INTERVIEW - Die Präsidentin der Reformierten sagt: «Man hat Vergebung eingefordert, ohne die Täter in die Pflicht zu nehmen»
Rita Famos ist seit drei Jahren Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Ihr Vorgänger Gottfried Locher trat wegen Grenzüberschreitungen zurück. Gaëtan Bally / Keystone
Frau Famos, was bedeutet Vergebung für Sie?
Vergebung ist ein Abschluss eines Prozesses, in dem man einem Gegenüber seine Taten oder Äusserungen verzeiht. Sie ist ein Herzstück der reformierten Theologie, die besagt: Ich bin wertvoll – unabhängig von meinen Fehlern.
Wir werden ein Gespräch über sexuellen Missbrauch führen. Glauben Sie, dass man jede Tat vergeben muss?
Auf keinen Fall. Denn Vergebung setzt voraus, dass der Täter seine Fehler erkannt hat. Das ist gerade im Kontext von Missbrauch oft nicht der Fall. Und es gibt Leid durch sexuellen Missbrauch, das über das hinausgeht, was Menschen vergeben können. Jeder Übergriff hinterlässt lebenslänglich Spuren, da gibt es nichts schönzureden.
Das christliche Konzept der Vergebung kann Missbrauch geradezu begünstigen, wenn etwa eine gläubige Jugendliche ihrem Peiniger die Taten ständig verzeiht, anstatt die Übergriffe zu melden.
Das ist ein Teil des Problems, vor dem wir als Kirche heute stehen. Es gibt kein Recht des Täters auf Vergebung. Das wäre billige Gnade, bei der man zu schnell sagt: Schwamm drüber, wir beginnen wieder von neuem. Diese Form der Vergebung zementiert Unrecht und ist nicht das, was die Bibel meint.
Wie meinen Sie das?
Wir wissen aus der Studie der Evangelischen Kirche Deutschland, dass Betroffenen oft das Gefühl gegeben wurde: Du musst mit der Situation ins Reine kommen und vergeben. Man hat das eingefordert, ohne dass der Täter in die Pflicht genommen wurde. Vergebung funktioniert aber nur als Abschluss eines Prozesses, den man miteinander durchgemacht hat.
Oberste Reformierte
Rita Famos (58) ist Theologin und wurde 2020 zur Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz gewählt. Sie trat die Nachfolge von Gottfried Locher an, der nach Vorwürfen wegen Machtmissbrauch zurückgetreten war. Famos war zuvor Gemeindepfarrerin in Uster und Zürich-Enge sowie zwei Jahre lang Sprecherin des Worts zum Sonntag beim Schweizer Fernsehen. Die gebürtige Bernerin ist verheiratet und Mutter zweier erwachsener Kinder.
Die deutsche Studie hat gezeigt, dass es nicht nur bei den Katholiken, sondern auch bei den Reformierten viele Fälle von sexuellem Missbrauch gegeben hat und gibt. Nun wollen Sie reagieren.
Ja, wir wollen in der Schweiz eine repräsentative Umfrage durchführen und haben dafür diese Woche einen Antrag über 1,6 Millionen Franken für eine Missbrauchsstudie an unser Kirchenparlament, die Synode, verschickt. Sie wird im Juni darüber befinden.
Was ist das Ziel dieser Studie?
Wir wollen das Thema enttabuisieren. Die Studie geht der Frage nach, wo überall Missbrauch geschieht und wie häufig: In den Kirchen, aber auch in den Familien, in den Sportverbänden, in der Schule. Es kann nicht sein, dass man sich zurücklehnt und auf Sündenböcke wie zum Beispiel die katholische Kirche zeigt. Wir hoffen, dass die Resultate auch anderen Institutionen helfen, um gegen sexuellen Missbrauch vorzugehen.
Das klingt nach einem Ablenkungsmanöver von den Fällen in den eigenen Reihen.
Das ist nicht so. Es geht uns weder um ein Ranking noch um eine Relativierung. Doch Missbrauch ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Und 95 Prozent der Täter sind Männer, die die Situation der Opfer und die Schwachstellen der Institutionen in ganz unterschiedlichen Kontexten ausnutzen. Wir wollen einen Beitrag dazu leisten, dass man die Täterprofile und Tatkontexte eruieren kann, damit Täter nicht einfach durchmarschieren können. Gleichzeitig werden wir bei uns vertiefter hinschauen und zusätzlich zur Umfrage die Betroffenen im reformierten Umfeld mit einer separaten Befragung ansprechen. Wir wollen wissen: Wo und wie geschahen die Übergriffe, und was hat die Aufdeckung der Taten verhindert?
Warum haben Sie sich für eine Umfrage entschieden und nicht für eine Aufarbeitung der Akten, wie dies die katholische Kirche in der Schweiz und die evangelische Kirche Deutschlands gemacht haben?
Das hat damit zu tun, dass wir eine Beteiligungskirche sind, die von unten her aufgebaut ist. Wir haben eine föderalistische Struktur mit 25 Mitgliedskirchen. Eine Aufarbeitung von Akten wäre darum viel komplexer als bei den Katholiken. Wir wollen das Dunkelfeld ausleuchten. Das Wissen der Betroffenen ist entscheidend. Sie sind unsere Expertinnen.
Die Ergebnisse Ihrer Studie werden Ende 2027 vorliegen. Die Katholiken waren viel schneller und haben schon eine Untersuchung durchgeführt. Warum handeln Sie erst jetzt?
In der reformierten Kirche hatten wir lange das Gefühl, dass uns das Thema nicht stärker betrifft als den Rest der Gesellschaft. Im Gegensatz zu den Katholiken sind wir keine Männerkirche, wir haben kein Zölibat und keine rigide Sexualmoral. Die deutsche Studie hat uns die Augen geöffnet.
Dabei gab es in der reformierten Kirche schon 2020 einen Fall, der eine Warnung hätte sein können. Ihrem Vorgänger Gottfried Locher wurden Grenzüberschreitungen nachgewiesen.
Das wurde damals als extremer Einzelfall wahrgenommen. So wie er in jedem Unternehmen vorkommen kann. Aus heutiger Sicht muss man sagen, dass dieser Fall Aspekte aufweist, die systemtypisch sind.
Inwiefern?
Es ging um Machtmissbrauch durch eine charismatische Persönlichkeit. Und es dauerte relativ lange, bis die betroffene Frau eine Stelle fand, an die sie sich zu wenden getraute.
Was ist daran systemtypisch?
Unsere Kirche lebt im Gegensatz zur katholischen nicht von einer institutionellen Macht. Bei uns geht es vielmehr um Überzeugung und Charisma. Unsere Amtspersonen sind oft gut gebildet, sprachlich sehr gewandt und haben eine starke Überzeugungskraft. Als Seelsorger bauen sie ein tiefes Vertrauensverhältnis auf und haben einen Vertrauensvorsprung. Das kann missbraucht werden. Mit verheerenden Folgen. Ein Täter mit Charisma wird zudem von unseren kirchlichen Milizbehörden weniger hinterfragt und seltener gestoppt.
In einem Podcast erzählt eine Frau aus Neuenburg davon, wie sie als 14-jährige Jugendliche von einem reformierten Jugendarbeiter missbraucht wurde, bis hin zur Penetration. Was löst ein solcher Fall in Ihnen aus?
Ich bin entsetzt, schockiert und sprachlos, wenn ich höre, dass das passiert ist und niemand etwas gemerkt hat. Und dann kommt mir jener Pfarrer in den Sinn, der uns im Studium als herausragender Jugendpfarrer präsentiert wurde. Die Jungen kamen scharenweise in seine Gottesdienste und Jugendangebote. Heute weiss ich, dass er ein Missbrauchstäter war.
Hören Sie viele Geschichten von Betroffenen?
Seit Anfang Jahr fast wöchentlich. Es sind gravierende Fälle, da sprechen wir von Vergewaltigung und Nötigung. Die Betroffenen erzählen ihre Geschichte, weil sie uns zeigen wollen, dass auch die reformierte Kirche ein Problem mit Übergriffen hat. Sie fühlen sich dazu ermutigt, weil sie wissen, dass wir das Thema nun angehen.
Kommt es auch zu spirituellem Missbrauch?
Ja, durchaus. Oft steht dieser am Anfang. Zuerst missbraucht der Täter den Glauben und das Vertrauen einer Person in die Kirche und sein Amt. Dadurch nähert er sich dem Opfer auch körperlich an. Später missbraucht er diese Nähe. Wir müssen die Fragestellung unserer Studie deshalb weit fassen.
Die Studie soll das Ausmass des Problems festhalten. Ist es damit erledigt?
Erledigt ist das Thema nie. Wir wollen alles daransetzen, dass die reformierte Kirche ein sicherer Ort ist. Anhand der Studienergebnisse werden wir überprüfen, ob unsere Schutzkonzepte wirken und wo wir sie anpassen müssen. Wichtig ist, dass wir anerkennen, was unter unserem Dach geschehen ist. Den Betroffenen wollen wir zeigen: Wir hören euch. Wir lernen von euch. Eure Geschichte ist auch ein Teil unserer Geschichte.
Erhalten die Opfer eine Entschädigung?
Ich gehe davon aus, dass unsere Mitgliedkirchen Mittel und Wege finden, wie sie den Opfern finanzielle Anerkennung aussprechen können, ohne dass es dafür komplexe Verfahren braucht, die zu Retraumatisierungen führen können. Und wir setzen uns für eine Vereinheitlichung der Verfahren ein.
Ein grosses Problem ist, dass Täter oft an anderen Orten von neuem versuchen, sich an Opfer heranzumachen. Wie wollen Sie das über die Grenzen der Kirchgemeinden und Kantonalkirchen hinweg vermeiden?
Bei der Einstellung von Pfarrern verlangen die Kirchgemeinden heute schon einen Sonderprivatauszug aus dem Strafregister. So erkennen sie verurteilte Täter auch nach der Verjährung. Zudem gibt es einen etablierten Austausch zwischen den Kantonalkirchen. Sie haben sich zu gegenseitiger Transparenz verpflichtet. Bei der Anstellung anderer kirchlicher Mitarbeitender ist der Prozess noch nicht vereinheitlicht. Wir wollen sicherstellen, dass Täter nicht einfach weitergereicht werden.
Wird es eine Art zentrale schwarze Liste geben?
Nein, das ist so nicht geplant.
Weshalb nicht?
Weil es schwierig ist zu definieren, wer auf eine solche Liste kommen würde. Verurteilte verlieren ihre Wählbarkeit ohnehin. Aber es gibt einen Graubereich: Wenn sich ein Mitarbeiter beispielsweise in einem Konfirmationslager seltsam verhält, dann wird es sicher zu einem Personalgespräch kommen. Aber welche Kriterien führen dazu, dass er auf einer solchen Liste landen würde? Wichtig ist uns, dass solche Vorfälle thematisiert werden, wenn Kirchgemeinden Referenzen über Bewerber einholen.
Ist es das Ziel, solche Informationen zu zentralisieren?
Das Ziel ist, dass Risikopersonen nicht einfach durch die reformierte Landschaft ziehen können. Mit welchen Methoden man das erreicht, kann ich jetzt noch nicht sagen. Es kann sein, dass es einst eine zentrale Auskunftsstelle geben wird. Doch diese Entscheidung obliegt nicht uns, sondern den Mitgliedkirchen.
Wie sonst wollen Sie die Prävention verstärken?
Wir brauchen eine Kultur des Hinschauens. Viele Mitgliedkirchen verfügen schon lange über ein Schutzkonzept. Und nun sind wir daran, die Standards zu vereinheitlichen. Es geht dabei etwa um die Ausbildung der Professionellen und Freiwilligen. Ausserdem ist wichtig, dass Betroffene die Meldestellen leicht finden.
Wie gehen die evangelikalen Gemeinden innerhalb Ihrer Kirche mit diesen Themen um?
Gemäss der deutschen Studie gibt es zwei anfällige Kirchenkulturen: Zum einen sind es die evangelikalen und konservativen Kreise, in denen Sexualität durch eine rigide Sexualmoral gleichzeitig überhöht und tabuisiert wird. Zum anderen gewisse progressive Kreise, die in ihrem liberalen Sexualverständnis persönliche Grenzen mit Prüderie verwechseln. Unsere Schutzkonzepte gelten für beide.
Der Fall Läderach hat gezeigt, dass die Problematik auch in freikirchlichen Kreisen besonders gross ist.
Läderachs Gemeinde bewegt sich ausserhalb der reformierten Kirche und ist eine sehr kleine Freikirche. Die einzige Freikirche, die zur Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz gehört, ist die Evangelisch-methodistische Kirche Schweiz. Sie geht sehr sensibel mit dem Thema um.
Erreichen Sie auch die anderen Freikirchen?
Wir stehen im Austausch. Probleme und Erkenntnisse können in gemeinsamen Netzwerktreffen eingebracht werden. Die meisten Freikirchen arbeiten intensiv im Netzwerk «Stopp Grenzverletzungen» zusammen, um Missbrauch zu verhindern.
Die ganze Missbrauchsthematik bei Katholiken und Reformierten hat das Christentum erschüttert.
Jeder Missbrauch, der unter einem christlichen Dach geschieht, betrifft uns alle. In der Nachfolge von Jesus Christus darf solches nicht sein.
Seit der Umfang der Missbräuche in der katholischen Kirche bekannt wurde, kam es auch bei den Reformierten zu vielen Austritten. Wie wollen Sie das stoppen?
Wir müssen dem Vertrauen, das uns viele Menschen in wichtigen Lebenssituationen entgegenbringen, gerecht werden. Das können wir nur, indem wir zeigen: Wir haben das Problem erkannt und arbeiten daran.
Es kann aber auch das Gegenteil passieren: dass sich noch mehr Personen von der Kirche abwenden, wenn das Ausmass der Missbräuche bekannt wird.
Ich bin überzeugt: Menschen treten nicht aus, weil wir uns den Problemen stellen, sondern wenn sie das Gefühl haben, dass wir wegschauen. Es bringt nichts, wenn wir den Deckel so lange draufhalten, bis alles explodiert. Das Risiko ist grösser, wenn wir nichts tun.