Russische Wirtschaft: „Russland wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Stagflation rutschen“

russische wirtschaft: „russland wird mit hoher wahrscheinlichkeit in die stagflation rutschen“

Der russische Präsident Wladimir Putin und der stellvertretende russische Ministerpräsident Marat Chusnullin (links) besuchen eine Raststätte an der M12 Wostok-Autobahn Foto: imago imagesdata-portal-copyright=

Die Wirtschaftslage in Russland ist schlechter als es offizielle Zahlen vermuten lassen, sagt der russische Ökonom Igor Lipsits. Doch er sieht keine Anzeichen für breiten Widerstand gegen Wladimir Putin.

WirtschaftsWoche: Professor Lipsits, die russische Wirtschaft ist 2023 überraschend stark gewachsen. Was hören Sie aus Russland über die aktuelle ökonomische Situation?

Igor Lipsits: Die wahre Lage wird immer angespannter. Die konjunkturelle Erholung nach der Rezession 2022 ist zuletzt praktisch zum Stillstand gekommen. Besonders starke Rückgänge gibt es überraschenderweise in der Landwirtschaft. Hier ist das Produktivitätsniveau zuletzt derart gesunken, dass auf Russland erhebliche Probleme bei der Lebensmittelversorgung zukommen. Der jüngste Einbruch bei der Versorgung mit Hühnereiern, der bei der Bevölkerung für großen Unmut gesorgt hat, ist da nur ein erstes Symptom einer sich verschlimmernden Krise. Prinzipiell werden Diagnosen über den Zustand der russischen Wirtschaft aber zunehmend schwieriger.

Warum?

Die Behörden schränken unter verschiedenen Vorwänden den Umfang öffentlich zugänglicher Wirtschaftsdaten immer weiter ein. Die Zahlen sind offensichtlich so miserabel, dass man sie Fachleuten und Öffentlichkeit lieber nicht mehr zugänglich macht. Aktuell behelfen sich Ökonomen zum Beispiel mit Daten über das Volumen der von der Eisenbahn beförderten Güter, den Stromverbrauch oder die Entwicklung der Geldmenge.

Wie sehen Sie die mittelfristigen Wirtschaftsperspektiven Russlands?

Das Land wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Stagflation rutschen. Das bedeutet: Der zivile Produktions- und Dienstleistungsbereich stagniert oder schrumpft. Zugleich steigt die Inflation.

Wie lange kann Putin vor diesem Hintergrund den Angriffskrieg gegen die Ukraine finanziell durchhalten?

Das hängt davon ab, wie es mit den russischen Ölexporten weitergeht. Wenn diese stark zurückgehen, muss sich der Staat das Geld für militärische Aktionen durch eine weitere Abwertung des Rubel und durch Inflation von der Bevölkerung holen – und von der Wirtschaft durch höhere Steuern. Dies dürfte zu großer Verbitterung der Bevölkerung führen. Ein paar Jahre kann das noch gut gehen, aber irgendwann wird die Lage auch für Putin richtig unangenehm.

Wie bewerten Sie die Wirksamkeit der westlichen Sanktionen?

Die Sanktionen im Bankensektor sind durchaus wirksam. Die Ölpreisobergrenze und die Ausfuhrbeschränkungen zeigen jedoch keine Wirkung. Hier müsste eine strengerer und umfassenderer Kontrollmechanismus geschaffen werden. So hat etwa mein Kollege Oleg Itskhoki vorgeschlagen, die USA könnten Russland als Terrorstaat deklarieren, so wie Iran, Nordkorea, Kuba und Syrien. Das hätte schwerwiegende Folgen für den Kreml; jedes Land, das mit Russland kooperiert, hätte mit Folgesanktionen zu rechnen. Das würde den Parallelimport, der die russische Wirtschaft derzeit noch stützt, erheblich erschweren.

Gibt es in der russischen Zivilgesellschaft noch Widerstand gegen Putin oder haben alle resigniert?

Es gibt keinen Widerstand. Das gängige Denkmuster lautet: „Es ist alles eine Katastrophe, aber schuld ist der Westen – und wir müssen Putin den Rücken stärken“.

Blicken wir in die Zukunft: Wer oder was kommt nach Putin? Ist eine Rückkehr Russlands in die Völkergemeinschaft denkbar oder sind die Strukturen derart antiwestlich, dass Russland auf Dauer ein Feind bleiben wird?

Bislang gibt es keine gesellschaftspolitischen Kräfte, die in der Lage wären, Russlands Auftreten in der Weltpolitik entscheidend zu verändern. Russland wird wahrscheinlich noch lange Zeit und auch nach dem Abgang Putins eine dem Westen feindlich gesinnte Macht bleiben.

Bei der Präsidentschaftswahl im März wollte gegen Putin der Lokalpolitiker Boris Nadeschdin kandidieren, der sich offen für ein Ende des Krieges einsetzt…

Ich glaube, dass die Kandidatur Nadeschdins ursprünglich ein Projekt der russischen Präsidialverwaltung gewesen ist. Dann aber wurde es durch ihn für einen Teil der russischen Gesellschaft möglich, die Unzufriedenheit mit dem Krieg zu kanalisieren. Das haben die Urheber des Projekts offenbar so nicht kommen sehen. Aus der Perspektive des Kremls ist es daher nur folgerichtig, dass Nadeschdin jetzt wegen angeblicher Ungereimtheiten bei seinen Unterstützungserklärungen nicht zur Wahl antreten darf.

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