Jetzt gerät die bequeme Begründung für den Leistungsabsturz der Schüler ins Wanken
Für den eklatanten Leistungsabfall deutscher Schüler machen viele Politiker und Bildungsforscher die pandemiebedingten Schulschließungen verantwortlich. Doch eine neue Studie offenbart, dass die Wirklichkeit doch anders aussieht.
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Es ist eine Begründung, die eingängig klingt – und in den vergangenen Jahren gern herangezogen wurde, wenn es darum ging, den eklatanten Leistungsabsturz bei Schulleistungsstudien wie Pisa oder dem IQB-Bildungstrend zu erklären: Schuld an den Kompetenzeinbußen seien neben anderen Faktoren auch die langen Schulschließungen in der Corona-Pandemie, war da zu hören. Viele Schüler seien in der Phase des Distanzunterrichts nachhaltig abgehängt worden.
Doch jetzt zeigt sich: Diese These ist zumindest für den Bereich Mathematik nicht zu halten, wie eine neue Studie des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe (Lifbi) zeigt. Zwar rütteln auch die Lifbi-Forscher nicht an dem Befund, dass die Neuntklässler 2022 im Vergleich zu ihren Vorgängergenerationen schlechtere Leistungen zeigen. Sowohl in der Pisa-Studie als auch im IQB-Bildungstrend beobachte man bereits seit 2012 einen Rückgang der Kompetenzen, sagte Studienleiterin Cordula Artelt WELT. Die gängige Erklärung, dass Corona diesen Trend verstärkt habe, habe man aber für den Bereich Mathematik widerlegt.
„Entscheidend sind also offensichtlich andere Faktoren wie die unterschiedliche Zusammensetzung der Schülerschaft, ein höherer Migrationsanteil, eine unterschiedliche Wertschätzung von Bildung und der Lehrermangel“, so Artelt. „Es ist ein Amalgam aus verschiedenen Faktoren.“
Um den Corona-Effekt erforschen zu können, haben die Autoren der Studie auf Längsschnittdaten aus dem Nationalen Bildungspanel zurückgegriffen. Konkret wurden dabei zwei Kohorten betrachtet, die im Abstand von knapp sechs Jahren die siebte und zwei Jahre später die neunte Klasse durchlaufen haben. Die eine Gruppe wurde vor Corona in den Schuljahren 2012/13 und 2014/15 getestet, die andere in den Schuljahren 2018/19 und 2020/21. Dann wurde für beide Gruppen verglichen, wie sich die Mathe-Kompetenzen in den zwei Jahren zwischen siebter und neunter Klasse entwickelt haben.
Cordula Artelt, Leibniz-Institut für Bildungsverläufe THOMAS RIESE/Leibniz-Institut für Bildungsverläufe
Um die Entwicklung der beiden Kohorten über die Zeit vergleichen zu können, seien die Gruppen aneinander angeglichen worden, indem Faktoren wie etwa die sozioökonomische Herkunft herausgerechnet wurden. „Das haben wir erreicht, indem wir über ein Matching-Verfahren statistische Zwillinge gebildet haben“, erklärt Artelt. „Durch die Angleichung der betrachteten Gruppen werden andere Ursachen für den Leistungsrückgang herausgerechnet, sodass wir den Effekt der Corona-Pandemie isolieren konnten.“ Sie bezeichnete das Studiendesign eines Längsschnittvergleichs zweier Kohorten als „Novum“.
Das Ergebnis: In den so bereinigten Gruppen konnten die Forscher keinen Unterschied in der Kompetenzentwicklung zwischen der „Vor-Corona“- und der „Mit-Corona“-Kohorte feststellen. Obwohl das schulische Lernen in der Zeit der Pandemie weniger strukturiert erfolgt sei, deutlich weniger Kontakt zu Lehrkräften bestanden habe und die Schüler nach eigenen Angaben weniger Lernzeit investiert hätten, sei der Lernzuwachs zwischen siebter und neunter Klasse im Bereich der Mathematik vergleichbar mit Schülern, die keinen solchen Einschnitt erlebt hätten, heißt es dazu in der Studie.
„Wir konnten auch nicht feststellen, dass Schüler aus sozial schwachen Haushalten überproportional abgehängt worden sind. Das hat uns selbst überrascht“, sagt Artelt. „Klar ist aber auch: Wir treffen keine Aussagen über die emotionalen und psychosozialen Auswirkungen der Pandemie, die es zweifellos gibt.“ Auch den Effekt der Verschlechterung über die Zeit werde von den Forschern nicht infrage gestellt, betonte die Studienleiterin. Allerdings lasse sich der negative Trend, der in den querschnittlich angelegten Studien gefunden wurde, nicht zweifelsfrei den Corona-Maßnahmen zuschreiben, heißt es in der Studie. „So trägt auch die veränderte Zusammensetzung der Schüler:innenschaft zu den Resultaten bei.“
Schüler und ihr Umfeld konnten die Folgen abfangen
Zudem könne man aus den Daten auch nicht folgern, dass die Art des Unterrichts, ob analog oder digital, keinerlei Auswirkungen auf die Leistung hat, sagte Artelt. „Wir gehen eher davon aus, dass die Einschränkungen durch den exogenen Schock der Pandemie von den Schülern und dem größeren Umfeld durch verschiedene Maßnahmen kompensiert werden konnten.“ Untersuchungen aus anderen Ländern hätten ebenfalls gezeigt, dass die Auswirkungen der Schulschließungen auf die Leistung nicht so hoch seien wie ursprünglich angenommen.
Bei Jugendlichen in der Sekundarstufe seien die Fähigkeiten zum selbstregulierten Lernen und für den lernbezogenen Umgang mit digitalen Medien schon stärker ausgeprägt als bei Grundschülern. „Dies weist darauf hin, dass Jugendliche in der Sekundarstufe I weniger stark von den Auswirkungen der pandemiebedingten Einschränkungen betroffen waren als Grundschulkinder.“
Die vergleichsweise positiven Ergebnisse gälten zunächst nur für den Bereich der mathematischen Kompetenzen, betonen die Forscher. Ob die Pandemie auch im motivationalen und emotionalen Bereich ohne längerfristige Folgen für die Jugendlichen dieser Altersgruppe bleibe, lasse sich aus den Befunden nicht ableiten.
Für die Bildungspolitik sei die Studie insofern bedeutsam, als „die bequeme Begründung, dass Corona an allem Schuld ist, ein Stück weit wegfällt“, sagte Studienleiterin Artelt. „Es bleibt weiter wichtig, in Bildung zu investieren, um den vorhandenen Leistungsabfall zu bekämpfen.“
Kritik aus dem Kollegenkreis
Unumstritten ist die Studie jedoch unter Kollegen nicht. Olaf Köller, Geschäftsführer am Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, beklagt, dass sie bisher nicht durch das sonst übliche Peer-Review-Verfahren gegangen sei, in dem Wissenschaftler desselben Fachgebietes Studien bewerten. „Ich finde es außerordentlich mutig, damit so prominent an die Öffentlichkeit zu gehen“, sagte Köller, der auch Co-Vorsitzender der Ständigen wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz ist. „Aus meiner Sicht hat die Studie so viele methodische Unzulänglichkeiten, dass sie ungeeignet ist, die Frage nach den Corona-Effekten zu beantworten.“
Die beiden Kohorten seien zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Jahr getestet worden und hätten zum großen Teil bei der ersten Erhebung auch nicht dieselben Aufgaben bearbeitet. „Aus den großen Metastudien wissen wir, dass die größten Pandemie-Effekte im Bereich Mathematik aufgetreten sind.“