INTERVIEW - Streit um die Renten: «Mich irritiert vor allem das Doppelspiel der Gewerkschaften», sagt der Direktor des Pensionskassenverbands
Damit das Geld im Alter reicht: Pensionskassen müssen dafür sorgen, dass sie ihr Leistungsversprechen bis zum Tod und darüber hinaus halten können. ; Annick Ramp / NZZ
Bei ihm kommt die zweite Säule zuerst: Lukas Müller-Brunner, Direktor des Schweizerischen Pensionskassenverbands (Asip), setzt sich von Amtes wegen für die berufliche Vorsorge ein. Keine leichte Aufgabe. Die Pensionskassen stehen politisch im Schatten der populären AHV, der ersten Säule der Altersvorsorge, die im Umlageverfahren direkt von Jung zu Alt finanziert wird. Dieses Jahr stimmt das Volk über beide Säulen ab. Im März hat eine deutliche Mehrheit einen Ausbau der AHV beschlossen. Im Herbst kommt die Reform der beruflichen Vorsorge an die Urne. Der Widerstand ist gross. Er reicht von den Gewerkschaften bis zu den Bauern und Teilen des Gewerbes.
Sind Sie als oberster Vertreter der Schweizer Pensionskassen manchmal neidisch auf die populäre AHV?
Nein. Ich will die zwei wichtigsten Säulen unserer Altersvorsorge nicht gegeneinander ausspielen. Gerade weil die AHV und die berufliche Vorsorge mit den Pensionskassen nach unterschiedlichen Regeln funktionieren, ist unser System so stabil. Gleichwohl will ich nicht verhehlen, dass die Stärkung der beruflichen Vorsorge aus meiner Sicht dringlicher gewesen wäre als eine 13. AHV-Rente.
Dass das Volk dem Ausbau der AHV zustimmte, hat viel damit zu tun, dass die Leute an der beruflichen Vorsorge zweifeln, dass sie mit den Renten der Pensionskassen unzufrieden sind: Teilen Sie diese Analyse?
Nicht unbedingt. Eine wichtigere Rolle spielte der Zeitpunkt der Abstimmung: Zum ersten Mal seit langem haben wir eine Teuerung, die Kaufkraft ist gesunken. Das trug zur Unsicherheit bei. Vermutlich hat der jüngst grosszügige Staat auch eine neue Erwartungshaltung im Volk geweckt. Das Abstimmungsthema war aber klar abgesteckt und auf die erste Säule begrenzt. Es ist deshalb kein Entscheid gegen die Pensionskassen.
Bestreiten Sie, dass die berufliche Vorsorge ein Imageproblem hat? Die Befürworter der 13. Rente haben stark mit den sinkenden Pensionskassenrenten argumentiert.
Beim ersten Punkt haben Sie vermutlich recht. Die Pensionskassen leisten hervorragende Arbeit, sorgen aber nicht dafür, dass die Leute das zur Kenntnis nehmen. Dass die Altersarmut so stark abgenommen hat, ist massgeblich der beruflichen Vorsorge zu verdanken. Das müssen wir besser erklären. Aber das hat nichts mit den Behauptungen und Nebelpetarden im Abstimmungskampf zur 13. AHV-Rente zu tun.
Wie meinen Sie das?
Die Kreise, die den Ausbau der AHV wollen, haben bewusst Misstrauen gegen die Pensionskassen geschürt. Sie haben die berufliche Vorsorge schlechtgeredet, um die AHV besser aussehen zu lassen. Berechtigte Kritik ist wichtig, hier aber wurde mit pauschalen Vorwürfen Stimmung gemacht. Damit habe ich Mühe. Alle drei Säulen unserer Vorsorge – AHV, Pensionskassen und private Vorsorge – basieren letztlich auf Vertrauen: Man zahlt heute Geld ein, in der Erwartung, morgen etwas zurückzuerhalten. Wer dieses Vertrauen beschädigt, gefährdet das Fundament der Altersvorsorge. Das ist fahrlässig.
Das sind gravierende Vorwürfe: Sie sagen, Gewerkschaften, SP und Grüne würden der Altersvorsorge schaden.
Mich irritiert vor allem das Doppelspiel der Gewerkschaften. Ihre Vertreter sitzen in den paritätisch zusammengesetzten Stiftungsräten zahlreicher Pensionskassen. Dort leisten sie grossartige Arbeit, sie tragen damit nicht nur die einzelnen Vorsorgeeinrichtungen mit, sondern das ganze System. Sobald es aber politisch wird, reden ihre Exponenten plötzlich ganz anders. Dann machen sie die berufliche Vorsorge schlecht. Das stört mich sehr.
Das ist doch normale Politik . . .
. . . das sehe ich anders: Es ist nicht normal und auch nicht legitim, Aussagen wider besseren Wissens zu machen und die Leute in die Irre zu führen. Das ist Gift für das System. Und leistet auch der Polarisierung in Politik und Gesellschaft Vorschub. Ich würde niemals die AHV schlechtreden, um etwas für die Pensionskassen herauszuholen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Geradezu populistisch ist die Behauptung, die AHV habe wegen der Umverteilung von Reich zu Arm ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis als die zweite Säule. Es stimmt zwar, dass etwa 90 Prozent der Bevölkerung in der AHV mehr erhalten, als sie einzahlen. Dabei wird aber bewusst verschwiegen, dass dieser Effekt nur möglich ist wegen der Querfinanzierung über die Generationen hinweg, von Jung zu Alt. Diese Umverteilung fällt je nach Zeithorizont sogar stärker ins Gewicht als jene von hohen zu tiefen Einkommen, wird aber konsequent ausgeblendet. Ebenso ärgerlich ist die Behauptung, die Renten der Pensionskassen würden laufend sinken und darum sei die zweite Säule ineffizient.
Laut dem Bundesamt für Statistik sinken die monatlichen Renten tatsächlich.
Wer das System kennt – und die Gewerkschafter kennen es gut –, weiss, dass diese Statistik zwei wichtige Faktoren nicht berücksichtigt. Erstens wird ein immer grösserer Teil der angesparten Guthaben bei der Pensionierung nicht als Rente bezogen, sondern als Kapital. Zweitens arbeiten mehr Leute Teilzeit und zahlen darum weniger ein. Da ist es nur logisch, dass die Rentenzahlungen statistisch sinken. In der Gesamtbetrachtung steigt aber die Leistungssumme deutlich an. Das ist umso bemerkenswerter, als die Pensionskassen die Renten länger ausbezahlen. Seit Einführung des Obligatoriums 1985 hat die Lebenserwartung nach der Pensionierung von rund fünfzehn auf zwanzig Jahre zugenommen. Somit haben wir einen deutlichen Leistungsausbau in der zweiten Säule, den aber praktisch niemand zur Kenntnis nimmt.
Das hat jedoch auch seinen Preis: Die Pensionskassen haben die Umwandlungssätze stark gesenkt, die für die Höhe neuer Renten entscheidend sind. Um dies zu kompensieren, waren höhere Lohnbeiträge oder Kapitalzuschüsse der Arbeitgeber nötig.
Hier spielen eben die unterschiedlichen Mechanismen der ersten und der zweiten Säule eine Rolle: In der AHV kann man heute Leistungen versprechen und erst in Zukunft klären, wie man sie finanziert. Die Pensionskassen hingegen müssen jederzeit die Auszahlung aller Leistungen garantieren. Wenn die Lebenserwartung steigt und die Renditen am Kapitalmarkt sinken, haben sie keine andere Wahl, als die neuen Renten vorsichtiger zu kalkulieren.
Aber gehen die Pensionskassen nicht zu weit? Viele haben den Umwandlungssatz unter 5 Prozent gesenkt. Auf diesem Niveau braucht es bei einem durchschnittlichen Bezug von zwanzig Jahren keinerlei Zins, um die Renten bis zum Tod auszuzahlen. Das ist doch übervorsichtig.
Nein. Erstens gibt es nicht nur die normalen Altersrenten, sondern auch Leistungen für die Hinterlassenen, für Witwen oder Waisen. Auch die müssen finanziert sein, und so geht die durchschnittliche Leistungspflicht deutlich über zwanzig Jahre hinaus. Zweitens sterben die Menschen nicht statistisch. Die Pensionskassen müssen auch dann alle Renten auszahlen, wenn jemand 110 Jahre alt wird. Dazu müssen sie antizipieren, wie sich die Lebenserwartung weiterentwickelt. Es ist davon auszugehen, dass sie weiter ansteigt, allenfalls auch sprunghaft.
Wie meinen Sie das?
Stellen wir uns vor, es werden neue Medikamente entwickelt, etwa gegen Alzheimer oder Krebs. Dann wird die Lebenserwartung in kurzer Zeit stark zunehmen. Da kann eine Pensionskasse nicht plötzlich sagen, damit habe sie nicht gerechnet und sie könne nun die Renten leider nicht mehr bezahlen. Man darf die Bedeutung dieses uneingeschränkten Leistungsversprechens nicht unterschätzen: Es gibt eine unglaublich hohe Sicherheit. Eine Kürzung laufender Renten ist – völlig zu Recht – unmöglich. Die Allgemeinheit kann froh sein, wenn die Pensionskassen deshalb vorsichtig rechnen.
Vielleicht ist dieses langfristige Sicherheitsdenken der Grund dafür, dass die berufliche Vorsorge heute im Vergleich zur AHV weniger populär ist.
Das mag sein. Das Leistungsversprechen macht das System stabil, aber zwangsläufig auch träge. Bis ein Ausbau spürbar wird, dauert es Jahrzehnte. Die Geduld zahlt sich aber aus: Die Versicherten profitieren stark von den Zinsen der Kapitalmärkte, die bis zur Pensionierung gut und gern ein Drittel des ganzen Guthabens ausmachen können. Das ist in der AHV nicht möglich. Dafür lässt sich dort durch die Umlagefinanzierung ein Ausbau schneller umsetzen: Man kann heute entscheiden, dass die Pensionierten morgen höhere Leistungen erhalten, die übermorgen von ihren Kindern bezahlt werden. Das ist politisch verlockend – hat aber in einer alternden Gesellschaft einen sehr hohen Preis.
Im Herbst stimmen wir über die Reform des Gesetzes über die berufliche Vorsorge (BVG) ab. Der Widerstand ist gross, die Linke ist geschlossen dagegen, Teile des Gewerbes ebenfalls. Gehen Sie davon aus, dass die Reform nach dem Ja zum Ausbau der AHV noch eine Chance hat?
Natürlich, wenn die Abstimmung über die AHV bedeutet, dass das Volk eine gute Vorsorge für alle will, wird die BVG-Reform gute Chancen haben. Sie regelt die Finanzierung des gesetzlichen Minimums, und sie bringt einen gezielten Ausbau für Personen, die Teilzeit arbeiten oder mehrere kleine Pensen haben – also vor allem für Frauen. Sie fallen im in die Jahre gekommenen BVG-Minimum, das die moderne Arbeitswelt nur noch ungenügend abbildet, oft zwischen Stuhl und Bank und erhalten deshalb im Alter keine angemessene Rente.
Jetzt sind Sie aber sehr optimistisch. Für die 13. AHV-Rente müssen die Lohnbeiträge erhöht werden. Umso grösser wird der Widerstand gegen die BVG-Reform sein, die ebenfalls höhere Beiträge erfordert.
Wenn die Reform scheitert, haben wir eine paradoxe Situation: Dann würden etwa 80 Prozent der Bevölkerung eine höhere AHV-Rente erhalten, die sie nicht nötig haben, während wir in der beruflichen Vorsorge einer Minderheit aus Frauen und Teilzeitangestellten einen Ausbau verweigern, der nachweislich notwendig ist. Diese Diskrepanz wäre sozialpolitisch nicht leicht zu erklären. Ich gehe davon aus, dass die Mehrheit eine faire, bessere und modernere Vorsorge für alle Bevölkerungsgruppen will. Ohne höhere Lohnbeiträge ist das nicht möglich. Im Gegensatz zur AHV hat die berufliche Vorsorge nur diese eine Finanzierungsquelle.
Ihr Verband hat die BVG-Reform lange kritisiert, unterstützt sie nun aber. Wieso?
Unsere Mitglieder haben in einer Umfrage beschlossen, die Vorlage des Parlaments mitzutragen, auch wenn einzelne Teile technisch nicht vollends überzeugen. Es ist wichtig, dass diese Reform gelingt. Es ist das dritte Mal, dass das Volk über die Reduktion des Umwandlungssatzes für das gesetzliche Minimum abstimmt. Wir dürfen uns nichts vormachen: Dieser Schritt ist mathematisch unausweichlich. Die Zinsen sind zwar wieder besser, aber die Lebenserwartung nimmt zu. Wenn das Volk nun aber zum dritten Mal Nein sagt, sehe ich nicht, wie es weitergehen soll. Dann stellt sich die Grundsatzfrage, ob das gesetzliche Minimum im BVG überhaupt reformierbar ist.
Wäre das in der Praxis denn so schlimm? Praktisch alle Pensionskassen gehen schon heute über das gesetzliche Minimum hinaus. Sie werden weiterhin funktionieren, auch wenn die Reform scheitert.
Das stimmt, für die einzelnen Pensionskassen gäbe es keine Probleme. Aber unser Drei-Säulen-System als Ganzes würde leiden. Wenn das Gesetz für die berufliche Vorsorge ein Minimum definiert, dessen Leistungen sich mit den vorgesehenen Beiträgen niemals finanzieren lassen, ist das Traumtänzerei. Früher oder später wird uns die Realität einholen.
Nochmals: Was wären konkret die Probleme?
Alle Pensionskassen wären gezwungen, in den überobligatorischen Bereich abzuwandern. Mit der Zeit dürfte es schwierig werden, Arbeitgebern und Angestellten zu erklären, weshalb sie höhere Beiträge bezahlen sollen als im gesetzlichen Obligatorium vorgesehen, ohne dass es diesen Referenzwert in der Realität überhaupt noch gibt. Vor allem aber würden wir es nicht schaffen, Personen mit Teilzeitpensen oder mehreren Jobs in der obligatorischen beruflichen Vorsorge angemessen abzusichern.