Kommentar: Klimaprotest darf nerven
Die Letzte Generation klebt an der Berliner Stadtautobahn.
Das ganze Jahr 2023 sorgten Klimaaktivisten für Aufregung. In Stockholm beschmierten sie einen Monet mit roter Farbe, in Berlin übergossen sie ein Denkmal für das Grundgesetz mit Kleister. Das Brandenburger Tor besprühten sie orange. Besondere Empörung riefen sie hervor, als sie sich auf die Straße klebten. Und das taten sie in diesem Jahr oft. Die Reaktionen, die darauf folgten, waren intensiv, zum Teil abenteuerlich. In rechtlicher und in verbaler Hinsicht.
Um zu diesem Schluss zu kommen, muss man kein Anhänger von Gruppen wie der Letzten Generation sein. Man kann ihre Aktionen ablehnen, sogar kontraproduktiv finden – und trotzdem eine Auseinandersetzung fordern, die nicht von Zuspitzungen lebt. Schon die rechtlichen Fragen sind alles andere als trivial.
Die Letzte Generation nimmt für sich in Anspruch, zivilen Ungehorsam auszuüben, eine Protestform, die vom Rechtsbruch lebt. Er lässt sich nicht abstreiten, nur weil viele Menschen das Anliegen der Klimaaktivisten teilen. Wenn man sich auf diese Logik einließe, Strafbares zu erlauben, sofern die Intention nur wichtig genug ist, wäre vom Rechtsstaat nicht mehr viel übrig. Höhere Ziele können im Übrigen alle Seiten für sich in Anspruch nehmen.
Ein Stück ungebändigter Demokratie
Gleichzeitig verbietet es sich, pauschal von Rechtsbrechern zu sprechen. Zur Tugend der Justiz gehört es, genau hinzusehen. Die Straftatbestände, um die es geht, sind kompliziert. Gestritten wird vor allem über die Nötigung. Sie setzt Gewalt voraus, ein Begriff, der das Verfassungsgericht oft beschäftigt hat. Rechtswidrig ist eine Nötigung außerdem nur dann, wenn sie auch „verwerflich“ ist, der Bundesgerichtshof sagt: „sozial unerträglich“. Sitzblockaden bereiten Richtern in dieser Hinsicht immer wieder Mühe. Schließlich müssen Richter beherzigen, dass die Aktivisten ein Grundrecht für sich in Anspruch nehmen.
Schon 1985 stellte das Verfassungsgericht anlässlich der Brokdorf-Demonstrationen klar, dass die Versammlungsfreiheit zu den „unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens“ gehört. Versammlungen enthielten „ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren“. Sie dürfen nerven. Wo die Grenze zum Strafrecht überschritten ist, muss in jedem Einzelfall neu entschieden werden.
Nicht nur in diesen Fragen sind die Grundrechte manchmal zu kurz gekommen, sondern auch bei der Bemessung des Strafmaßes. Einzelne Mitglieder der Letzten Generation wurden zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung verurteilt. Die Strafverfolger überzogen auch, noch ehe es zu Gerichtsverfahren kam. Bayern etwa steckte manche Aktivisten in Präventivhaft, um Blockaden zu verhindern. Dass die Letzte Generation auf solche Maßnahmen setzt, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, rechtfertigt sie nicht.
Das Instrument der Präventivhaft ist auf Gefährder aus dem Terrormilieu zugeschnitten. Mit ihnen haben die Aktivisten nichts gemein; in aller Regel sorgt deren Protest für Stau. Trotzdem werden sie mit mörderischen Terroristen verglichen. Die verbalen Zuspitzungen sind enorm. Sie verhöhnen die Erfahrungen, die dieses Land mit Terror schon gemacht hat. Und sie heizen das gesellschaftliche Klima weiter an, mit einem Freund-Feind-Denken, das gefährlich ist.