Landstraßen-Bike im Fahrbericht: Yamaha XSR 900 GP - Retro trifft Nische
Auf Basis der 2022er XSR 900 hat Yamaha Hervorragendes aus vergangener Zeit mit sehr Gutem der heutigen Epoche verbunden und so die XSR 900 GP auf ihre zwei Räder gestellt. Die ist alles, nur keine graue Maus – trotz der Lackierung.
Die Yamaha XSR 900 GP ist kein Bike für die Rennstrecke, sondern als sportliches Landstraßenmotorrad konzipiert.
Der Lack ist ab von der Rennstrecken-Legende Estoril unweit von Lissabon: Die Farbe der Tribünen blättert, die Natur wuchert und erkämpft sich so manchen einst betonierten Quadratmeter zurück. Geschichte sind auch die legendären Rennerfolge von Eddie Lawson und Wayne Rainey; die beiden wurden zwischen 1985 und 1993 auf Yamaha fünfmal Motorrad-Weltmeister der Klasse über 500 Kubik. An diese Goldenen Zeiten will Yamaha mit der XSR 900 GP erinnern; das neue Retro-Sportbike steht für die gesamte Ära.
Die Neunhunderter mit dem bekannten Yamaha-Dreizylinder (87,5 kW/119 PS) ist kein Fahrzeug für die Rennstrecke. Sie ist als sportliches Landstraßenmotorrad konzipiert, das freilich auch auf einem Rundkurs herrliches Oldtime-Renngefühl aufkommen lässt und den Fans 14.000 Euro wert sein soll.
Motor stark und ziemlich sparsam
Angetrieben wird die jüngste XSR vom renommierten CP3-Motor: Drehmomentstark ist er, drehfreudig ebenfalls, dazu liegt er mit knapp 120 PS in einer Leistungsklasse, die im Straßenverkehr angemessen erscheint. Zudem läuft der Triple kultiviert, hat Dampf in jeder Lebenslage und ist hinreichend sparsam. Ganz zweifellos ist dieses Triebwerk, das sowohl in der MT-09 wie auch in den diversen Tracer9-Versionen zum Einsatz kommt, eines der besten, die der Markt seit Jahren offeriert. Kombiniert wird es mit dem Chassis der 2022 erschienenen XSR 900, damals ebenfalls als “Sport Heritage” lanciert.
Der Aluguss-Brückenrahmen ist ein Kunstwerk; leicht und bis ins letzte Detail perfekt gestaltet und verarbeitet. Ergänzt wird er in der neuen GP durch Kayaba-Federelemente, die im Straßenverkehr keine Wünsche offenlassen: Sie sind in allen Parametern individualisierbar und von hoher Qualität. Das gilt in gleicher Weise für die Nissin-Dreischeibenbremsanlage, die von einem Brembo-Radialbremszylinder angesteuert und, natürlich, von einem kurventauglichen ABS kontrolliert wird. Auch die Reifen in gut gewählter Dimensionierung tragen ein Qualitätssiegel. Nicht überzeugen können dagegen die Reifenventile; sie sind nicht abgewinkelt, was die Luftdruckkontrolle erschwert.
Lange Touren nur, wenn man Yoga macht
Schwingen wir also das rechte Bein über den kantigen Sitzbankhöcker, der im Normalbetrieb den Soziussitz verdeckt und charakteristisch für die Rennboliden der 1980er und 1990er Jahre ist. Der gemäßigte Stummellenker trägt zur sportlichen Sitzhaltung bei. Der Sitz ist bequem geformt, die Fußrasten sind höher und weiter hinten montiert, die Lenkergriffe weiter vorn und tiefer platziert als bei der bekannten MT-09, der Ausgangs-Yamaha. Gegenüber dieser wurde die Schwinge übrigens um 5,5 Zentimeter verlängert.
Ausgiebige Touren werden von jenen problemlos verdaut, die regelmäßig ihre Yogaübungen absolvieren. Denn Nacken, Handgelenke sowie Hüfte und Knie stecken jenseits der 50 nicht mehr alles gerne weg. Aber für stimmungsvolle Ausflüge und flottes Wedeln auf kurvenreichen Strecken mit gutem Asphalt ist die Sitzposition stimmig; der Windschutz ist ok, der Knieschluss am Tank gut.
Der Blick ins Cockpit macht uneingeschränkt Freude: Die Verkleidung ist mit Splinten an einer filigranen Stahlrohr-Konstruktion gesichert, die Gabelkappen sind gedrillt. Schalter und Hebel entsprechen dagegen dem jüngsten Yamaha-Standard.
Das gilt ebenso für die IMU-basierte Fahrassistenz-Elektronik samt Wheelie-Kontrolle und vielfach regelbarer Traktionskontrolle sowie für das gut ablesbare TFT-Display. Es beherrscht alle Konnektivitäts-Gimmicks, zeigt in Verbindung mit einem gekoppelten Smartphone auf der Basis von Garmin Street Cross sogar die zuvor ausgewählte Strecke als Karte an. Nutzt man diese Technik nicht, präsentiert das Display einen großen, halbrunden Drehzahlmesser; auch dies ein stilistischer Leckerbissen. Umständlich ist alleine die Installation des Smartphone-Kabels am serienmäßigen USB-C-Port; er liegt unter einer Cockpit-Abdeckung, deren drei Clips dazu mit Werkzeug gelöst werden müssen.
Mut zum Nischenfahrrad
Das Fahren selbst ist eine Freude: Der Motor beherrscht alle Spielarten aus dem Effeff, das Fahrwerk reagiert feinfühlig, die Bremswirkung überzeugt genauso wie die Stabilität in Kurven und auf der Autobahn. Weil all das für eine Yamaha nicht überraschend ist, imponiert umso mehr der Mut des Herstellers, ein solches Nischenmotorrad auf die Räder zu stellen. Denn aller Voraussicht nach wird die XSR 900 GP nicht auf Tausende von Verkäufen pro Jahr kommen.
Nicht deshalb, weil ihr Preis von 13.900 Euro zu hoch wäre; er erscheint absolut angemessen. Auch wenn sie, technisch gesehen, alltagstauglich ist, so mutet sie doch als typisches Drittmotorrad an. Und wie viele Yamaha-Fans werden sich mit einer GP so sehr exponieren wollen?
Noch konsequenter kann Letzteres, wer sich den sehr stimmigen Racekit (knapp 3000 Euro) zulegt: Dann wird aus der unscheinbaren Unterflur-Auspuffanlage ein echter Akrapovič-Titanauspuff im Racedesign, dazu kommen ein Motorspoiler und diverse weitere Accessoires, die die XSR 900 auf einen noch höheren Level heben. Schön zu erleben, dass es selbst bei Großserienherstellern überzeugte “Spinner” gibt, die sich trauen, die breiten Trampelpfade zu verlassen. Aber die graue Lackierung, die hätten sie sich getrost sparen können.
Noch mehr aktuelle Nachrichten finden Sie auf ntv.de