#LatinaFairyCore und Co.: Stereotype auf Tiktok: Ist das schon kulturelle Aneignung?

#latinafairycore und co.: stereotype auf tiktok: ist das schon kulturelle aneignung?

Trends kommen und gehen. Aber wann wird aus einer harmlosen Begeisterung kulturelle Aneignung?

Unter den Hashtags #LatinaFairyCore und #SlavicAesthetic finden sich auf Tiktok zahlreiche Videos, die den angeblichen Mode- und Lebensstil der beiden Kulturen glorifizieren. Warum der Trend so beliebt ist – und wann das Spiel mit Stereotypen zum Problem wird.

Eine Frau, gekleidet in einem weißen Rüschen-Oberteil, schlendert mit einer Korbtasche in der Hand und einer roten Rose im Haare entlang einer Kirche. Ein junges Mädchen liegt in einem Satin-Kleid im Bett, den Blick verträumt auf die Wand gerichtet, an der eine Ikone von Maria und Jesus hängt. Eine andere Frau posiert in einem eng anliegenden Rock, die Haare vom Wind verweht. Um ihren Hals baumelt eine goldene Kette mit Kreuz-Anhänger. So sieht #LatinaFairyCore aus, ein auf Tiktok beliebter Modestil.

Schnitt nach Europa: Eine Blondine mit schwarzer Pelzmütze auf dem Kopf blickt in die Kamera, zwischen den Lippen klemmt eine Zigarette. Eine Frau in Pelzmantel und kniehohen Lederstiefeln steht im Schneeregen vor einem verfallenen Wohngebäude. Eine junge Frau hält ein Glas Schnaps zwischen behandschuhten Fingern, ein bunt gemustertes Kopftuch bedeckt ihre Haare. So sieht #SlavicAesthetic aus. Beide Strömungen haben auf Tiktok zahlreiche Anhänger gefunden, als auf Ästhetik reduzierte Kulturen lösen sie Begeisterung aus.

Aber nicht nur.

“So verstehen wir Kultur heute nicht mehr”

Dass auf Tiktok “ziemlich wild mit kulturellen Identitäten verhandelt wird, ist sehr bemerkenswert, aber nicht verwunderlich”, sagt Dr. Lisa Johnson, Ethnologin im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Dem Trend liegt ein problematisches Kulturverständnis zugrunde: Der Gedanke, dass Kulturen abgeschlossene Einheiten seien, die sich nicht vermischen dürfen – in der Wissenschaft als “Ethnopluralismus” bezeichnet. Ein umstrittenes Modell, das den Eindruck vermittelt, die Zugehörigkeit zu einer Kultur hänge allein von bestimmten Charakteristiken ab. Diskriminierung schwinge dabei oft unterschwellig mit, so Johnson. “So verstehen wir Kultur heute nicht mehr.”

Den beiden Tiktok-Trends liegt dennoch genau dieser Gedanken zugrunde. Zusammenschnitte zeigen hier die immer gleichen Klamotten, Accessoires und Orte. Im Falle der Latina sind das fließende Kleider, Fächer, Rosenkränze, Goldschmuck und Architektur aus der Kolonialzeit. #SlavicAesthetic drückt sich oft über Pelz, Zigaretten, luxuriöse Taschen, Sonnenbrillen und lange Fingernägel aus. Als Kulisse halten bröckelnde Sowjetbauten her oder das Haus der “Slavic Grandmother”, mit eingelegtem Gemüse, gehäkelten Tischdecken und Wandteppichen.

Generation Z sehnt sich nach Gemeinschaftsgefühl

“Ich glaube, dass es im aktuellen Diskurs sehr einfach ist, durch diese Zurschaustellung von bestimmten kulturellen Identitäten auf Tiktok und in der Generation Z viel zu bewirken”, sagt Johnson. Die vielen jungen Menschen, die Inhalte zu #LatinaFairyCore und #SlavicAesthetic produziert haben, lassen beide Stilrichtungen in rasanter Geschwindigkeit zu Trends werden. Ein Mechanismus, der typisch für Tiktok ist: Die Video-Plattform bietet allerlei Partizipationsmöglichkeiten. “Dabei können viele an den kulturellen Identitäten anderer teilhaben und zuvor Fremdes neu erlernen”, erklärt die Ethnologin.

Womit aber natürlich die große, die naheliegende Frage im Diskussionsraum steht: Ist das nicht, Achtung, kulturelle Aneignung? Und wieso sollte die plötzlich okay sein, wenn sie sich nur auf Oberfläche, Design, Ausgestaltung beschränkt?

Tatsächlich scheint der Großteil der Nutzer, die die Trends verbreiten, nicht aus der jeweiligen Kultur zu kommen. Viele von ihnen behaupten allerdings, sich der anderen Kultur zugehörig oder zumindest zu ihr hingezogen zu fühlen. Offensichtlich finden junge Menschen Gefallen an den kulturellen Identitäten, wie sie in den Videos vermittelt werden. An dem Kleidungsstil, der Art und Weise, wie sich die Menschen in den Videos verhalten, den Orten, an denen das Ganze stattfindet.

“Es nicht unüblich, dass sich in der jungen Generation eine Form von Zuwendung herausbildet und dass man das auch gerne sein möchte oder auch haben möchte”, erläutert Johnson. Besonders für junge Menschen in der Phase der Identitätsbildung biete Tiktok eine Chance, den Selbstausdruck zu erproben und zu sich kreativ zu entfalten. Und Silvana Weber, Kommunikationspsychologin an der Universität Würzburg, ergänzt, das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und Gemeinschaftsgefühl sei tief im Menschen verankert. “Deswegen ist es so verlockend, bei einem Trend mitzumachen, der ein starkes ‚Wir-Gefühl‘ vermittelt.”

Verlockend für das Selbstwertgefühl 

Das Spiel mit (kulturellen) Stereotypen könne Spaß machen, gibt Weber zu Bedenken: “Es führt aber oft zu überzogenen Darstellungen auf sozialen Medien.” Wo Stereotype die Realität stark reduzieren oder Andersartigkeit an einem gewissen Punkt fixieren, wird es kritisch. Dann steht die Tür für etwaige Diskriminierungen weit offen, denn natürlich sind die Schubladen, in die hier einen ganzer Kulturraum mal eben en passant einsortiert wird, nicht nur positiv konnotiert. Jedenfalls nicht da draußen, in der Welt fernab von Tiktok.

Auf der Video-Plattform indes stehen die Elemente und Eigenschaften, die mit der jeweiligen Kultur assoziiert werden, ausschließlich in einem positiven Kontext. Ja, das kann man toll finden, affirmativ, bejahend – oder eben naiv. Für das Selbstwertgefühl sei es verlockend, diesem Bild besonders gut zu entsprechen, sagt Kommunikationspsychologin Weber. “Weil man positives Feedback von außen erfährt und entsprechend ,gefeiert‘ wird.” Diese Erfahrung machen aktuell die Tiktok-Nutzer, die den umjubelten Trend-Gruppen angehören, also tatsächlich slawische oder lateinamerikanische Wurzeln haben und sich zu entsprechenden Hashtags präsentieren.

“Durch das Internet öffnen sich kulturellen Identitäten nach außen und können dadurch von anderen sekundär erlernt, übernommen, weiterkonstruiert werden”, erklärt Johnson. Personen, die selbst der Kultur angehören, hätten Gelegenheit, sich darin wiederfinden und mit dem Trend identifizieren. Dass #LatinaFairyCore und #SalvicAesthetic innerhalb der jeweiligen Community Anklang finden, sei also nicht überraschend.

Wenn der Trend zum Problem wird

Problematisch wird es, wenn die Reduzierung zum Klischee wird, mehr noch: zum Vorurteil. Ein weiterer Trend, der derzeit umgeht und über Fashion und Ästhetik hinausgeht, ist die “Ethnic Nose Challenge”. In den dazugehörigen Clips zeigen junge Menschen ihr Seitenprofil und verweisen stolz auf ihre Nasen, die angeblich repräsentativ für die jeweilige Herkunft stünden. “Das ist höchst problematisch, weil es auf biologische und rassistische Stereotype zurückgreift, die auf jeden Fall zu vermeiden sind”, mahnt Lisa Johnson.

Durch den Versuch, einer stereotypen Optik, einem Verhalten oder Lifestyle zu entsprechen, reduziere man sich selbst auf bestimmte Merkmale, erklärt Weber. “Man objektifiziert sich selbst – macht sich also zu einem Objekt, das bestimmten Stereotypen entsprechend gestaltet werden muss.”

Die Forschung hat gezeigt, dass Selbstobjektifizierung oft mit geringerem Selbstwert, Wohlbefinden und einem diffuseren Selbstkonzept einhergeht. Auch deshalb ist aus psychologischer Warte schwierig, sich eine kulturelle Identität anzueignen, zu der man eigentlich keinen Bezug hat. Nicht ohne Grund kreisten in den vergangenen Jahren hitzige Debatten um diese Frage, auch in Deutschland. Freilich nicht immer ganz so komplex, wie man es sich wünschen würde.

Umso heftiger wird die Diskussion auf Tiktok geführt. Diejenigen, die tatsächlich der Kultur angehören, spalten sich in zwei Lager: Hier alle, die gerne bei dem Trend mitmachen, auf der anderen Seite die, die #LatinaFairyCore und #SlavicAesthetic torpedieren und ächten.

Kolonisierung und Armut schwingen im Hintergrund mit

Kulturelle Communities sollten keine Ästhetiken sein, kommentiert da durchaus nachvollziehbar eine lateinamerikanische Mode-Journalistin die #LatinaFairyCore-Bewegung. Eine junge Frau aus Mexiko beschwerte sich, dass einige sehr alte Aspekte der Kultur übernommen würden, um der aktuellen Mode zu entsprechen – ohne näher auf die Geschichte einzugehen. Den gleichen Punkt machen viele weitere Personen mit lateinamerikanischen Wurzeln. Religiöse Elemente wie der Rosenkranz und die koloniale Architektur symbolisieren ein dunkles Kapitel der Geschichte – das in den #LatinaFairyCore-Videos jedoch nie reflektiert wird, wie auch?

Ähnliches gilt für die “Slavic”-Stilrichtung. Ein junger Mann erklärt in einem Video, warum er den Trend problematisch findet: “Meistens gelten die armen slawischen Länder als ‘ästhetisch’, was bedeutet, dass folgende Dinge romantisiert werden: weitverbreitete Depression, gesundheitsschädliche Arbeitsplätze, schmutzige Orte, eine beschissene Regierung und Kinder, die ohne Zukunftsperspektive aufwachsen.” Eine Frau, die aus der Ukraine stammt und jetzt in den USA lebt, erzählt, dass sie früher als “dreckige Einwanderin” beschimpft wurde. “Und jetzt romantisieren sie ‘Slavic Core’ als wäre es eine Ästhetik.”

“Es ist immer schlecht, wenn man sich etwas aneignet, ohne darüber zu reflektieren, dass Menschen Diskriminierung und rassistische Erfahrung erlitten haben, um zu dieser Ästhetik zu kommen – die dann plötzlich alle lieben”, sagt dann auch Dr. Johnson.

Kultureller Austausch oder kulturelle Aneignung?

Auch sie sieht, dass den beiden Tiktok-Trends ein kultureller Austausch zugrunde liegt, der schnell in kulturelle Aneignung umschlagen kann. Weber stimmt zu: Kulturelle Aneignung könne dazu führen, dass Kulturgüter aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen, entfremdet oder trivialisiert werden. “Oft werden dabei Machtverhältnisse deutlich, da kulturell dominante Gruppen Elemente aus unterdrückten Kulturen übernehmen, ohne die damit verbundenen Erfahrungen oder Diskriminierungen zu teilen.”

Eine Gefahr gehe von den Tiktok-Trends jedoch nicht aus, da sind sich beide Expertinnen einig. Das soziale Umfeld, in dem sich der Mensch bewegt, habe einen noch größeren Einfluss als Medientrends, so Weber. Außerdem habe die Vergangenheit gezeigt, dass Lifestyle- und Mode-Trends auf Tiktok oft schon nach wenigen Wochen wieder in Vergessenheit geraten. Wenn die Debatte eines zeige, findet Lisa Johnson, dann, “was die junge Generation mit Kultur macht, wie sie versucht, Kultur umzubauen und für sich nutzbar zu machen”.

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