Antisemitismusvorwürfe auf Berlinale – Juror Thomas Heise zu Chialos Aussagen: Entschuldigen Sie, das ist DDR

antisemitismusvorwürfe auf berlinale – juror thomas heise zu chialos aussagen: entschuldigen sie, das ist ddr

Der Dokumentarfilmer Thomas Heise war Mitglied der Dokfilm-Jury der 74. Berlinale.

Der Dokumentarfilmer Thomas Heise bildete zusammen mit der französischen Filmemacherin und Anthropologin Véréna Paravel und dem irakisch-französischen Regisseur Abbas Fahdel die Dokumentarfilm-Jury der 74. Berlinale. Sie zeichneten den Film „No Other Land“ aus, die Produktion eines israelisch-palästinensischen Kollektivs, dem der Palästinenser Basel Adra und der Israeli Yuval Abraham angehören. Während der Gala sprach Yuval Abraham von Apartheid, als er von den unterschiedlichen Bedingungen berichtete, unter denen er und Basel Adra leben. Adra lebt im Westjordanland.

Mitglieder aus Jurys sowie Preisträgerinnen und Preisträgern forderten verbal oder mit Ansteckern einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg. Der amerikanische Regisseur Ben Russell sprach mit Blick auf das Vorgehen der israelischen Armee von Genozid. Daran gab es Kritik bis hin zu Vorwürfen von Israelhass und Antisemitismus. Hier spricht Thomas Heise darüber, wie er die Preis-Gala wahrgenommen hat und über die Folgen, die diese zeitigte. Als Treffpunkt hat Heise eine Bäckerei in der Schönhauser Allee in Berlin-Prenzlauer Berg vorgeschlagen.

Herr Heise, lassen Sie uns über das sprechen, was bei der Preisverleihung der Berlinale passiert ist.

Die öffentliche Wahrnehmung ist völlig verzerrt. Die Verurteilung der Forderung „Waffenstillstand jetzt“ als antiisraelisch ist falsch. Selbstverständlich „Waffenstillstand jetzt“, wann denn sonst? Das will auch der amerikanische Präsident. Das antiisraelisch zu nennen, ist grotesk. Da fliege ich irgendwann in die Luft bei diesem verkorksten Gerede. Haben Sie das Gespräch mit dem Kultursenator bei ZDF-heute gesehen?

Welches meinen Sie?

(Thomas Heise holt das Transkript eines Interviews aus der Tasche, das Joe Chialo einen Tag nach der Berlinale-Preisverleihung in der Heute-Sendung gab. Er liest vor.) Joe Chialo: „Wir leben in einer Zeit, in der Antisemitismus, aber auch israelfeindliche Aktionen einen enormen Raum gewonnen haben, nicht nur in der Kultur, auch in der Gesellschaft. Beispielsweise in der FU hier in Berlin haben wir das erlebt, wir haben es auch im Hamburger Bahnhof erlebt, wo die Lesung von Hannah Arendt gestört wurde, und letzten Samstag, das war ein trauriger Höhepunkt.“ – Damit meint er die Preisverleihung bei der Berlinale.

Haben Sie das auch als Fortsetzung empfunden?

Die Vorfälle in der FU und im Hamburger Bahnhof waren schlimm. Diese Hysterie, das Gebrüll der Störer. Sie haben nichts, gar nichts Gemeinsames mit der Preisverleihung der Berlinale. Im Interview wird dann nach den konkret zu ziehenden Konsequenzen der antisemitischen Vorfälle, darunter der „pauschalen Israelkritik auf der Berlinale“, gefragt: „Wissen Sie, die wichtigsten Konsequenzen wären zu ziehen, wenn wir uns überlegen, wie die Jurys besetzt sind“, sagt Joe Chialo. „Denn von den Jurys aus werden bestimmte Themen in den Vordergrund gerückt. Von den Jurys aus werden auch bestimme Diskurse angeschoben, bestimmte Filme in den Vordergrund gerückt.“ – Was soll das heißen? Was heißt „bestimmte Themen“, „bestimmte Diskurse“, die da „angeschoben werden“? Abgesehen von der ganz falschen Vorstellung von der Arbeit einer Berlinale-Jury. Das ist Verschwörungstheorie. Heißt das, man muss sich angucken, wer Filme auswählen darf? Und wer ist das, der oder die da angucken soll? Entschuldigen Sie, das ist DDR. Das geht überhaupt nicht! Sind wir damit gemeint? Wir haben den Film ausgezeichnet. Das ist eine Drohung, das ist Polizei.

(Thomas Heise liest weiter aus dem Transkript des Interviews mit Joe Chialo): „Wir müssen uns klar politisch positionieren und in die Kulturräume klar hinein diskutieren und klare Ansagen, Anweisungen machen, dass das, was wir letzten Samstag erlebt haben, auf keinen Fall etwas ist, das wir hier in Berlin oder auch in Deutschland, in Europa oder in der Welt ertragen, erdulden oder akzeptieren können.“

Was bedeutet das für Sie?

Wovon ist die Rede? Deutlich sind nur die Worte „Ansagen, Anweisungen“. Und die Wendung „auf keinen Fall“. Der Gegenstand selbst ist ein „etwas“ oder „das was“.

Manche haben die Gala unerträglich genannt.

Das fand ich nicht. Ich muss es aber respektieren, und auch, dass manche es unerträglich finden. Dann schlägt aber mediale Erregung mit ihren Steigerungsformen zu. Dann wird aus freundlichem Beifall in Sprechpausen „frenetischer Applaus zu israelfeindlichen Sprüchen“ und das, was gesagt wurde, antisemitisch. Aber das war es nicht. Wer wird einmal sagen, ich habe mich geirrt? „No Other Land“. Sprechen wir über den Film.

Warum hat Ihre Jury „No Other Land“ als Besten Dokumentarfilm ausgezeichnet?

Es war für uns klar der beste der nominierten Dokumentarfilme. Mein Part unserer Begründung geht so: Wir haben 20 über alle Sektionen hinweg nominierte Dokumentarfilme gesichtet und diskutiert. Unter der Regie von Basel Adra, Yuval Abraham, Hamdan Ballal und Rachel Szor schildert „No Other Land“ den Alltag in Masafer Yatta, einem Dorf im Westjordanland. Der Palästinenser Basel Adra, der in Masafer Yatta geboren wurde, und der israelische Journalist Yuval Abraham dokumentieren das Geschehen dort seit Jahren mit einer kleinen Kamera. Immer wieder, weil alles immer wieder von vorne beginnt. Willkürlich zum Truppenübungsplatz erklärt, ist nun die Zerstörung des Dorfes durch die israelische Armee, der Häuser, der Schule, des Spielplatzes, eine rechtlich korrekte, tatsächliche Katastrophe für die palästinensischen Familien, die hier seit langem leben. Wenn sie ihr Land verlassen, ist es verloren und fällt an den Staat Israel. Also bauen sie ihre zerstörten Häuser immer wieder neu auf oder leben in Höhlen in der Gegend bis zur nächsten gewaltsamen Räumung.

„No Other Film“ hat die französische Filmemacherin Véréna Paravel gesagt, die mit Ihnen in der Jury saß. Also „Kein anderer Film“, womit sie sagen wollte, dass die Entscheidung der Jury klar und einstimmig war.

Ja, denn der Film zeigt uns, was die unmenschliche, ignorante Politik der israelischen Regierung bewusst und zielgerichtet anrichtet. Er zeigt auch die Angriffe bewaffneter jüdischer Siedler auf das Dorf, mit dem Ziel, seine Bewohner ins Nichts zu vertreiben, und auch das gemeinsame Vorgehen von Armee und bewaffneten Siedlern. In diesem Film sehen wir Verwundete und wir sehen Mord, eine große Hoffnungslosigkeit und die verzweifelte Energie von Basel Adra, davon Zeugnis abzulegen. Zeugnis abzulegen und dies verantwortungsvoll und präzise zu tun, ist die eigentliche Grundlage jedes Dokumentarfilms. „No Other Land“ ist ein Erstlingsfilm, in dem eine unglaubliche Kraft steckt. Und Einsatz, der nicht ungefährlich war. Der Film war Ende September 2023 in der Endfertigung. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Werden denn bei der Berlinale wirklich keine Preise um der politischen Symbolik willen verliehen?

Das ist absurd. Sonst möchte ich gern eingeladen und bezahlt werden als politischer Symbolberater. Wir sind auch keine Angestellten oder Beamte. Wir waren Jurymitglieder aus drei verschiedenen Ländern. Ich glaube, wir müssen dringend offen miteinander sprechen und uns die Zeit dazu nehmen, Verständnis füreinander zu bekommen, einander sagen, was wir meinen, statt unbegründete Empörungsorgien zu veranstalten, die letztlich allen Beteiligten schaden. Denn wie rudert man jetzt wieder zurück?

Kennen Sie das Gedicht „Höre Israel“ von Erich Fried? Das war ein Großonkel von mir. Er ist 1938 noch rechtzeitig von Wien nach England emigriert. Ich habe ihn einmal als Kind kennengelernt, als er meine Eltern besuchte und meine Großmutter und dann habe ich ihn erst wieder kurz vor seinem Tod in Berlin getroffen. Er durfte lange nicht in die DDR reisen, wegen seiner Haltung.

Wegen welcher Haltung?

Wegen Prag 1968, und wegen Ulrike Meinhof und der RAF. Damals, kurz vor seinem Tod, habe ich ihm „Schweigendes Dorf“ gegeben, eine Textcollage dokumentarischen Materials über Menschen eines Dorfes in Mecklenburg, in dem am Ende des Kriegs ein Güterzug hielt mit 6000 Gefangenen, auf dem Weg ans Meer, mehrheitlich jüdischen Frauen. Bis hierhin war der Zug von Morsleben kommend, wo die Frauen in Salzschächten als Zwangsarbeiterinnen an Wunderwaffen gebaut hatten, eine ganze Woche unterwegs gewesen. Viele waren unterwegs gestorben und aus dem Zug geworfen worden. Die Bauern des Dorfes unweit des Bahnhofs widersetzten sich der Aufforderung der Wachen, ihnen Nahrungsmittel zu liefern, bis die Wachen den Bauern damit drohten, die Gefangenen freizulassen.

Was geschah dann?

Jetzt setzten die Bauern sich in Bewegung. In der Nacht waren Schüsse zu hören. Nach drei Tagen war der Zug plötzlich verschwunden. Zwei Jahre später fand man ein Massengrab am Bahnhof. 40 Jahre später wusste niemand mehr im Dorf davon. Und aus den Schächten des Konzentrationslagers im Vorharz war ein Endlager für radioaktiven Abfall geworden. Das ist jetzt geschlossen. Es gibt eine Erzählung von Willi Bredel und eine Skizze von Anna Seghers dazu. Das habe ich einmal recherchiert. Alles, was noch da war. Es sollte ein Film werden, wurde es aber nicht. Das habe ich Erich zu lesen gegeben, ein Dokumentarfilm aus Papier.

(Das von Erich Fried gesprochene Gedicht „Höre, Israel“ ist auf YouTube zugänglich, wir hören das Gedicht in der Bäckerei.)

Thomas Heise: Das ist jetzt 50 Jahre alt. Und das beschäftigt mich.

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