„Ein so striktes Regime der Mitgliederkontrolle ist völlig neu“

Sahra Wagenknecht formt ihre Partei mit starkem Kontrollanspruch. Dutzende Interessenten aus der Linkspartei, darunter langjährige Weggefährten, erhalten keine Antwort auf ihr Aufnahmegesuch. Andere werden gezielt angeworben. Ein Experte macht schon erste Schwächen des Bündnisses aus.

„ein so striktes regime der mitgliederkontrolle ist völlig neu“

BSW-Chefin Sahra Wagenknecht, rechts im Hintergrund Parteimitglied Andreas Hartenfels dpa

Wo die DDR einst Filmgeschichte schreiben wollte, probt Sahra Wagenknecht nun den Aufstand. Am Samstag wird die Ex-Linke mit ihrem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) im ehemaligen Berliner Kino Kosmos den ersten Bundesparteitag veranstalten.

Die noch junge Geschichte der Partei verlief bisher reibungslos. Alles wirkt erstaunlich professionell. Im Januar gründeten 44 Mitglieder das BSW in einem Berliner Hotel. Neben Wagenknecht wurde die ehemalige Linke-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali zur Vorsitzenden gewählt. Auf dem Parteitag am Samstag sollen die beiden durch rund 450 auserwählte und vorher geprüfte Mitglieder im Amt bestätigt werden. Indiskretionen blieben weitestgehend aus.

Bei der Europawahl am 9. Juni, bei der es keinerlei Prozent-Hürde für den Einzug ins Europaparlament gibt, wird man das erste Mal auf einem Wahlzettel stehen. Beim Treffen am Samstag geht es um die Aufstellung. Der Ex-Linke Fabio De Masi soll mit dem ehemaligen Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel, der lange bei der SPD war, die Liste anführen.

Dahinter soll Ex-UN-Diplomat Michael von der Schulenburg kandidieren, der kürzlich im „Spiegel“ sagte, Nato-Kriege hätten „zu hohen zivilen Opfern geführt, die selbst darüber hinausgehen, was wir grässlichen Terrororganisationen wie dem IS vorwerfen“. Ihm sollen der Corona-Maßnahmen-Gegner Friedrich Pürner sowie der Neurochirurg Jan-Peter Warnke folgen. Am Abend wird auch BSW-Mitglied Oskar Lafontaine sprechen.

„Weichen für einen politischen Neubeginn“ wolle man stellen, sagt Sahra Wagenknecht WELT AM SONNTAG. Sie spüre eine große Verantwortung. „Viele setzen ihre Hoffnungen darauf, dass wir das abgehobene, ideologiegetriebene Politikmodell aufbrechen und die Politik zum Guten verändern können.“ Sie hoffe, dass die öffentliche Debatte nicht mehr nur noch um die AfD kreise.

Wagenknecht bereitet sich auf Regierungsbeteiligung vor

In Umfragen rangiert das BSW zwischen fünf Prozent in Mecklenburg-Vorpommern und 17 Prozent in Thüringen. Die Europawahl wird der erste Test für die junge Partei vor den wichtigen Landtagswahlen in Ostdeutschland im September. In der „Zeit“ sprach Wagenknecht diese Woche bereits über eine Regierungsbeteiligung: „Wir müssen darauf vorbereitet sein.“

Das BSW sei eine „Hybridpartei“, meint Uwe Jun, Politikwissenschaftler der Universität Trier. Die Partei verbinde eine Politik des starken Staates in der Wirtschafts- und Sozialpolitik mit traditionell konservativen Werten. Und treffe eine Lücke: „Die Linke hat sich kulturell von ihrer Wählerbasis entfernt“, sagt Jun. Bisher sei das BSW-Programm noch eine Mischung, es fehle Kohärenz: Distanz zum Westen, eine Skepsis gegenüber der Europäischen Union und der Nato, eine Annäherung an Russland. Jun erkennt Ähnlichkeiten zur kulturellen Rechten in Europa. Hinzu kommen etwa die auf staatliche Interventionen setzende Wirtschaftspolitik und die Aufarbeitung der Corona-Zeit. „Man will sich den Protestmilieus annähern. Und damit von der Unzufriedenheit mit der Ampel-Koalition profitieren.“

Jun ist davon überzeugt, dass Wagenknecht als Führungspersönlichkeit mittelfristig nicht für einen Erfolg ausreiche. Benötigt werde eine gemeinsame Idee, um die Partei zusammenzuhalten. „Die Partei kann sich dauerhaft nicht in Negativform und in Abgrenzung zum Rest positionieren.“

Die Linke ruft ihren Ex-Genossen jedenfalls markige Worte hinterher. Eine „wenig demokratische Mogelpackung einer Gruppe von Egomanen“ sei das BSW, sagt Katina Schubert, kommissarische Geschäftsführerin im Linke-Parteivorstand. „Wagenknecht und ihre Anhänger bleiben mit ihrem Projekt dem Rechtskurs treu: Seit Jahren versuchen sie, auf rechten Mobilisierungswellen zu surfen.“ Das Bündnis fungiere „mit seiner antidemokratischen Demagogie nicht als Bollwerk gegen die AfD, sondern als Treiber des Rechtsrucks“.

Immerhin kommt ein nennenswerter Teil des BSW aus der Linken. Bundesweit werden ihre Mitglieder von Wagenknecht-Leuten angefragt, ein Wechsel beworben. Dennoch gibt es erst rund 450 BSW-Mitglieder. Man wolle langsam wachsen, Querulanten fernhalten, heißt es. Die Kontrolle behalten. Und genau das führt zu ersten Enttäuschungen.

„Striktes Regime der Mitgliederkontrolle“

So will Pia Zimmermann, die für die Linke bis 2021 im Bundestag saß, gern bei Wagenknecht mitmachen. Doch bisher, so berichtet Zimmermann, sei sie nicht aufgenommen worden. Gemeinsam mit dem früheren Wagenknecht-Weggefährten Diether Dehm und 27 weiteren Interessenten habe sie den BSW-Vorstand um Aufnahme gebeten – aber keine Antwort erhalten: „Wenn man als langjährige Weggefährtin so vor den Kopf gestoßen wird, finde ich das nicht schön.“

Zimmermann vermutet, dass Co-Parteichefin Mohamed Ali hinter der zögerlichen Aufnahmepraxis steht. Der Vorwurf: Die Parteispitze wolle die Mitgliederzahl kleinhalten, um die Kontrolle über die Wahllisten zu behalten. Zimmermann will das BSW weiter beobachten – auch, wenn ihr erste inhaltliche Zweifel kommen: „Die Kampfeslust ist raus, es geht etwas mehr ins Konservative.“

Parteienforscher Jun findet diesen Umgang mit Interessenten bemerkenswert. „In deutschen Parteien ist ein so striktes Regime der Mitgliederkontrolle völlig neu“, stellt der Politologe fest. Die Führungsspitze wolle sich offenbar mit Nahestehenden umgeben, von denen sie Loyalität erwarten können: „Der Führungsanspruch Wagenknechts soll unangetastet bleiben.“

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