The Zone of Interest im Kino: Darf es eine Idylle in Auschwitz geben?

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The Zone of Interest im Kino: Darf es eine Idylle in Auschwitz geben?

“The Zone of Interest” ist ein gewagtes Kino-Experiment über die Nazi-Familie Höß, die sich Anfang der 40er-Jahre am Rande des Vernichtungslagers Auschwitz ein idyllisches Heim aufbauen.

Die Leinwand ist pechschwarz, wenn “The Zone of Interest” im Kino beginnt. Wir blicken für eine ungewohnt lange Zeit vom Kinosessel aus in die Finsternis. Bin ich im richtigen Film? Ist der Kinoprojektor kaputt? Dann setzen Geräusche ein. Naturlaute sind zu vernehmen. Vogelgezwitscher. Kinderstimmen. Ein Plantschen im Wasser. Die Finsternis weicht. Wir sehen eine Familie beim Picknick in einer prächtigen Sommerlandschaft. Unsere Sinne sind jetzt schon auf das geschärft, was wir hören. Und auf das Schwarz, in das wir gestarrt haben.

Wenn ein Film beginnt und wir eine Familie in einer solchen Idylle sehen, gehen wir davon aus, in der kommenden Geschichte Zeugen eines Konflikts in dieser Familie zu werden. Eine Ehe wird gebrochen, ein Kind wird verloren, ein Schmerz wird zu verkraften sein. Jemand wird ausbrechen wollen aus der Familie. Wir werden uns als Zuschauer auf die Seite eines Menschen stellen, mit ihm fiebern, wir werden mitleiden. So funktionieren Dramen, Romane, Serien, fast alles, was wir sehen und lesen, lässt uns mit einer der Figuren auf der Leinwand durch die Prüfung gehen, die das Leben ihr stellt. Nichts von alldem wird es in “The Zone of Interest” geben. Später im Film gibt es noch eine Szene am Fluss. Beim Baden kommen Menschenknochen zum Vorschein.

(Lesen Sie auch: “Die Wannseekonferenz” im ZDF: So einen Film hat es noch nicht gegeben)

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“The Zone of Interest” – die Handlung

Der Film spielt in Auschwitz und zeigt den Alltag der Familie Höß mit fünf Kindern am Rande des Vernichtungslagers wie Szenen eines Tagebuchs. Es gibt keine großen Prüfungen, die den Eltern oder ihrem Nachwuchs gestellt würden. Stattdessen: Haushalt, Kinder, schlechter Sex, Stress mit Angestellten und Besuch von der Schwiegermutter. Es ist nicht gerade eine Villa, in die wir als Zuschauer mit einziehen, aber doch ein herrschaftliches Haus mit beamtischer Beengtheit. Hedwig Höß führt die Schwiegermutter durch den Garten des schönen Anwesens, hier wachse Kohlrabi, zeigt Hedwig, dort gedeihen Kräuter, ja, und da … dann wird es still, da steht eine Mauer. Es ist die Mauer, die das Wohnhaus vom Massenmord trennt.

Rudolf Höß war von 1940 bis 1943 Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz und tatsächlich liegt in seiner Person die Betonung des Wortes Vernichtung. Wie ein Ingenieur setzte er die “Endlösung der Judenfrage” um, einigte sich mit Adolf Eichmann darauf, dass es SS-Männern nicht zuzumuten sei, so viele Juden zu erschießen, wie man deportiert habe. Höß organisierte die Vergasung der Juden mit Zyklon B, ließ die Krematorien bauen und tat all das als rund 40-jähriger Familienvater, der mit Frau und Kindern auf der anderen Seite der Mauer so lebte, wie wir es in “The Zone of Interest” sehen. Die “Banalität des Bösen”, mit der die jüdisch-deutsche Philosophin Hannah Arendt später die Bereitschaft der Deutschen zu erklären versuchte, den Holocaust zu organisieren, spiegelt sich hier in der Banalität des Badens, des Picknicks, des Blumenbeets.

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Der Cast von “The Zone of Interest”

Bevor man überhaupt die Namen der Schauspieler nennt, die sich auf das Wagnis einließen, einen solchen Abgrund der Menschheitsgeschichte zu verkörpern, muss man sich die Gefahr vergegenwärtigen, die darin besteht, sein Gesicht, sein Können und seine Stimme für einen Film wie diesen herzugeben. “The Zone of Interest” bleibt konsequent auf der deutschen Seite der Mauer, zeigt nicht, was sich auf der anderen Seite abspielt. Baupläne von den Krematorien sehen wir in Höß’ Büro, die Nutzung der Krematorien sehen wir nicht.

Christian Friedel spielt Rudolf Höß und Sandra Hüller seine Frau Hedwig. Beide tun das in einer Reduktion, die gar nicht erst den Verdacht aufkommen lässt, man habe es mit blutrünstigen Monstern zu tun. Friedel und Hüller spielen Menschen. Sie sind ein Ehepaar mit Höhen und Tiefen. Sie unterstützt seine Karriere, er hadert mit seinen Vorgesetzten, bespricht seine Sorgen mit ihr, sie geht auf ihn ein, ist aber auch bedacht auf ihr Wohlbefinden, auf Erholung. Der schneidenste Satz, den Hüller in diesem Film sagt, ist eine Reaktion auf die Möglichkeit der Versetzung ihres Mannes an einen anderen Ort, an den sie mit den Kindern folgen müsste. Hüller lässt ihre Hedwig mit dem Nachdruck einer Verzweiflung sagen: “Wir haben uns hier etwas aufgebaut!” Sie will in Auschwitz bleiben. Auschwitz ist ihr ein Paradies geworden.

(Lesen Sie auch: “Killers of the Flower Moon”: Ein Blick in die tiefste Wunde der amerikanischen Seele)

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Es ist ein leises Schauspiel, mit dem Hüller und Friedel ihrem Ehepaar Gestalt geben. In ihren Gesichtern bildet sich während der belanglosesten Alltagsdialoge eine Anspannung ab, eine Unruhe, ein immer wiederkehrender Ausdruck der Abspaltung, die diese beiden Menschen zu dem gigantischen Verbrechen jenseits der Mauer gewonnen haben. Das Geniale an dieser Art des Schauspiels ist nicht nur der Mut, diese Rollen überhaupt anzunehmen. Es ist auch all das Nicht-Gesagte, Nicht-Herausgelassene, Nicht-Thematisierte und somit die nicht dargestellte Darstellung des Verbrechens, das die beiden so exakt aus ihren Augen und zusammengepressten Lippen sprechen lassen. Sowas muss man können. Friedel und Hüller können es.

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Der Sound von “The Zone of Interest”

Kein einziges Bild zeigt “The Zone of Interest” von der Vernichtung der Juden. Genau darin liegt das kühne Wagnis des Films. Den Tätern Raum zu geben, sie mit Leben und Sorgen auszustatten, aber nicht auf die Leinwand zu bringen, was Rudolf Höß zu verantworten hat. Und doch ist die Vernichtungsmaschine im Kino. Als Sound. Jede Szene im idyllischen Haus und Garten der Familie ist überlagert von den Geräuschen des Vernichtungslagers. Der Klang des Mordens klettert über die Mauer und durch den Kinosaal. Mal als Rauschen einfahrender Züge, dann als dräuende Fabrik, oder als Hilfeschreie, Hundegebell, als Schüsse und Schreie, ohne Pause, den gesamten Film über. In einer Szene aus dem Höß-Garten weiß man nicht, ob dort Kinder beim Spielen aufschreien oder ob es Kinder aus dem Vernichtungslager sind, die um ihr Leben schreien.

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“The Zone of Interest” bei den Oscars

Das permanente Rauschen des Vernichtungslagers wird irgendwann in dem Film zu einem Hintergrundgeräusch, an das man sich als Zuschauer gewöhnt. Genau das ist die Stelle, an der “The Zone of Interest” sein Publikum zum Akteur der Geschichte macht. Wir gewöhnen uns an das Böse genauso wie Hedwig sich ein Paradies aufgebaut hat in Auschwitz, das sie nicht mehr aufgeben will. Es ist ein ähnliches Hintergrundgeräusch wie all die bedrohlichen Entwicklungen unserer heutigen Gegenwart, denen wir nicht viel entgegensetzen wollen oder können, teilweise, weil wir uns an das Hintergrundgeräusch gewöhnt haben. Wie in diesem Film. So schließt sich der Kreis zum Schwarz des Anfangs, in dem wir nichts sehen, nur hören.

Für das Sounddesign von “The Zone of Interest” sind Tarn Willers und Johnnie Burn für einen Oscar nominiert. Die Geräuschkulisse ist mehr als gut ausgearbeitet und auch mehr als ein erzählerisches Mittel. Der Klang des Grauens überlagert die Idylle des Höß-Hauses und bestimmt somit die Deutung des Films. Allein die Geräusche sind Zeugnis der Vernichtung der Juden. Wir sehen nichts. In dieser Gestaltung des Films spiegelt sich die beliebteste Ausrede der Deutschen nach ’45: Man habe “davon gehört”, aber nichts gewusst.

“The Zone of Interest” ist völlig zu recht in der Königskategorie “Bester Film” für einen Oscar nominiert. Der britische Regisseur Jonathan Glazer ist außerdem für den Oscar als bester Regisseur und für das beste adaptierte Drehbuch nominiert. Er ist selbst Jude und erzählte in einem Interview mit dem Guardian vom Streit mit seinem Vater darüber, ob man einen Film wie diesen machen könne. Die fünfte Nominierung kommt in der Kategorie “Bester internationaler Film” hinzu. (Lesen Sie hier, wo Sie die Oscar-nominierten Filme streamen können)

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Fazit zu “The Zone of Interest”

Darf es eine Idylle in der Barbarei von Auschwitz geben? Ich selbst habe “The Zone of Interest” in Cannes gesehen, als er bei den Filmfestspielen seine Weltpremiere im Wettbewerb hatte. In der Frühlingsluft der Côte d’Azur ist das Publikum nicht eingestellt auf einen Film, der seinem Publikum so viel abverlangt wie dieser. Sandra Hüller sah auf dem Weg zu ihrem Platz im Festivalpalast aus, als müsse sie den Film vertreten, nicht als wolle sie ihn vertreten. Der Film ist eine Belastung.

Am nächsten Vormittag traf ich zufällig einen Bekannten auf der Straße, der mich fragte, was ich beim Festival schon gesehen habe. Sofort erzählte ich, wie begeistert ich von “The Zone of Interest” sei, wie mutig der Film sei, wie perfekt Sandra Hüller und Christian Friedel ihre Figuren treffen. Mein Gegenüber schaut mich an und sagt: “Ich hab ihn nicht gesehen, aber es ist wieder einer dieser gefeierten Holocaust-Filme, in denen es keine jüdischen Stimmen gibt.” Erst in dem Moment ist mir wieder gewahr geworden, dass der Mann, mit dem ich rede, Jude ist. Und ich fühlte mich, als wäre ich zu lang in der Höß-Villa gewesen. Als würde der Film das Leid der Juden ausbeuten, um den Tätern menschliche Züge zu geben und sie damit entlasten.

Ein paar Tage später wurde “The Zone of Interest” mit dem Ehrenpreis der Jury und mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet. Das war im Mai letzten Jahres und seitdem macht dieser Film eine Karriere, die beispiellos ist für eine polnisch-britische Produktion über den Holocaust. Sandra Hüller ist gerade eine der umworbensten internationalen Schauspielerinnen, ziert die Cover etlicher Magazine, wird porträtiert in der “New York Times”, ist nominiert für einen Oscar als beste Hauptdarstellerin in “Anatomie eines Falls”. Christian Friedel dreht diese Tage in Thailand die dritte Staffel von “White Lotus”.

Ich stehe immer wieder auf der Straße in Cannes vor dem Juden, der mir sagt, es komme keine jüdische Stimme in dem Film vor. Meine Betroffenheit dieser Begegnung beschämt mich. Sie steht in einem schiefen Verhältnis zu den Geschichten der jüdischen Familien, die ich kenne. Oder zu wenig kenne. Sie alle sind gezeichnet von Vertreibung – oder von dem Wort, aus dem Rudolf Höß seinen Beruf ableitete: Vernichtung.

“Schindlers Liste” und viele andere Filme über den Holocaust widmen sich der Beispiellosigkeit des Holocaust. Manche dieser Filme romantisieren das Retten einzelner Juden. Kein Film zuvor hat die Verhältnisse so gnadenlos umgekehrt wie “The Zone of Interest”.

Mit dem Freund aus Cannes möchte ich jetzt darüber sprechen, ob er den Film gesehen hat. Ich will ihm zuhören. Ob ich das Recht hätte, ihm zu sagen, dass ein Film Auschwitz als Idylle zeigen darf, weiß ich nicht. Aber zumindest würde ich mit ihm ins Gespräch kommen und ihm in die Augen schauen. Würden wir die Augen schließen, hören wir nur von dem Grauen.

“The Zone of Interest”, im Kino ab dem 29. Februar 2024, Regie: Jonathan Glazer, mit Sandra Hüller, Christian Friedel, u. a.

(Auch interessant: “Poor Things” mit Emma Stone: Der Feminismus des Frankenstein)

(Lesen Sie auch: Alle Yorgos-Lanthimos-Filme im Ranking)

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