Klassenkampf? Die Mittelschicht wird ausgenommen wie eine Weihnachtsgans
Finanzminister Christian Lindner. Steuererhöhungen für Reiche sind für ihn ausgeschlossen.
Sie klebten sich nicht auf den Straßen fest – sie donnerten darüber mit ihren Traktoren, in langen Kolonnen, um ihrer Wut auf die Chaos-Politik der Bundesregierung Ausdruck zu verleihen – unsere Bauern. Es gab Beifall, ihr Protest drückte den Protest vieler Bürger aus. Nicht nur die Bauern, gefühlt die ganze Mittelschicht, sonst das Rückgrat der Republik und Garant politischer Stabilität, ist in Aufruhr. Schuld hat nicht allein die Ampel, der Unmut in der Bevölkerung, vor allem in der arbeitenden Mitte, hat eine längere Vorgeschichte.
Diese geht tiefer und nahm vor mehr als 25 Jahren ihren Anfang. Damals, als der Neoliberalismus in Deutschland Fuß fassen konnte und das Soziale vor der Marktwirtschaft immer kleiner geschrieben wurde. Ein neoliberales Erbe, das man mitdenken muss, wenn man die Polarisierung in der Gesellschaft heute verstehen und überwinden will.
Erinnern wir uns, Deutschland wurde zum kranken Mann erklärt und mit einer Rosskur therapiert: Niedriglohnsektor und Leiharbeit wurden ausgeweitet, das Arbeitslosengeld gekürzt, das Rentenniveau abgesenkt, der soziale Wohnungsbau vernachlässigt, die Mehrwertsteuer angehoben. Die Liste der Eingriffe, mit denen der Sozialstaat zerlegt wurde, ließe sich leicht fortsetzen. Vor allem Arbeitnehmer und Rentner mussten all die bitteren Pillen schlucken.
40 Prozent aller Haushalte verzeichneten zwischen 2000 und 2014 reale Einkommensverluste. Und zwischen 2014 und 2017 rutschte jeder Fünfte aus der mittleren in die untere Einkommensschicht. Die Mittelschicht erodierte, Abstiegsängste nahmen zu.
Es brachen die Finanzkrise, Corona und der Krieg in der Ukraine aus. Dazu das Versagen bei der Migration und zuletzt der hausgemachte Pfusch in der Energiepolitik. Krisen, die von den Deutschen teuer bezahlt werden müssen. Krisen, die zudem noch durch eine galoppierende Inflation überlagert wurden.
Bauernproteste in Berlin im Januar 2024.
Trotz einer Steigerung der Tariflöhne um nominal 5,5 Prozent im vergangenen Jahr liegt die Kaufkraft der Beschäftigten heute um sechs Prozentpunkte niedriger als 2020, berechnete das WSI der Hans-Böckler-Stiftung. Das Jahr 2022 bescherte den Deutschen die höchsten Reallohnverluste der Nachkriegsgeschichte. Von den Realrentenverlusten der letzten Jahre ganz zu schweigen.
Das sind Entwicklungen, die nicht nur zu einer schlechten Stimmung im Lande, sondern auch zu spürbaren Wohlstandseinbußen führen. Eine Umfrage von Yougov ergab, dass fast ein Drittel der Beschäftigten wegen der deutlich gestiegenen Preise an finanzielle Grenzen stößt. Vor allem Befragte mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen von unter 2500 Euro kommen demnach kaum über die Runden.
Das trifft nicht nur Geringverdiener, sondern zieht sich bis in die Mittelschicht, zu der in Deutschland über 60 Prozent der Haushalte gehören, wenn man sie nach dem Einkommen bestimmt. Gemäß OECD-Kriterien sind das diejenigen, die zwischen 75 und 200 Prozent des mittleren Netto-Einkommens erreichen, bei einem Single-Haushalt waren das 2019 im Monat rund zwischen 1500 und 4000 Euro.
Zugleich ächzt die Mittelschicht – überwiegend angestellte Arbeitnehmer, aber auch Beamte und Selbstständige – unter der Steuer- und Abgabenlast: „Mit einer Grenzbelastung von rund 50 Prozent des Bruttoeinkommens im deutschen Steuer- und Transfersystem bleibt Menschen mit mittlerem Einkommen vom nächsten hinzuverdienten Euro effektiv nur die Hälfte übrig. Mehrarbeit und mehr Leistung zahlen sich daher in der Mittelschicht netto nur sehr begrenzt aus“, sagt Andreas Peichl, Leiter des Ifo-Zentrums für Makroökonomik und Befragungen.
Die Mittelschicht wird ausgenommen wie eine Weihnachtsgans, sodass es für Menschen, die bei uns von Bürgergeld und Sozialhilfen leben, kaum Anreize gibt, in die arbeitende Mitte aufzusteigen. Wer sich vom Leistungsprinzip nicht komplett verabschieden will, muss das korrigieren. Tarifpartner müssen sich auf deutlich höhere Löhne einigen. Vater Staat ist auch gefragt, die Mittelschicht muss bei Steuern und Abgaben entlastet werden.
Joschka Fischer und Gerhard Schröder; Rot-Grün drückte den Spitzensteuersatz auf 42 Prozent.
Zugegeben schwierig, wenn er auf die Schuldenbremse tritt. Soll er bei seinen Investitionen sparen? Wieder bis es quietscht, bis die letzten noch intakten Brücken auch noch verrosten? Oder gar wieder Hand ans Soziale legen? Nein, es ist an der Zeit, dass in Deutschland eine ernsthafte Debatte darüber geführt wird, wie der von allen erwirtschaftete Wohlstand besser als bisher verteilt werden kann.
Die Kernfrage lautet: Wer trägt noch, außer der Mittelschicht, mit seiner Arbeitsleistung, seinen Steuern und seinen Abgaben zum Funktionieren des Gemeinwesens bei? Menschen am unteren Rand der Gesellschaft? Mit Einkommen an der Grenze zur Armut brauchen sie keine oder nur geringfügige Steuern und Abgaben zu entrichten.
Wie steht es um die Einkommenssteuer für diejenigen, die mit ihren sechs- und siebenstelligen Jahresgehältern sowieso maßlos überbezahlt sind? Der Spitzensteuersatz der Einkommenssteuer lag bis Ende der 1990er-Jahre bei 53 Prozent. Rot-Grün drückte ihn Anfang der 2000er-Jahre auf 42 Prozent runter.
Das geht auch anders. In den 1950er-Jahren – die CDU/CSU regierte das Land – wurden bis zu 95 Prozent fällig. Eine Mehrwertsteuer war noch unbekannt. Der Kapitalismus ist daran nicht zugrunde gegangen. Im Gegenteil, die Konjunktur zog nachhaltig an und unsere Großeltern und Eltern konnten sich eines vorher nie gekannten Wohlstandes erfreuen.
Und wie steht es um die Sozialabgaben? Die dort eingezogenen Beitragsbemessungsgrenzen bewirken nichts anderes als dass Einkommensmillionäre keinen Cent mehr in die Sozialkassen einzahlen als Arbeitnehmer mit einem Monatsgehalt von rund 7500 Euro brutto.
Und wie ist die Lage bei den Steuern, von denen weniger die Mittelschicht, dafür die Besitzer großer Ländereien und Immobilien, Investmentbanker oder Kapitaleigner betroffen wären? Die Vermögenssteuer gab es mal, wird aber seit 1997 nicht mehr erhoben. Die Erbschaftssteuer hat man 2009 abgesenkt. Die Kapitalertragssteuer – auch bei den ganz großen Dividenden beträgt sie nur 25 Prozent. Und warum gibt es eigentlich immer noch keine richtige Finanztransaktionssteuer?
Eins wird deutlich: Während Arbeitnehmer und Rentner in den vergangenen Jahrzehnten systematisch kurzgehalten wurden, hat man Gutbetuchte geschont, jedenfalls wurde vom Staat nichts so sehr begünstigt wie die Anhäufung von Riesenvermögen. Die Ungleichheit bei den Vermögen ist noch größer als die bei den Einkommen. Heute besitzen die Reichen, das heißt eine Oberschicht von zehn Prozent, zwei Drittel des Nettovermögens.
Ein Haushalt der Oberschicht verfügte im Jahr 2021 über mindestens 725.900 Euro, und in der Spitze tummeln sich immer mehr Millionäre und Milliardäre. Dagegen besitzt die gesamte untere Hälfte der Bevölkerung so gut wie gar nichts! Nur ein Drittel des Nettovermögens bleibt den „restlichen“ 40 Prozent der Bevölkerung – das ist die Mittelschicht. Ein Haushalt mit einem Nettovermögen von 50.000 Euro – das sind wenige Wertgegenstände, vielleicht der Gebrauchtwagen und ein paar Euros auf der Bank – gehört schon dazu.
Auch für Oppositionspolitiker wie Friedrich Merz (hier in seinem Privatjet) ist eine Steuererhöhung für Spitzenverdiener keine Option.
Auf rund 7500 Milliarden Euro ist das private Geldvermögen auf den Konten und Depots der Finanzinstitute angewachsen. Zum Vergleich: Der Bundeshaushalt 2024 umfasst 477 Milliarden Euro. Man sieht, Deutschland ist reich genug, um die Mittelschicht zu entlasten. Reich genug, damit der Staat seiner Daseinsfürsorge und all seinen anderen Aufgaben nachkommen kann. Es braucht nur den Willen für Reformen, endlich mal dort kräftiger zu besteuern, wo sich das meiste Geld angesammelt hat – ganz oben, nicht wie sonst üblich in der Mitte.
Das wäre sozial gerecht und käme sogar der Wirtschaft zugute, denn wenn es der Mittelschicht gut geht, bliebe den Leuten mehr Geld für Konsum in der Tasche, was die Binnennachfrage ankurbeln würde. Den Landwirten bräuchte niemand ihre Subventionen zu streichen, an Rentnerinnen und Rentner könnte die Inflationsausgleichsprämie ausgezahlt werden und mit dem Klimageld könnten alle – trotz steigenden CO₂-Preises – ihre Wohnungen auch künftig warmhalten.
Doch in der Ampelregierung scheint, genauso wie bei ihren Vorgängern, die Besteuerung der Reichen ein Tabuthema zu sein. „In Spanien, Norwegen oder der Schweiz reklamiert der Staat immerhin einen Teil des privaten Reichtums für sich (…). Kein Wunder, dass die Schere zwischen Arm und Reich bei uns weiter auseinanderklafft als fast überall sonst in Europa“, sagt Annette Jensen von Verdi.
Wer sich aber nicht um eine gerechtere Verteilung von Einkommen und Vermögen kümmert, braucht sich über den zunehmenden Unmut aus der Mitte der Gesellschaft nicht zu beklagen. Und in der Mitte werden Wahlen gewonnen – oder verloren.
Herbert Goestl war lange Jahre als Angestellter bei einem Tech-Konzern international tätig. Heute lehrt er als freier Dozent auf dem Gebiet der Wirtschaftsinformatik.
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