Jugendgewalt in Frankreich: "Die Menschen üben mehr und mehr Selbstjustiz"
In Frankreich häufen sich die Gewaltverbrechen unter jungen Menschen. Der Staat sei mit dafür verantwortlich, dass die Hemmschwelle sinkt, sagt der Philosoph Marc Crépon.
Polizeischutz vor einer Schule in Chenôve: Hier gab es, wie an vielen anderen Schulen in Frankreich, Gewaltdrohungen.
Seit Wochen gibt es in Frankreich immer neue Fälle von Jugendgewalt. Der Philosoph Marc Crépon forscht an der Pariser Hochschule École normale supérieure (ENS) seit Jahrzehnten zu Gewalt. Er glaubt, der Staat müsse sich eher zurückhalten und Empathie fördern.
ZEIT ONLINE: Herr Crépon, in den vergangenen Wochen wurde viel über Jugendgewalt in Frankreich berichtet. Gibt es wirklich eine Zunahme der Fälle – oder berichten die Medien nur mehr darüber?
Marc Crépon: Es stimmt einerseits, dass es diese Gewalt schon immer gab: Auch früher waren Schüler gewalttätig, auch früher hat man sich auf Dorffesten kräftig geprügelt. Gewalt fasziniert viele Menschen. Im Mittelalter jubelten sie, wenn Leute erhängt wurden. Heute jubeln sie, wenn Personen bei brutalen Mixed-Martial-Arts-Kämpfen verletzt werden.
Andererseits beobachte ich tatsächlich einen neuen gefährlichen Trend: Viele Menschen – nicht nur jüngere – glauben, sie könnten nur noch mit Gewalt einen Konflikt lösen. Die Menschen üben mehr und mehr Selbstjustiz. Ein harmloser Streit in der Schulklasse kann heute in einer Gewalteskalation enden.
ZEIT ONLINE: Warum glauben die Täterinnen und Täter nicht mehr, dass eine Autorität, etwa der Lehrer oder Eltern, das Problem lösen kann?
Crépon: Viele Menschen sind heute wegen der sozialen Netzwerke an eine schnelle Reaktionszeit gewöhnt. Das führt dazu, dass der Zeitraum zwischen einem Streit und der Tat heute meist sehr kurz ist. Wichtiger ist noch, dass der Glaube an Autoritäten schwindet. Viele Menschen glauben nicht mehr, dass es Menschen gibt, die den Konflikt besser und gerechter lösen können als sie selbst. Dabei ist das ein wichtiger Grundsatz der Demokratie: Der Staat richtet gerecht und führt die Urteile aus. Leider sinkt aber in ganz Europa das Vertrauen in den Staat und seine Sicherheitskräfte. Dieses Misstrauen führt zu Selbstjustiz.
ZEIT ONLINE: Warum hat der französische Staat die notwendige Autorität nicht mehr?
Crépon: Die Welt wird als feindlich wahrgenommen, durch die vielen vergangenen und bestehenden Krisen, also die Pandemie, die Klimakrise, die vielen Kriege. Als ich in den Siebzigerjahren studierte, waren wir alle hoffnungsfroh und wir glaubten an den Fortschritt – meine Studierenden heute blicken in eine sehr düstere Zukunft, sie sehen keine Hoffnung am Horizont. Die Welt scheint ihnen feindlich und manche glauben, dass jeder für sich selbst einstehen muss. Dass am Ende jeder sich selbst verteidigen muss.
ZEIT ONLINE: Ist das wirklich neu? Furcht einflößende Konflikte, den Kalten Krieg etwa, gab es auch schon früher.
Crépon: Aber heute verschärfen Regierungen das Misstrauen in staatliche Kompetenzen. Zum Beispiel die Gelbwesten-Bewegung: Das war anfänglich eine friedliche Ansammlung von Menschen, die sich häufig noch nie politisch engagiert hatten und sich am Kreisverkehr mit Kaffeekanne zusammenfanden, um über eine gerechtere Welt zu sprechen. Aber die französische Regierung war überfordert – und knüppelte diese Menschen mit unverhältnismäßiger Gewalt nieder. Die Betroffenen, aber auch viele zufällige Zeugen dieser polizeilichen Gewalt verloren darüber den Glauben an die Sicherheitskräfte.
Die Forschung zeigt (PDF): Dieser Vertrauensverlust wegen des staatlichen Umgangs mit den Gelbwesten wird sich noch länger auswirken, als die Regierung damals geahnt hat und heute wahrhaben will. Darüber wird viel zu wenig gesprochen.
ZEIT ONLINE: Die Pariser Regierung sagte damals, die Gewalt sei zuerst von den Gelbwesten ausgegangen. Sie hätten Schaufensterscheiben eingeschlagen und Pflastersteine auf Beamte geworfen.
Crépon: Manche Teile der Bewegung waren in der Tat gewalttätig und sie verursachten auch einen hohen Sachschaden. Aber der entscheidende Punkt ist: Der Staat muss extrem sparsam mit Gewalt umgehen. Demokratische Staaten schützen ihre Bürgerinnen und Bürger mit der Polizei vor Gewalt – und nicht umgekehrt. Wenn aber viele Menschen plötzlich vor dem Staat Angst haben, weil sie bei Demonstrationen durch Gummigeschosse der Polizei ihr Augenlicht verlieren oder vorschnell in U-Haft geraten, dann gefährdet das das Ansehen unserer Demokratie. Schließlich ist ein solches Verhalten der Polizei charakteristisch für autoritäre Staaten und Diktaturen: willkürlich Gewalt auszuüben. Davon müssen wir uns in Europa dringend abgrenzen. Aber in Frankreich und in anderen europäischen Staaten gibt es die gefährliche Tendenz, die Opposition mit Gewalt zu unterdrücken: Sei es die Klimabewegung, die Gegner der Coronapolitik oder die Gelbwesten. Aber ein Staat, der seine Kritiker mundtot machen will, gefährdet langfristig sich selbst.
ZEIT ONLINE: Auch früher hat die französische Regierung wie auch andere europäische Regierungen Proteste unterbunden, zum Beispiel 1968. Ist das wirklich schlimmer geworden?
Crépon: Alle Staaten sind mit neuen populistischen und rechtsextremistischen Bewegungen überfordert. Sie waren daran gewöhnt, mit organisierter Opposition umzugehen, etwa mit den straff organisierten Gewerkschaften. Nun kommen neue Formen wie die Gelbwesten hinzu, die Klimabewegung oder die Aufstände in den Vorstädten ohne Hierarchien, ohne konkrete Ansprechpartner für Regierungen. Das macht sie ratlos. Und es bringt sie dazu, als einzige Antwort die Repression zu wählen. Das beunruhigt mich sehr. Denn von autoritären Reaktionen profitieren ausgerechnet die Rechtspopulisten, die sich ganz unverhohlen einen autoritären Staat wünschen. Umso mehr müssen sich demokratische Regierungen von autoritären Ideen, etwa einer zu starken Polizeigewalt, abgrenzen – sonst verschwimmen die Grenzen. Nach aktuellen Umfragen befürworten wieder mehr Menschen als früher autoritäre Regime.
ZEIT ONLINE: Der Premierminister hat sehr weitreichende Vorschläge gemacht, etwa kriminelle Jugendliche in Internate zu bringen oder sie schneller von der Schule auszuschließen. Wie schätzen Sie die aktuelle Reaktion des französischen Staates auf die Gewaltverbrechen ein?
Crépon: Der französische Staat unter Emmanuel Macron scheint zur Repression zu neigen. Nun will er die kriminellen Jugendlichen sogar aus ihren Familien nehmen, sie der Schule verweisen. Aber das könnte das Problem noch verstärken und die Teenager weiter von staatlichen Autoritäten entfernen als je zuvor. Natürlich gehört zur Reaktion auf ein Verbrechen auch die Bestrafung. Aber ein Staat hat noch andere Aufgaben, nämlich die Prävention und Wiedergutmachung, er muss also Gewalt verhindern, etwa durch Mediation, und den Opfern helfen. Er muss anerkennen, dass er ein Klima der Gewalt schaffen kann – oder verhindern.
ZEIT ONLINE: Wie kann man die Menschen zu einer friedlichen Reaktion auf Konflikte erziehen?
Crépon: Wir müssen in der Schule darüber sprechen, sogar schon im Kindergarten. Das schreibe ich auch in meinem Buch Die sieben Lehren der Gewalt. Das ist der stärkste Hebel, den wir haben. Vielen Tätern ist nicht bewusst, wie zerstörerisch Gewalt wirkt, wie verabscheuenswürdig sie ist. Häufig sind gerade Schüler in anschließenden Gesprächen überrascht, wie sehr ihre Opfer leiden. Opfer von Gewalt verlieren häufig ihren Lebensmut, sie sind ihr Leben lang davon gezeichnet und verlieren das Vertrauen in die Gesellschaft. Jedem Menschen muss klar sein, was eine gewaltsame Tat auslöst. Um diese Empathie zu lernen, eignen sich etwa Rollenspiele: Jeder sollte mal in die Haut eines Opfers schlüpfen. Und jeder sollte erfahren, wie sich Konflikte auch ohne Gewalt lösen lassen.