Neues Album von Sleater-Kinney: Zieh dich an und geh raus in die verhasste Welt

Mit ihrem elften Album setzen Sleater-Kinney einen frühen Höhepunkt im Rockjahr. „Little Rope“ ist dynamisch, explosiv und emotional zugleich.

Was tun in Momenten tiefer Trauer und Verlorenheit? Halt dich an deiner Liebe fest, riet Rio Reiser einst im gleichnamigen Song von Ton Steine Scherben. Halt dich an deiner Gitarre fest, war die rettende Losung für Carrie Brownstein, nachdem sie im Herbst 2022 erfahren hatte, dass ihre Mutter und ihr Stiefvater bei einem Autounfall im Italienurlaub ums Leben gekommen waren. Stundenlang spielte sie ihr Instrument, so ausdauernd wie seit Teenagertagen nicht mehr.

Sie habe sich selbst daran erinnern wollen, dass sie „immer noch zu grundlegenden motorischen Fertigkeiten fähig war, zu Bewegung und zur Existenz“, sagt die Musikerin in der Presseinfo zum neuen Album ihrer Band Sleater-Kinney. Das Material für „Little Rope“ war zwar größtenteils bereits geschrieben, doch wirkt die Platte in ihrer existenziellen Dringlichkeit wie ein Nachhall dieser Tragödie.

Gleichzeitig klingt sie wie eine Direktübertragung aus dem Glutkern einer überreizten Gesellschaft – und beginnt passenderweise mit einem Stück namens „Hell“. In der tastend-ruhigen ersten Minute beschwört Sängerin Corin Tucker bereits finstere Bilder herauf: „Hell needs no invitation/ Hell don’t make no fuss/ Hell is desperation / And a young man with a gun“, um dann zusammen mit den lospreschenden Gitarren ein loderndes Inferno zu entfachen. Die gute alte Laut-Leise-Dramaturgie des Neunziger-Indierocks hier noch einmal in Vollendung aufgeführt.

Die Wurzeln der 1994 in Olympia als Trio gegründeten und inzwischen in Portland heimischen Band liegen in dieser Zeit, die sie als Vertreterinnen der Riot Grrrl-Szene mit Alben wie „Call The Doctor“ und „Dig Me Out“ maßgeblich mitprägten. Sind die meisten anderen Gruppen dieser Epoche längst verschwunden, taten sich Sleater-Kinney nach einer zehnjährigen Pause 2015 wieder zusammen. Zwei Platten später stieg Drummerin Janet Weiss aus, woraufhin dem verbleibenden Duo 2021 mit „Path Of Wellness“ ein starkes, erstmals von ihm selbst produziertes Werk gelang.

Daran schließen Carrie Brownstein und Corin Tucker nun mit ihrem elften und einem ihrer besten Alben an, bei dem sie mit John Congleton (St. Vincent, Sharon Van Etten) wieder auf einen Produzenten vertrauen. Eine gute Wahl, denn die zehn Stücke klingen ungemein dynamisch, vielschichtig und intensiv. Das Energie-Level liegt durchgängig hoch, wobei das Verhältnis von Ruppigkeit und Eingängigkeit stets klug ausbalanciert ist.

Schlagen Songs wie „Small Finds“ oder „Six Mistakes“ mit ihrem aufgekratzten Sound eine Brücke in die Frühzeit der Band, verfolgen die Singles „Say It Like You Mean It“ und „Untidy Creature“ mit ihren sehnsüchtigen Refrains die eher classic-rockige Fährte, die auf der letzten Platte gelegt wurde. Die Texte dürften dabei allerdings weniger mainstream-radiotauglich sein, verhandeln sie doch weibliche Verletzlichkeit und Verzweiflung.

Das mit einem Dance-Rock-Vibe daherkommende „Crusader“ kann politisch verstanden werden: „You’re burning all the books in this town / But you can’t destroy the words in our mouths / So do yourself a little favor/ No one asked for a crusader“, singt Corin Tucker und spielt damit auf die von Rechtspopulisten betriebene massenhafte Entfernung von emanzipatorischer Literatur aus US-Bibliotheken und Schulen an. Nicht zuletzt als queere Band rufen Sleater-Kinney diesen Kreuzrittern entgegen, dass sie sich nicht den Mund verbieten lassen werden. Was sich als Versprechung an und Ermutigung für die eigene Community verstehen lässt.

Ganz ähnlich der auf „Crusader“ folgende Song „Dress Yourself“, der eine etwas ruhiger Gangart anschlägt. Im Intro überlässt er einem Synthesizer die Führung und beginnt mit den Zeilen: „Get up girl and dress yourself/ In cloth you love for a world you hate / Stand up straight and comb your hair.“ Aufstehen, anziehen und rausgehen, auch wenn die Welt verhasst und feindlich ist. Bei aller Schwere, die den Song durchzieht, entfaltet er doch eine aufbauende Atmosphäre – könnte helfen, das Wahljahr zu überstehen.

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