sei gut so, erklärt Klopp in einem Videoclip auf der Klub-Website, „denn wir alle arbeiten viel, und wir brauchen eine Ablenkung für all unsere Pflichten und Zwänge“. Das ist die schlichte Lebensphilosophie, die den deutschen Trainer in den Augen seiner Fans zu einem der ihren werden lässt.
Im zweistöckigen FCL-Fanshop vor dem Stadion kaufen sie in Scharen Jürgen-Klopp-Schals, Klopp-Becher, KloppPuppen, Klopp-Knetfiguren und Klopp- Poster. Der Absatz ist gestiegen statt gesunken in den letzten Wochen, nachdem der bevorstehende Abschied des Managers bekannt wurde. Manche Devotionalien tragen die Buchstaben YNWA und kennzeichnen damit die Stadionhymne „You’ll never walk alone“. Sie kann gar nicht oft genug angestimmt werden, nach Siegen, manchmal nach Niederlagen, Klopp singt sie auf dem Spielfeld inmitten seiner aufgereihten Mannschaft, alle haben die Arme auf den Schultern ihrer Nachbarn, es ist das gerührte Gemeinschaftserlebnis einer Fußballgemeinde, die wie keine andere in England gern in Rührseligkeit schwelgt. Es war übrigens diese Gefühlsbombe, die sich der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz schon mehrfach in spröden Bundestagsreden als Regierungsmotto ausborgte, um zu beteuern, dass in Energie- und Finanzkrisen niemand alleingelassen werde.
In der englischen Premier League, der obersten Fußball-Liga, sind seit ihrer Gründung 80 Deutsche aktiv gewesen, die meisten als Spieler, manche als Trainer. Der langjährige deutsche Nationaltorwart Jens Lehmann war beim Londoner Klub Arsenal unter Vertrag, Michael Ballack spielte bei Chelsea, Jürgen Klinsmann bei Tottenham Hotspurs. Robert Huth, auch ein deutscher Nationalspieler, verbrachte sogar seine gesamte Profikarriere über 17 Jahre bei vier verschiedenen englischen Klubs. Dann gibt es noch Uwe Rösler, der als Spieler und später als Trainer die Farben von je drei englischen Vereinen trug und der sein letztes Engagement bei Leeds United vor neun Jahren (kurz bevor Klopp bei Liverpool anfing) mit dem Versprechen begann, er wolle der Mannschaft Klopps „Heavy-Metal- Fußball“ beibringen.
Keiner der genannten Deutschen hat im Bewusstsein der englischen Fußballfans die Klopp’sche Präsenz erreicht. Das liegt an seinem Wesen und seiner Anmutung auf dem Rasen, an seinem ungezügelten Ärger und seiner ungezähmten Freude, auch an Momenten wie jenem, in dem ihm vor der Fan-Tribüne nach dem Spiel, als er sich mit Applaus bei den Anhängern bedankte, der Ehering vom Finger rutschte und Zehntausende im Stadion beobachten konnten, wie er einen Ordner animierte, ihm beim Suchen im Gras zu helfen. Es liegt aber auch an seinen Auftritten jenseits des Spielfelds, in Vereinsvideos und vor allem in den permanenten Pressekonferenzen. Bei dieser Gelegenheit trat nicht bloß der Fußballtrainer Klopp, sondern auch der Philosoph, der mitfühlende Spielervater und mitunter der Politik-Kommentator Klopp auf. Zwei Jahre nach dem Brexit-Votum befand er, „lasst uns noch mal wählen mit den korrekten Informationen, nicht mit den Infos, die es in der Austrittskampagne gab, die stimmten ja nicht“. Er schüttelte den Kopf über Nigel Farage und Boris Johnson und sagte: „Wir müssen ein System finden, mit dem wir Leute in die Lage bringen, unsere Probleme zu lösen, und nicht diejenigen nehmen, die am lustigsten sind oder den verrücktesten Haarschnitt haben.“ Klopp nahm an seinem Pressekonferenz-Tisch auch Covid-Impfgegner aufs Korn und bezweifelte die Richtigkeit der Weltmeisterschafts-Vergabe an Qatar.
Manchmal brachte er seinem Auditorium unbeabsichtigt Deutsch bei, auf Englisch allerdings, wenn er deutsche Redewendungen wörtlich übersetzte und beispielsweise feststellte, „life is no wish concert“, oder erläuterte, warum er „on the tree“ gewesen sei, als ihn die Aktion eines Spielers auf den Baum trieb.
Klopps eigener Fan-Gesang
Jürgen Klopp hat es in Liverpool nicht nur zum Namenspatron einer Kneipe – „Jürgen’s Bierhaus“ – und zu mehreren Porträts an Hausgiebeln gebracht, sogenannten Murals, giebelhohen Wandgemälden, die jetzt sein prominentes Lächeln und Sätze verewigen wie „Wir sind Liverpool, das heißt mehr“. Klopp hat auch einen eigenen Fan-Gesang, der im Refrain endet „I’m in love with him and I feel fine“ und der vorher im Text von dem Glück handelt, dass „Jürgen ein Roter ist“ und „wahr machte, was er versprochen hat“.
Das bezieht sich auf Klopps ersten öffentlichen Auftritt vor der FC-Liverpool-Kulisse, in dem er vor neun Jahren ankündigte, er werde die Mannschaft zu einem Titel führen. Jetzt, zur Ankündigung des Abschieds, hat er wieder ein Versprechen abgegeben, das vielen seiner Fans ein Herzenstrost sein wird. „Was ich ganz genau weiß“, sagte er im Januar, „ist, dass ich nie, nie wieder einen anderen Klub in England als Liverpool trainieren werde. Zu 100 Prozent. Das geht nicht. Meine Liebe für diesen Klub, mein Respekt für die Leute ist zu groß. Ich könnte es nicht. Keine Chance. Das hier ist ein Teil meines Lebens, wir sind Teil der Familie, wir fühlen uns hier zu Hause.“
Das war im Januar. Damals hatte Klopps Mannschaft noch Aussicht auf den Gewinn von vier Trophäen am Ende seiner Abschiedssaison. Davon ist bislang nur ein Sieg im Football-League- Pokal wahr geworden, die anderen Hoffnungen haben sich zerschlagen, in der Meisterschaft ist Liverpool hinter Arsenal und Manchester City zurückgefallen. Ist Klopps Suggestionskraft also schon verblasst, bevor er überhaupt Liverpool verlassen hat und in seinem neuen Domizil auf Mallorca angekommen ist?
Peter, der Wirt im Pub „The Park“ gegenüber vom Stadioneingang, lässt auf den Boss nichts kommen. „Es liegt an der Mannschaft“, sagt er, während er die leeren Gläser einsammelt, die die Fans nach der Fernsehübertragung des Auswärtsspiels stehen gelassen haben. Der sei am Ende einfach die Puste ausgegangen.