Birmingham: Wenn eine Stadt pleite ist

birmingham: wenn eine stadt pleite ist

Birminghams Stadtviertel Digbeth: Das Quartier ist für scharfe soziale Gegensätze bekannt.

Am Bahnhof begrüßt ein Ungetüm aus Eisen die Reisenden. „Ozzy“, der mechanische Stier, wohl fünf Meter hoch, brüllt und faucht alle halbe Stunde. Dann neigt der Metallbulle den Kopf, und seine Augen leuchten violett.

Eisen-Ozzy erinnert an die Zeit, als Birmingham für seine Metall- und Maschinenindustrie berühmt war. Die Fabrikschlote rauchten, hier trafen die ersten Eisenbahnfernstrecken des Landes zusammen. Lang ist das her. Derzeit macht Birmingham ganz andere Schlagzeilen: Die Stadt ist im vergangenen Jahr faktisch bankrottgegangen und muss nun eisern sparen. Alle „nicht elementaren“ Ausgaben wurden gestoppt.

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Ein Blick auf die Stadt, vorne die Baustelle für das Schnellzug-Projekt HS2

„Mit schwerem Herzen“ hat Stadtratschef John Cotton von der Labour-Partei vergangene Woche die Liste der Grausamkeiten verkündet. 300 Millionen Pfund (rund 350 Millionen Euro) muss die zweitgrößte Stadt Großbritanniens in den nächsten zwei Jahren sparen. Sie kürzt bei sozialen Diensten, bei der Kinderbetreuung und der Altenpflege. Einige Bibliotheken, Gemeinde- und Jugendzentren schließen.

„Unsere Mülltonnen werden überfließen“

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Der Band Black Sabbath ist in ihrer Heimatstadt eine Brücke gewidmet.

Nachts werden die Straßenlaternen gedimmt, die Müllabfuhr wird in einigen Bezirken nur noch alle zwei Wochen kommen. Schon jetzt türmen sich in manchen ärmeren Nachbarschaften Sperrmüllberge. An der New John Street etwa, einer stark befahrenen Ringstraße im Norden, ragen triste, graue Wohnblocks in den Himmel. Zwischen den Büschen liegen Plastikabfälle, Flaschen und Tüten. Ein Anwohner klagt über den reduzierten Müllabfuhrdienst: „Unsere Mülltonnen werden überfließen.“ Passend dazu wird künftig eine Extra-Abgabe für Schädlingsbekämpfung erhoben. Die „Rattensteuer“ (24 Pfund je Haushalt) hat landesweit Aufsehen erregt.

birmingham: wenn eine stadt pleite ist

Auf dem Weg in die Pleite spielte ein „Equal Pay“-Urteil des Obersten Gerichtshofs von 2012 eine entscheidende Rolle.

Sparen allein reicht allerdings nicht. Die Millionenstadt wird ihre Gemeindesteuer um stolze 21 Prozent erhöhen. Jeder Haushalt muss damit einen mittleren bis höheren dreistelligen Betrag zusätzlich zahlen. Auch das Sterben wird teurer in Birmingham. Die Gebühren für Bestattungen und Krematorien sollen steigen. Zudem muss die Kultur dran glauben. Lokale Zuschüsse für Kultureinrichtungen, vom Royal Ballet bis zum Symphonieorchester der Stadt, werden gestrichen.

Wie konnte es so weit kommen?

„Ich möchte mich uneingeschränkt entschuldigen für die erheblichen Ausgabenkürzungen und die Steuererhöhung“, sagte Stadtratschef Cotton, betrübt dreinblickend. Der Stadtrat ist wohl in erheblichem Maße verantwortlich dafür, dass die Kommune im vergangenen Jahr in die Pleite geschlittert ist. Jahrelang hat Birmingham ein Urteil zur gleichen Bezahlung von kommunalen Angestellten unterschätzt, bis es mit voller Wucht ein Milliardenloch in den Haushalt geschlagen hat. Um dieses zu schließen, muss die Stadt nun nicht nur die laufenden Ausgaben radikal kürzen, sondern auch Vermögenswerte für 750 Millionen Pfund verkaufen.

Viele Bürger sind entsetzt, auch die lokale Wirtschaft ist betrübt. „Diese Schlagzeilen sind schon frustrierend, wir waren alle sehr überrascht“, sagt Henrietta Brealey, Vorstandschefin der Handelskammern von Greater Birmingham. Dass nun alle Medien schreiben, die Stadt sei „faktisch bankrott“, findet sie aber ungenau. Die Stadt musste eine finanzielle Notlage nach „Section 114“ der Gemeindeordnung anmelden. Das heißt nicht, dass alle Ausgaben gestoppt wurden, aber es bedarf einer radikalen Neuordnung der Stadtfinanzen. „Ein dunkler Tag, der die Stadt zurückwirft“, nannte Andy Street, der Bürgermeister der Region West Midlands, die Kürzungsorgie.

Wie konnte es nur so weit kommen, fragen nun viele Bürger. Die Antwort darauf ist wohl komplex, eine Untersuchungskommission in der seit 2012 von Labour regierten Stadt soll das Desaster aufarbeiten. Die Lokalpolitiker ducken sich weg. Vermutlich haben viel zu viele jahrelang die Augen zugedrückt und die zunehmende Schieflage ignoriert. Stadtratschef Cotton machte keine gute Figur. An dem Schreckenstag, als alle Medien die Eilmeldung „Birmingham ist effektiv pleite“ über den Ticker schickten, weilte er auf Geburtstagsreise in New York. Als die BBC ihn für ein Video-Interview anrief, hat er den Hintergrund sorgsam verschleiert.

Bis zu 800 Millionen Pfund für Equal-Pay-Fälle

Auf dem Weg in die Pleite spielte ein „Equal Pay“-Urteil des Obersten Gerichtshofs von 2012 eine entscheidende Rolle. Dutzende weibliche Angestellte der Stadt, darunter Putzfrauen, Köchinnen in Kantinen und Pflegerinnen, hatten auf eine gleich hohe Bezahlung wie in mehrheitlich männlich besetzten Stellen geklagt. Der Supreme Court gab ihnen recht. Weil aber Birmingham die Umsetzung dieses Equal-Pay-Urteils über Jahre verschleppt und stümperhaft gehandhabt hat, bauten sich immer mehr finanzielle Risiken auf. Erst war die Rede von einigen Hundert Millionen. Inzwischen ist die Rechnung auf 1,2 Milliarden Pfund gestiegen. Und jeden Monat wachsen die Kosten um 14 Millionen Pfund.

Potentiell muss die Stadt für weitere Equal-Pay-Fälle noch bis zu 800 Millionen Pfund mehr zahlen, warnte der Kämmerer. Auch mit der Einführung eines neuen IT-Systems von Oracle hat die Stadt ein finanzielles und organisatorisches Desaster erlebt. Das maßgeschneiderte System verursacht enorme Extrakosten. Ursprünglich wurden knapp 20 Millionen Pfund veranschlagt, am Ende wird die Stadt für ihr IT-System wohl mehr als 100 Millionen Pfund zahlen. Und es funktioniert noch nicht mal richtig. „Es produziert noch immer keine verlässlichen Informationen über die Finanzlage“, klagt Paul Tilsley, früherer Stadtratschef und heute finanzpolitischer Sprecher der oppositionellen Liberaldemokraten.

Obwohl Birminghams Stadtpolitiker sehen mussten, dass die Kasse immer leerer wurde, haben sie sich noch kostspielige Extras geleistet. Birmingham bewarb sich und gewann den Zuschlag für die Commonwealth Games 2022. Ein sportliches Großereignis, das viele gefeiert haben und das Besuchermassen in die Stadt brachte. Doch es hat die Kommune und ihre Partner noch mal 184 Millionen Pfund zusätzlich gekostet. Jetzt fehlt das Geld an allen Ecken und Enden, und es muss Tafelsilber verkauft werden.

Auch andere britische Kommunen unter Druck

Der Kommune gehören etliche Grundstücke und Gebäude. Schon wird spekuliert, dass sogar ein Verkauf der modernen Großbibliothek und sogar des Birmingham Museum and Art Gallery möglich sei. Vor einigen Jahren hat die Stadt schon das National Exhibition Centre für gut 300 Millionen Pfund verkauft. Auch ihre Beteiligung am Flughafen könnte sie nun versilbern.

Birmingham ist bei Weitem nicht die einzige Kommune im Vereinigten Königreich, der finanziell die Luft ausgeht. In jüngerer Zeit mussten die Stadt Croydon nahe London und der ostenglische Bezirk Thurrock nach Absatz 114 der Gemeindeordnung den Offenbarungseid leisten. Viele weitere Kommunen zittern. Mehr als die Hälfte befürchten, dass sie in den nächsten fünf Jahren Haushaltspleite (nach „Section 114“) anmelden müssen, so das Ergebnis einer Befragung unter 128 Kämmerern und Stadtratschefs durch das Local Government Information Unit (LGIU), einen Thinktank des Kommunalverbands. Fast jeder zehnte Stadtchef hat Angst, dass dieses Schicksal sogar schon im nächsten Haushaltsjahr droht.

Früher habe man bei Kommunal-Pleiten immer gefragt, was der betreffende Gemeinderat falsch gemacht habe, erklärt LGIU-Chef Jonathan Carr-West. „Schlechte Politik und riskante Investitionen haben sicherlich eine Rolle gespielt“, sagt er. „Aber jetzt kippt die Sache. Wir können nicht mehr die Probleme ignorieren, die alle lokalen Verwaltungen bedrücken.“ Eine verzweifelt schlechte Haushaltslage sei sehr weit verbreitet. Das Vertrauen in die Nachhaltigkeit der städtischen Finanzen ist auf einen Tiefpunkt gesunken. Nur noch 4 Prozent der befragten Kämmerer und Stadtpolitiker sehen ihre kommunalen Kassen als nachhaltig gesichert an.

„Wirtschaftlich ist Birmingham weiterhin stark“

Die hohe Inflation hat auch den Städten schwer zugesetzt – in Großbritannien wie in Deutschland. Sie müssen mehr für Energiekosten und Sozialleistungen aufwenden. 90 Prozent der britischen Kommunen planen, ihre Gemeindesteuern deutlich anzuheben. Die Local Government Association schätzt, dass in den Kommunen in den nächsten zwei Jahren fast 4 Milliarden Pfund Defizit drohen. Die von der Zentralregierung in London in Aussicht gestellten 600 Millionen Pfund Hilfen dürften nicht reichen, um die Finanzlücken zu stopfen.

In Birmingham ärgert sich Henrietta Brealey, dass jetzt alle nur noch über die Pleite-Kommune reden. „Das ist enttäuschend, denn die Erzählung über die Stadt war in den letzten zehn Jahren eigentlich ganz positiv“, sagt die junge Chefin der Handelskammer. „Der Ruf der Stadt hatte sich komplett gewandelt. Die internationale Reputation erreichte einen Höhepunkt, besonders nach den Commonwealth Games“, meint sie. „Wirtschaftlich ist Birmingham weiterhin stark.“ Einst, in der Zeit der Industrialisierung, berühmt als „Stadt der tausend Gewerbe“, hat die Metropole von heute 1,2 Millionen Einwohnern nach dem Niedergang der alten Industrie im 20. Jahrhundert neue Stärken entwickelt.

Fünf Universitäten und eine Tech-Start-up-Szene

Die günstige geographische Lage, fast exakt im Zen­trum von England, am Knotenpunkt des Straßen- und Bahnnetzes, macht sie attraktiv für die Wirtschaft. Dienstleistungsunternehmen siedelten sich an. Rund um das im Krieg schwer zerstörte Zentrum, das dann mit viel Beton neu aufgebaut wurde, stehen Hochhäuser und Büroblocks.

Fünf Universitäten ziehen junge Leute an, eine Szene von Tech-Start-ups habe sich gebildet, freut sich Kammerchefin Brealey. Die Mehrheit ihrer Mitgliedsunternehmen erwartet, dass es dieses Jahr mit Umsatz und Gewinnen bergauf geht. Brealey zeigt aus dem Fenster der Handelskammerbüros, die im siebten Stock liegen. „Schauen Sie dort, all die Baukräne. Wir haben einen regelrechten Bauboom.“ Das bestätigt auch der „Crane Survey 2024“ der Beratungsgesellschaft Deloitte.

Gleichzeitig ist Birmingham eine Stadt scharfer sozialer Gegensätze. Nur ein paar Gehminuten nördlich von der Handelskammer beginnt ein Armenviertel. Auch wenn man vom bekannten Viertel der Juweliere ein paar Hundert Meter weitergeht, steht man inmitten trister Hochhaus-Sozialsiedlungen. Hier leben vor allem Zuwanderer. Zwischen Secondhandläden, Halal-Metzgern und Imbissen sieht man verschleierte asiatische und afrikanische Frauen ihre Kinderwagen schieben. In den Grünanlagen und am Straßenrand liegen Abfallhaufen. Einschnitte in die staatlichen Dienste werden vor allem hier schmerzliche Folgen haben. Birmingham – und vielen anderen Gemeinden – stehen schwerere Zeiten bevor.

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