ISW: "Häufiges Säbelrasseln": Stellt Russland dem Westen erfolgreich eine Atom-Falle?
Moskau wütet angesichts der militärischen Unterstützung aus dem Westen für die Ukraine und Gedankenspielen über Bodentruppen. Als Reaktion wird eine Atomübung angekündigt, hinter der Wissenschaftler aus den Vereinigten Staaten jedoch mehr ein immer wieder aufkommendes Kalkül als eine Bedrohung sehen.
Zum russischen Arsenal gehören strategische Atomwaffen wie Interkontinentalraketen. Bei der angekündigten Übung sollen jedoch nichtstrategische zum Einsatz kommen.
Die US-Denkfabrik Institut für Kriegsstudien (ISW) hält die Ankündigung einer Atomübung nahe der Ukraine durch Russland für Taktik. Moskau ziele – wieder einmal – darauf ab, den Westen durch gezielte Rhetorik so zu beeinflussen, dass dieser “Handlungen ausführt, die für Russland vorteilhaft sind”. Konkret gemeint ist damit vor allem die Unterbindung von militärischer Hilfe für die Ukraine. Russland wolle “westliche Entscheidungsträger dazu bringen, sich selbst zu zügeln und ihre Unterstützung für die Ukraine zu mäßigen”, so das ISW.
Moskau habe im Verlauf seiner großangelegten Invasion in der Ukraine häufig mit nuklearem Säbelrasseln gedroht, um seinen selbstdefinierten Gegner – den Westen – dazu zu bringen, die militärische Unterstützung einzustellen, heißt es in einer Analyse der Denkfabrik. Russische Politiker würden ihre Drohungen zeitlich so takten, dass sie “mit wichtigen westlichen politischen Entscheidungen bezüglich des Krieges zusammenfallen”. Aktuell läuft die Hilfe aus einem 61-Milliarden-Dollar schweren Unterstützungspaket für die Ukraine aus den USA an.
Im Sommer sollen zudem erste F-16-Jets aus Europa an Kiew geliefert werden. Das russische Außenministerium behauptete jüngst, es werde die Ankunft der Kampfjets in der Ukraine als Provokation betrachten, weil man die Kampfflugzeuge als Träger von Nuklearwaffen ansehen werde. “Eine Standarddrohung, die russische Beamte seit dem ersten Engagement westlicher Staaten zur Sendung von F-16 an die Ukraine im Sommer 2023 gemacht haben”, schreibt das ISW.
ntv-Moskau-Korrespondent Rainer Munz hält es zudem für möglich, dass die russischen Drohungen gerade jetzt kommen, weil eine Offensive bevorstehen könnte. “Man will dem Westen zeigen, falls ihr darauf irgendwie noch härter reagiert, dann können wir auch taktische Atomwaffen einsetzen”, sagte Munz mit Blick auf die russische Führung.
“Die Ukraine versucht, Brennpunkte zu schaffen”
Vor allem drei Staaten machen Moskau sauer
In Teilen der westlichen Bevölkerung und auch bei führenden Politikern wie Olaf Scholz gibt es eine große Sorge vor einer weiteren Eskalation des Konflikts. Der deutsche Bundeskanzler erklärte seine Verweigerung der Lieferung von Taurus-Langstreckenraketen immer wieder damit, dass damit Ziele auf russischem Boden angegriffen werden könnten.
“Russische Beamte nutzen wahrscheinlich die Informationsoperation mit Nuklearwaffen, um westliche Entscheidungsträger davon abzubringen, ukrainischen Streitkräften zu erlauben, mit westlich gelieferten Systemen legitime militärische Ziele in Russland anzugreifen”, schreibt das ISW. Legitim deshalb, weil Angriffe auf solche Ziele auf russischem Boden durch das Völkerrecht gedeckt sind.
Russland droht mit Angriff auf britisches Militär
Staaten wie die USA, Großbritannien oder Frankreich hatten zuletzt weniger Zurückhaltung an den Tag gelegt. Washington lieferte dieses Jahr bereits ATACMS-Raketen mit größerer Reichweite an Kiew. In den nächsten Monaten werden zudem weitere bedeutende Waffen übergeben. Großbritanniens Außenminister David Cameron sagte kürzlich, die Ukraine habe das Recht, militärische Ziele innerhalb Russlands anzugreifen, und Frankreichs Präsident Macron brachte erneut den Einsatz von Bodentruppen ins Spiel, wofür es auch aus anderen Staaten teilweise Zustimmung gab.
“Infantile Idioten”
Dies alles erzürnt Moskau und wird dort als Begründung für die Atomübung angeführt – unter anderem von Ex-Präsident Dmitri Medwedew auf seinem englischsprachigen X-Kanal. Diesen nutzt der stellvertretende Leiter des Sicherheitsrates regelmäßig, um (Hass-)Botschaften an den Westen zu senden.
Jüngst bezeichnete er dort Verantwortliche in den USA, Frankreich und Großbritannien als “unverantwortliche Bastarde” und “infantile Idioten”. Zudem philosophierte Medwedew über eine “globale Katastrophe”. Regelmäßig um sich schlagende Akteure wie der Ex-Präsident sind laut ISW “entscheidende Elemente” von Russlands nuklearer Rhetorik.
Die Denkfabrik schätzt die Lage nach wie vor so ein, “dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass Russland eine taktische Nuklearwaffe auf dem Schlachtfeld in der Ukraine oder anderswo einsetzt.” Die Wissenschaftler bezeichnen Moskaus Verhalten als “reflexive Kontrolle”, die ein Schlüsselelement in Russlands Arsenal der hybriden Kriegsführung sei. Der sowjetische Mathematiker Wladimir Lefebrew habe reflexive Kontrolle als “den Prozess der Übertragung der Entscheidungsgründe” auf einen Gegner mittels “Provokationen, Intrigen, Täuschungen, Schaffung falscher Objekte und Lügen jeglicher Art” bezeichnet.
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