Pracht und Glanz vor der Jahrtausendwende: Detail des Ansfriduskodex aus dem zehnten Jahrhundert
Vor tausend Jahren brauchte man für die Reise von Aachen nach Rom, ob zu Fuß oder zu Pferde, etwa drei Monate. Otto III., seit 996 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, legte die Strecke im Frühjahr 1000 in umgekehrter Richtung zurück, mit einem Umweg über Polen, wodurch sich die Reisedauer auf fünf Monate erhöhte. In Gnesen, wo er Mitte März eintraf, richtete er am Grab des heiligen Adalbert ein Erzbistum ein und ernannte den polnischen Herzog Bolesław zum „Bruder und Partner des Reiches“. Mit Bolesław im Gefolge zog er weiter zur Kaiserpfalz Karls des Großen, dessen Grab er öffnen und teilweise plündern ließ. Karls Halskette mit dem Kreuz behielt er selbst, einige seiner Knochen nahm er als Reliquien mit sich nach Rom, während Bolesław einen Thronsessel als Geschenk erhielt.
Anwesend bei der Zeremonie, die von zahlreichen Großen des Reiches begleitet und legitimiert wurde, war vermutlich auch Ansfried, Graf von Huy und seit 995 Bischof von Utrecht. Da ihn der Kaiser seinerzeit genötigt hatte, sein Schwert auf dem Altar des Aachener Doms niederzulegen und seinem gesamten, durchaus erklecklichen weltlichen Besitz abzuschwören, ist anzunehmen, dass er den Vorgang mit gemischten Gefühlen betrachtete.
Auf der Rückseite prangt der Bischof
Der Kaiser als Kind: Otto III. (unten) und seine Eltern auf einer Elfenbeintafel aus Mailand, um 983
Otto III. und Ansfried von Utrecht sind in der Ausstellung zum „Jahr 1000“ im Rijksmuseum van Oudheden, dem Archäologischen Museum der Niederlande in Leiden, auf ganz unterschiedliche Weise vertreten. Während der Millenniumskaiser eher als allgemeine Orientierungsmarke dient – nur auf einer Elfenbeintafel aus Mailand, auf der sein Vater Otto II. und dessen byzantinische Ehefrau Theophanu zu Füßen Christi knien, posiert er als Kind auf dem Arm seiner Mutter –, stammt von Ansfried das kostbarste Exponat der Schau. Es ist ein mit bunten Edelsteinen in filigranen Goldfassungen verziertes Evangeliar, das Ansfried um die Jahrtausendwende der Utrechter Martinskirche schenkte. Auf der Rückseite des Kodex, den die Kuratoren geschickt vor einem Spiegel platziert haben, prangt Ansfrieds Porträt. Der Bischof wusste genau, was er der Nachwelt schuldig war.
Adliges Stifterpaar: Egmond-Evangeliar mit Darstellung Dietrichs II. von Holland und seiner Frau Hildegard, um 975
Die erste christliche Jahrtausendwende verlief, ebenso wie die zweite, trotz der Furcht vieler Zeitgenossen vor Apokalypse und Jüngstem Gericht größtenteils ohne besondere Vorkommnisse. Erst im Nachhinein schrieben die Chronisten (und mit ihnen die neuzeitlichen Historiker) der kalendarischen Schwelle den Charakter einer Epochenwende zu. In den Jahrzehnten zuvor war Europa von Überfällen der Wikinger, Einfällen der Ungarn, Raubzügen islamischer Piraten und zahllosen langwierigen Adelsfehden gebeutelt worden. Nun jedoch „hüllte sich die Welt in ein weißes Kleid von Kirchen“, wie der Benediktinermönch Radulfus Glaber notierte, Normannen und Ungarn wurden christianisiert, das Rittertum nahm allmählich ritterliche Züge an, und an der holländischen Nordseeküste breiteten sich Felder und Bauernhöfe auf bis dahin unbewohntem, von den Gezeiten durchflutetem Marschland aus.
Der Überfluss der Oberschicht: Goldschmuck aus dem Schatz von Hoogwoud, um 1000
Die Ausgangspunkte dieser Neubesiedlung bildeten die alten römischen Städte, die aus dem Strudel der Völkerwanderung aufgetaucht waren, Utrecht, Nijmegen, Maastricht. Ihr Motor aber waren die neuen Zentren der mittelalterlichen Ständegesellschaft: Burgen und Klöster. Deshalb sind in der Ausstellung einerseits Architekturfragmente aus Ansfrieds Bistumsstadt und modische Fibeln aus Nijmegen zu sehen, andererseits Goldschmuck und Schwerter aus Adelssitzen und Gebrauchsgegenstände aus allen Ecken des Flachlands. Ansfrieds Kodex hat einen würdigen Vorgänger in dem Evangeliar, das Graf Dietrich II. von Holland und seine Gattin Hildegard um 975 der Abtei von Egmond stifteten – nicht ohne sich höchstselbst auf dem edlen Pergament porträtieren zu lassen.
Und wie der Großvater Ottos III., der wegen seiner Siege über die Ungarn „der Große“ hieß, haben auch seine Nachfolger aus dem Geschlecht der Salier in den Niederlanden Urkunden ausgestellt, durch die Krondomänen in Kirchenbesitz, Münzrechte an Städte und neu erschlossene Territorien an mächtige Klöster übergingen. Mit der Kultivierung des Marschlands endete auch die Zweiteilung zwischen den wilden Küstenregionen, in denen Friesisch, und dem städtisch geprägten Süden, in dem Altniederländisch gesprochen wurde. Adelssitze wuchsen aus den Ebenen; auch die Stadt Leiden bekam jetzt eine Motte, eine Burg auf einem künstlichen Erdhügel, die der Bürgerschaft alsbald als Fluchtort bei Überschwemmungen diente. Einheimische Unternehmer lösten die Wikinger ab, deren Flotten bis dahin die internationalen Seehandel befahren hatten.
Stilvorbild aus Byzanz: Greifenmosaik aus der Hagia Sophia, elftes Jahrhundert
In Utrecht versank um 1030 das älteste erhaltene Schiff der Niederlande, ein Flusskahn, der dreizehn Tonnen Nutzlast tragen konnte. In der Leidener Ausstellung sieht man Silbermünzen aus ottonischer und salischer Zeit, die seinerzeit in großen Stückzahlen geprägt wurden, um die unhandlichen byzantinischen und arabischen Goldwährungen zu ersetzen. Schiffsplanken wurden zu Uferbefestigungen, öde Buchten zu Häfen. Das niederländische Wirtschaftswunder des Hochmittelalters, aus dem später eins der großen kolonialen Imperien erwuchs, wurzelt in jener Epoche.
Im europäischen Maßstab aber blieb der geographische Raum um die Mündungen von Rhein und Maas eine Randzone. Der Mittelpunkt der abendländischen Ökumene war Rom, ihr symbolischer Fluchtpunkt Konstantinopel. Indem die Ausstellung von Holland aus an den Tiber und den Bosporus blickt, geht sie den Weg der christlichen Zivilisierung Europas in umgekehrter Richtung zurück. Die Küstenbewohner, die nach Rom pilgerten, hatten auf dem Vatikanshügel ein Hospiz und eine eigene Kirche, Santi Michele e Magno, die M. C. Escher 1932 in einem archaisierenden Stich verewigte.
Die Stilmuster ihrer Kunst aber, Marien- und Heiligenbilder, dekorative Löwen und Greife, empfingen sie nach wie vor aus Byzanz. In Maastricht wurden die Gebeine des heiligen Servatius in oströmische Seide gehüllt, während sich in den ummauerten Bollwerken an der niederländischen Nordseeküste die Gattinnen der Gaugrafen Spitzenwerke byzantinischer Goldschmiede an ihre adligen Ohrläppchen hängten.
All die Münzhorte, Goldschätze, Evangeliare, Kämme, Schuhe, Särge und Schatullen blieben stumme Objekte ohne eine Präsentation, die sie zum Sprechen bringt. Hier können sich die hiesigen Kuratoren historischer Ausstellungen von ihren niederländischen Kolleginnen eine Scheibe abschneiden. Nicht nur, dass die Medienstationen und Digitalformate, etwa zum Egmond-Kodex oder zu Himmelserscheinungen aus den Berichten zeitgenössischer Chroniken, allemal bildkräftiger sind als vergleichbare deutsche Beispiele. Auch die Exponate selbst sind übersichtlicher angeordnet, die Raumtexte in buchförmigen Leuchtkästen versammelt, die Räume selbst durch Animationen und wandfüllende Reproduktionen belebt. Ein weit entrücktes Zeitalter wird nicht bloß beschworen, sondern erweckt. Die Funde glänzen, weil das Licht, in dem sie erscheinen, auf sie abgestimmt ist.
Am Ende weitet die Ausstellung ihren Blick ins Globale. In Bagdad erlebt das Kalifat der Abbasiden eine späte Blüte, am Nil und in Persien haben sich konkurrierende islamische Herrscherclans etabliert. Im China der Song-Dynastie wird gerade das Schwarzpulver erfunden, im Japan der Heian-Zeit entsteht das Genji Monogatari, der erste Roman der japanischen Literatur. In Südindien blüht das Chola-Reich, dessen Einflusszone sich bis nach Indonesien erstreckt, im Reich der Khmer entstehen die Tempelanlagen von Angkor Wat. Das Flachland im Nordwesten des Heiligen Römischen Reiches ist dagegen ein Fliegendreck. Sechshundert Jahre später aber sitzen Amsterdamer Händler auf Java und den Molukken, holländische Missionare streifen durch Japan und China, und Siedler aus dem Land hinter den Deichen gründen jenseits des Atlantiks eine Stadt, die später New York heißen wird. Wie konnte das passieren? In der Leidener Ausstellung bekommt man davon eine Ahnung.
Das Jahr 1000. Die Niederlande in der Mitte des Mittelalters. Rijksmuseum van Oudheden, Leiden, bis zum 17. März 2024. Der Katalog kostet 24,95 Euro.
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