Physiknobelpreisträger Chu: „Wenn die Grünen vernünftig wären, würden sie die Atomenergie vorziehen“

physiknobelpreisträger chu: „wenn die grünen vernünftig wären, würden sie die atomenergie vorziehen“

Der Kühlturm des Kernkraftwerks Isar 2 kurz vor der Abschaltung Anfang April 2023

Herr Professor, Sie sind Physik-Nobelpreisträger und waren Energieminister in der Obama-Regierung. Im April haben Sie eine Petition unterzeichnet, um Deutschlands Atomkraftwerke zu erhalten. Warum?

Ich war überzeugt, dass die Deutschen die Energie, die diese Kraftwerke liefern, nicht ersetzen können. Jedenfalls nicht allein durch erneuerbare. Ich dachte, sie würden am Ende fossile Kraftwerke dafür brauchen. Und genau das ist passiert. Schauen Sie, wir hatten dasselbe Problem in Kalifornien. Sechzig Prozent unserer Stromversorgung kamen aus klimaschonenden Quellen, zehn Prozent waren nuklear. Der Gouverneur wollte die letzten zwei Atomkraftwerke abschalten. Wir konnten ihn davon überzeugen, dass Kalifornien seine Klimaziele nicht erreichen wird, wenn er diese zehn Prozent vom Netz nimmt. Also hat er seine Entscheidung revidiert. Ich wünschte, Deutschland hätte dasselbe getan.

physiknobelpreisträger chu: „wenn die grünen vernünftig wären, würden sie die atomenergie vorziehen“

Steven Chu ist Professor für Physik an der Universität Stanford. 1997 gewann er den Physiknobelpreis. Von 2009 bis 2013 war er Energieminister unter Barack Obama.

Braucht Deutschland diese Atomkraftwerke wirklich? Wir wollen ein klimaneutrales Energiesystem mit Wind- und Solarenergie aufbauen und mit Gaskraftwerken, die laufen, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint.

Das ist eine enorme Herausforderung. Denken Sie an die Schwerindustrie, insbesondere die chemische und petrochemische Industrie, BASF zum Beispiel. Die haben Fabriken, die man nicht einfach ein- und ausschaltet, nach dem Motto: Ups, wir haben gerade keinen Strom mehr, also fahren wir sie mal für einen Tag runter. Selbst eine Montagefabrik, eine Autofabrik oder eine Halbleiterfertigungsanlage benötigt extrem stabilen Strom. Die Gesellschaft muss begreifen, dass diese Industrien preisgünstigen Strom brauchen, und zwar rund um die Uhr. Und wenn sie ihn nicht bekommen, dann werden sie erheblich beeinträchtigt. Das könnte zu einer Abwanderung der Schwerindustrie aus Deutschland führen, und das wäre für die deutsche Wirtschaft katastrophal. Wenn einzelne Leute also sagen, sie wollen dies nicht, sie wollen das nicht, sie wollen keine Atomkraft, sie wollen auch keine Kohle, sie können alles mit erneuerbaren Energien hinbekommen, dann betreiben diese Menschen offenkundig keine Halbleiterfabriken, keine Chemiefabriken oder Fertigungswerke. Die Frage an die Deutschen lautet also: Wollen sie eine prosperierende Wirtschaft, wollen sie Arbeitsplätze und Wohlstand erhalten und gleichzeitig ihre Klimaziele erreichen, oder wollen sie nur ihre Klimaziele erreichen?

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Man könnte Energie aus Wind und Sonne doch speichern.

Saisonale Speicherung ist sehr teuer, weil man die Speicher nur ein- oder zweimal im Jahr braucht. Das ist zu selten. Und wenn die Betreiber dann den Betrag in Rechnung stellen, den sie brauchen, um zu überleben, dann gehen die Kosten durch die Decke. Das sind die Dinge, über die Atomkraftgegner nachdenken müssen.

Atomkraftwerke sind gefährlich.

Aber wie gefährlich? Ich war vor einigen Monaten in Korea, und da demonstrierten die Leute dagegen, dass aus dem Atomkraftwerk in Fukushima radioaktives Wasser ins Meer abgelassen wird. Ich habe den Bericht der Internationalen Atomenergie-Organisation dazu gelesen. Wenn sie drei- oder viermal pro Woche Fisch essen, der aus der Drei-Kilometer-Zone stammt, in die der Atomreaktor Fukushima sein Abwasser einleitet, dann wäre ihre Strahlenbelastung geringer, als wenn sie einmal im Jahr eine Banane oder eine Schale chinesischen Blätterkohls essen, der radioaktives Kalium enthält. Viele Leute begreifen nicht, dass sie ein paar Prozent natürliche Radioaktivität essen für eine gute, ausgewogene Ernährung. Es sagt ja keine Behörde: Essen sie keine Bananen, essen sie keinen Spinat, kein Gemüse wegen der Strahlung. Es gibt keinen Beweis, dass diese sehr, sehr niedrigen Dosen der Gesundheit schaden. Aber wenn sie ihr Gemüse nicht essen, wird das ihrer Gesundheit schaden. Und das Verbrennen von Kohle und Gas schädigt ihre Gesundheit schwer. Wer Kohle verbrennt, setzt Stickoxide frei, und ganz besonders Feinstaub. Verbrennungsmotoren setzen Feinstaub frei, insbesondere Dieselmotoren, das Verbrennen von Holzpellets setzt Feinstaub frei. Schauen Sie sich die Daten der Weltgesundheitsorganisation an. Luftverschmutzung steht bei den Ursachen für frühzeitige Todesfälle an dritter Stelle.

Was ist mit einem Atomunfall?

Man muss nur einmal auf die Internetseite „Our World in Data“ schauen, das ist eine Metasammlung von Daten aus seriösen Quellen. Da kann man die Todesfälle pro erzeugter Terawattstunde Strom sehen. Braunkohle führt mit 33 Todesfällen, gefolgt von Steinkohle mit 25, dann Öl mit 18, während Holzpellets, Biomasse oder das Verbrennen von Holz bei 4,6 liegen. Die Atomenergie liegt bei 0,03 Todesfällen, alle Atomunfälle auf der Welt zusammengerechnet. Die Wasserkraft liegt übrigens noch darüber bei 1,3 Todesfällen, weil gelegentlich ein Damm bricht. Die Kernkraft liegt zwischen Wind und Sonne. Sie ist also etwas sicherer als die Windenergie. Und wir haben noch nicht einmal über das viele Kohlendioxid gesprochen, das die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas freisetzt. Das ist verrückt. Die Öffentlichkeit muss das verstehen.

Was ist mit dem Atomabfall?

Das Problem des Atomabfalls ist signifikant. Der Transport von verbrauchtem Kernbrennstoff ist ebenfalls schwierig. Aber ich denke, das kann man alles in den Griff kriegen. Sobald man anfängt, kilometertiefe Löcher für den Atommüll zu bohren, und die geologische Situation dafür geeignet ist, kommen viele Standorte für Atomreaktoren in Betracht. Ich bin optimistisch, dass es so funktionieren wird. Wir wissen, wie man Löcher bohrt. Wir können kilometerweit nach unten gehen, es sei denn, man versucht, den nuklearen Brennstoffkreislauf zu schließen, was meiner Meinung nach in absehbarer Zeit nicht gelingen wird. Es geht jetzt darum, noch eine weitere Generation von Atomkraftwerken zu bauen. Die brauchen wir für unsere Klimaziele, und die können dann etwa sechzig Jahre lang laufen. Die wirklich interessante Frage ist, ob wir diese Reaktoren rechtzeitig und innerhalb des vorgegebenen Budgets bauen können. Ich halte das für möglich.

Sie waren nicht nur Energieminister, sondern sind auch einer der am höchsten dekorierten Physiker in den Vereinigten Staaten und Nobelpreisträger. Viele Klimaforscher lehnen die Nutzung der Atomenergie ab, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, obwohl der Weltklimarat die Atomenergie befürwortet. Warum ist das so?

Man kann sich um das Klima sorgen und trotzdem abstruse Ideen haben. Man kann um das Klima besorgt sein und meinen, dass die ökologische Landwirtschaft die Welt retten wird. Das wird sie nicht tun. Wohlhabende Europäer und wohlhabende Amerikaner können ökologische Landwirtschaft betreiben. Man könnte meinen, dass wir Staudämme sprengen und die Natur wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzen sollten und dass das die Lösung all unserer Probleme ist. Nur wird es keine Lösung sein in einer Welt mit acht Milliarden Menschen, die auf elf Milliarden zugeht. Das sind einige der Fakten, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Es geht nicht allein darum, was wir wollen. Es geht darum, was die beste Lösung ist. Ist uns Wohlstand wichtig? Wollen wir die Umwelt erhalten und die Gesundheit der Menschen? Wenn man all das zusammennimmt, dann sieht die Atomkraft nicht mehr so übel aus.

Was wir außerdem im Blick behalten sollten, sind kleinere modulare Reaktoren, die einige Hundert Megawatt oder weniger produzieren. Ich könnte mir vorstellen, dass diese Kraftwerke in Fabriken gebaut werden, gründlich geprüft und überwacht. Dann könnten Industriezweige, die kontinuierlich Energie benötigen, wie Chemie- oder Kunststofffabriken, Maschinenbauer und Wasserstoffproduzenten sie nutzen. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Atomkraftwerk fünf bis zehn Prozent als Reserve- und saisonale Energie bereitstellt und den Rest der Zeit Wasserstoff herstellt. Und wenn diese Reaktoren am Band hergestellt werden könnten wie das Model T von Ford, dann könnten Unternehmen sagen: Die setzen wir ein. Dann können BASF oder Volkswagen in Deutschland bleiben, ihre Waren produzieren und noch dazu grünen Stahl mit Wasserstoff.

Die Grünen würden dem nicht zustimmen.

Von den Grünen kommen viele Falschinformationen. Wenn diese Leute vernünftig wären, was viele nicht sind, dann würden sie die Atomenergie der Alternative vorziehen, nämlich Gaskraftwerken, deren Treibhausgase man abscheiden muss. Wer Erdgas ohne diese Abscheidung will, der ist nicht wirklich am Klima und an Nachhaltigkeit interessiert. Das sind die Möglichkeiten. Um Wasserstoff wettbewerbsfähig herzustellen, müssen Sie ihn zu einem Preis von einem Cent pro Kilowattstunde Strom produzieren können, maximal anderthalb Cent. Und so ein kleiner modularer Reaktor steht einfach da, läuft durch und liefert gelegentlich Notstrom. Langsam setzt sich die Erkenntnis durch: Wenn diese Kraftwerke den Budgetrahmen nicht sprengen und das Brennstoffpro­blem gelöst wird, dann sind sie sehr nützlich. Und dann bleibt nur noch irrationale Angst übrig. Es ist wie die irrationale Angst vor genetisch modifiziertem Getreide. Es ist in Ordnung, Pflanzen zu kreuzen, es ist in Ordnung, Pestizide zu versprühen, aber es ist offenbar nicht in Ordnung, die Molekularbiologie einzusetzen. Das ist eine weitere Haltung der grünen Partei, die nicht mit unserer zukünftigen Realität vereinbar ist: steigendem Wohlstand, steigendem Energiebedarf. Nur muss diese Energie sauber sein, sonst muss Deutschland Kohlekraftwerke nutzen.

Ist es nicht besser, vorsichtig gegenüber Technologien zu sein, die unsere Gesundheit schwer beeinträchtigen könnten?

Ja, aber diese Angst ist irrational geworden. Schauen Sie sich einfach die Geschichte von Norman Borlaugs Arbeit an, einem Friedensnobelpreisträger. Er hat jahrzehntelang in Entwicklungsländern gearbeitet und gelebt, angefangen mit Mexiko. Dort entwickelte er eine neue Weizensorte, die besonders gut bei künstlicher Düngerbewässerung wächst. Das war damals eine Kreuzung, keine moderne genetisch veränderte Pflanze. Für seine Arbeit wurde Borlaug von vielen kritisiert. Er wehrte sich und sagte: Die Leute, die mich und meine Arbeit kritisieren, meinen es sicher gut. Aber wenn sie so viel Zeit wie ich in Entwicklungsländern verbringen würden oder in der Nähe von Menschen, die in der Subsistenzwirtschaft arbeiten, dann würden sie eine völlig andere Meinung haben. Denn jetzt werden diese Bauern satt.

Glauben Sie wirklich, dass die deutsche Öffentlichkeit und die deutschen Politiker überzeugt werden können, Atomkraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen?

Wir leben in einer Demokratie. Und wenn sich die öffentliche Meinung ändert, werden die Politiker irgendwann zuhören. Die Menschen sorgen sich nicht allein um die Energie, das Klima, die Nachhaltigkeit oder Umwelt. Sie sorgen sich auch um ihren eigenen, schwindenden Wohlstand. Wenn sie sehen, dass Entscheidungen getroffen werden, die diesen Wohlstand gefährden, dann werden sie umdenken. Wir müssen die Diskussion also richtig führen: Wohin soll die Reise gehen? Und zwar nicht in einer idealen Welt, sondern in der realen Welt, in der die Wirtschaft wächst und unsere Klimaziele trotzdem nicht gefährdet sind.

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