Furcht vor dem Kriegsdienst : Die Stadt, durch die ukrainische Verweigerer flüchten

Die ukrainische Armee will bis zu 500.000 zusätzliche Soldaten rekrutieren. Dabei sollen die Behörden teils sogar stark eingeschränkte Männer verpflichten. Das macht sich in der Grenzstadt Beregove bemerkbar.

furcht vor dem kriegsdienst : die stadt, durch die ukrainische verweigerer flüchten

Ukrainische Soldaten der 3. Sturmbrigade sind an der Frontlinie in der Nähe von Andrijewka im Einsatz.

Fast zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs sinkt die Zahl der Ukrainer, die sich freiwillig zum Kriegsdienst melden. Das Militär will 450.000 bis 500.000 Mann zusätzlich mobilisieren. In Kiew wird nun diskutiert, wie das gelingen kann.

Im Parlament sind bereits mehrere Gesetzentwürfe zur Thematik eingegangen – einer von der Regierung und vier Gegenentwürfe. Laut Anastasiya Rodina, Leiterin des Antikorruptionsausschusses des Parlaments, sieht die Version der Regierung allerdings eine Reihe von Befugnissen vor, die bei der Einberufung eines Wehrpflichtigen „zu Willkür führen können“.

Schon jetzt gibt es Berichte, wonach die Behörden stärker kontrollieren, ob Männer wehrpflichtig sind oder nicht. Das führt zum Beispiel zu langen Warteschlangen an den Grenzübergängen. Dem ukrainischen Grenzschutz zufolge wurden im vergangenen Jahr rund 11.000 Menschen aufgegriffen, die versucht hätten, die Grenze illegal zu überqueren – entweder mit gefälschten Papieren oder auf Wegen abseits der Kontrollpunkte.

Schleuser bringen Ukrainer nach Ungarn

Einer dieser Grenzorte ist Beregove in der westlichen Ukraine. Die meisten Einwohner dort sind ethnische Ungarn. Ein Besuch in der Stadt zeigt, wie ukrainische Männer über die ungarische Grenze gelangen können und wie streng die Behörden die Wehrtauglichkeit von stark eingeschränkten Männern prüfen.

Über ein bekanntes Internetportal ist schnell ein Fahrer ausgemacht, um auf dem umgekehrten Weg von Budapest nach Beregove zu kommen: Vasily. Auf dem Weg erzählt er, dass erst kürzlich vier 25-jährige Ukrainer von einem 56-jährigen Mann illegal über die Grenze gebracht worden seien.

„Die Männer saßen zwei Tage lang in einer baufälligen Hütte auf ukrainischem Gebiet, bis sie abgeholt wurden“, sagt Vasily. Nachdem sie in der Nacht über die Grenze gebracht worden waren, trafen sie Vasily, der mit seinem Minibus an einem Treffpunkt wartete und sie letztlich zum Hauptbahnhof in Budapest brachte. „Die Jungs froren, waren hungrig, aber glücklich“, sagt er.

Es ist nicht das erste Mal, dass Vasily eine solche Fahrt gemacht hat – als Teil eines Systems von Schleusern. Er weiß, wer der Kopf hinter diesem System ist, hat aber keinen direkten Kontakt zu ihm. „Diese Person ist sehr einflussreich“, sagt Vasily. Und er selbst lasse sich die Gelegenheit, Geld zu verdienen und Menschen zu helfen, nicht entgehen.

Bis zu 10.000 Euro kostet die illegale Ausreise

Vasily zufolge hat der Mann Verbindungen zum Einberufungsamt, der Polizei und zum Grenzschutz. Zwischen 3000 und 10.000 Euro kostet es demnach, über die Grenze gebracht zu werden – bei der billigsten Variante wird man über ein Feld geschleust, die teuerste beinhaltet die Bestechung von Grenzbeamten. So kämen pro Tag etwa 20 Personen illegal über die ukrainisch-ungarische Grenze.

Im vergangenen Jahr waren im Zusammenhang mit der Einberufung an die Front auch Fälle bekanntgeworden, in denen sich Ukrainer als wehruntauglich hatten einstufen lassen, ohne es zu sein. Es waren Bestechungsgelder an die Vorsitzenden der militärärztlichen Kommissionen geflossen.

So wurde beispielsweise in Chmelnyzkyj ein 42-jähriger Mann inhaftiert, weil er Ukrainern geholfen hatte, sich der Mobilisierung zu entziehen. Durch die Vermittlung des Mannes wurden diesen fiktive Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt. Der Mann verlangte 16.500 Dollar für seine Dienste.

Männer werden auf Wehrtauglichkeit untersucht

In Begerove befindet sich die Militärärztekommission in der Bezirkspoliklinik. In der dritten Etage der Einrichtung werden die wehrpflichtigen Bürger auf ihre Tauglichkeit untersucht.

Hat eine Person gesundheitliche Probleme, muss sie sich eine Etage höher einer weiteren Untersuchung unterziehen, bis eine Entscheidung über die Wehrtauglichkeit getroffen wird. Auf Grundlage dessen entscheidet das Einberufungsamt, ob die Person den Dienst an der Waffe antreten muss oder aus dem Militärregister gestrichen wird.

Im Warteraum sitzen viele Männer unterschiedlichen Alters, Unterhaltungen auf Ungarisch sind zu hören. Einer in diesem Raum ist Olexander. Er ist 35 Jahre alt und hat in den vergangenen Jahren in einem staatlichen Unternehmen gearbeitet. Olexander besaß eine Bescheinigung über eine vorübergehende Untauglichkeit für den Militärdienst, die ist aber inzwischen abgelaufen.

Nun hofft er, dass sie verlängert wird. „Ich bin der einzige Schweißer in unserem Unternehmen. Jemand muss bleiben, um zu arbeiten“, sagt er. Sollte das nicht der Fall sein, so sagt er, werde er sich aber nicht verstecken, sondern in den Krieg ziehen.

Männer sollen trotz schwerer Krankheiten einberufen worden sein

Auch der 40-jährige Victor wurde vorgeladen. Er ist ebenfalls im Besitz eines Bescheids über eine vorübergehende Untauglichkeit, die bis zum März 2024 gültig ist. Dennoch erhielt er vom Einberufungsamt ein Schreiben, in dem eine erneute Prüfung gefordert wurde. Seine Unterlagen waren verloren gegangen, sei ihm gesagt worden.

„Letztes Jahr hatte ich einen Arbeitsunfall“, erzählt Victor. „Ich kann mein linkes Bein fast nicht mehr beugen, es tut sehr weh.“ Der Mann will nicht in den Krieg ziehen und ist besorgt, dass er nun doch einberufen wird. Er habe Männer getroffen, sagt er, die von den Ärztekommissionen trotz schwererer Krankheiten in den Krieg geschickt wurden.

Victor kennt auch Männer, die sich durch Bestechung vom Wehrdienst freigekauft haben. Er wisse, an wen er sich diesbezüglich wenden müsse, habe aber selbst kein Geld dafür.

Nach und nach werden die Männer im Warteraum zur Untersuchung gerufen. Eine Frau sagt zu einem 50-jährigen Mann: „Bei Ihrer Diagnose müssen Sie eine Maske tragen und an einem anderen Tag kommen, damit Sie niemanden anstecken.“

Seine Frau, die sich ebenfalls im Wartezimmer befindet, erklärt die Situation: „Mein Mann hat Tuberkulose. Er ist schon seit mehreren Jahren in Behandlung. Nichts hilft. Die Krankheit ist irreversibel. Er hat nicht mehr lange zu leben“, sagt sie. In seinem Fall hatte die Kommission entschieden, dass er sich einer sechsmonatigen Behandlung unterziehen muss – um danach zu entscheiden, ob er weiterhin als dienstuntauglich gilt oder nicht.

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