Rücküberweisungen: Was das Geld von Migranten bewirkt

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Sauberes Trinkwasser ist hier rar: Bewohner auf dem Weg zu einer Trinkwasserstelle in Podor, Senegal.

Das Leben in Podor ist nicht einfach. Die Kleinstadt befindet sich im äußersten Norden des Senegals an der Grenze zu Mauretanien. Die Temperaturen steigen auch im November tagsüber oft auf über 30 Grad, im Sommer sind es weit über 40 Grad.

Nennenswerte Industrie oder Tourismus gibt es nicht. Die Menschen leben von Landwirtschaft, Handwerk und Kleingewerbe. Obwohl Podor noch vergleichsweise sauber ist, sind viele öffentliche Plätze vernachlässigt. Die öffentliche Hand hat kaum Mittel zur Verfügung. Ohne private Initiative passiert wenig. Deshalb sind viele Familien auf Überweisungen ihrer Verwandten im Ausland angewiesen. Das ist nicht nur im Senegal so, sondern in allen Ländern mit niedrigem Einkommen.

In Podor gibt es im Gegensatz zu anderen Orten im Senegal nicht viele Auswanderer. Eine der wenigen ist Mariame Racine Sow, die 1989 zum Studieren nach Frankfurt ging und blieb. Sie hat den deutschen Pass und einen Doktortitel in Pädagogik, ist seit 2014 SPD-Mitglied und hat mehrere Auszeichnungen für ihr soziales Engagement bekommen. Sie arbeitete viele Jahre in der Entwicklungshilfe und ist heute als Sozialberaterin in einer Flüchtlingsunterkunft in Frankfurt tätig. Sie ist das, was man eine perfekt integrierte Einwanderin nennt – und sie hilft gleichzeitig bei der Integration von Neuankömmlingen.

rücküberweisungen: was das geld von migranten bewirkt

Mariame Racine Sow

Sow fühlt sich dem Senegal noch immer tief verbunden. „Ich habe zwei Heimaten. Bin ich in Deutschland, vermisse ich Senegal, bin ich in Senegal, vermisse ich Deutschland.“ Mindestens einmal im Jahr fliegt die 57-Jährige in den westafrikanischen Staat und besucht ihre große, weitverzweigte Familie, die an verschiedenen Orten lebt. Sie reist immer mit großem Gepäck, hat Kleidung, Schuhe oder Taschen dabei und den Geldbeutel mit Erspartem gefüllt. Regelmäßig lässt sie auch Container mit Sachgütern zur Familie schicken. Kühlschränke, Fernseher, Sofas, Schränke – im Senegal sind dies alles schwer erhältliche und teure Güter.

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Mariame Racine Sow (vorne) mit Familienmitgliedern vor ihrem neu gebauten Haus im senegalesischen Podor

Mit kleinen Summen viel erreichen

Große Summen kann Sow nicht sparen. Sie ist keine Topverdienerin und hat auch in Frankfurt eine Familie mit zwei fast erwachsenen Söhnen, die noch zu Hause leben, zu finanzieren. Doch im Senegal ist jeder Euro willkommen. „Und man kann schon mit kleinen Beträgen sehr viel erreichen“, sagt sie. Sow unterstützt seit Jahrzehnten kleinere wirtschaftliche Unternehmungen, hat das Studium zahlreicher Nichten, Neffen und anderer Verwandter finanziert und bringt ausrangierte medizinische Geräte aus Deutschland in die dürftig ausgestattete Krankenstation in Podor.

2018 hat sie die Anschubfinanzierung für das Gewerbe ihres Bruders Cheikh Tidiane Sow geleistet, der Trinkwasser produziert. Mariame Sow hat ihm das Geld für eine Abfüllmaschine für 1500 Euro gegeben, mit der er das Wasser in kleine Plastikbeutel füllt. Diese sind günstiger als Plastikflaschen und werden auf der Straße oder in Veranstaltungen gern von durstigen Passanten für ein paar Cent gekauft. Kleingewerbe wie diese sind üblich im Senegal und anderen afrikanischen Ländern. Cheikh Sow beschäftigt heute fünf Angestellte und bei Bedarf Tagelöhner. Damit ihr Bruder das Wasser ausliefern kann, hat die Schwester ihm auch noch einen Transporter aus Deutschland gekauft und in den Senegal bringen lassen.

Schaffung neuer Arbeitsplätze

Das Wasser verkauft Cheikh Sow an Großhändler; er beliefert täglich 89 Frauen, die das Wasser weiterverkaufen und damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. „Die Frauen haben sich einer Kooperative angeschlossen und sparen gemeinsam Geld. Aus diesem Topf kann sich eine Frau dann einen größeren Betrag entnehmen, wenn sie zum Beispiel etwas Teureres anschaffen will oder Schulgeld für ihre Kinder benötigt“, erklärt Mariame Sow.

Viele Tausend Euro hat Mariame Sow auch in das 1970 gebaute Elternhaus investiert, in dem eine Schwester und mehrere Verwandte leben. Mit dem Geld wurde das Haus ausgebaut und instand gehalten. Außerdem muss die Klärgrube regelmäßig geleert werden, was sie ebenfalls bezahlt.

Die größte Investition, die sie tätigte, ist, zusammen mit ihren Geschwistern ein neues Haus für die Familie in einem Neubaugebiet von Podor bauen zu lassen – natürlich alles von heimischen Handwerkern. Das prächtige, zweistöckige zi­tronengelbe Gebäude, das neun Zimmer, drei Küchen, zwei Balkone und drei Terrassen hat, wurde vergangenes Jahr fertiggestellt.

So wie Mariame Sow handeln viele Auswanderer. Immer, wenn sie etwas von ihrem ersparten Arbeitslohn entbehren können, überweisen sie es in die alte Heimat und investieren dort.

„Irrationale“ Debatte

Die derzeit geführte Debatte über eine Einschränkung von Geldleistungen für Asylbewerber hält Steffen Angenendt, Migrationsforscher bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, für „irrational“: „Wir wissen überhaupt nicht, welche Person, ob Flüchtling oder Arbeitsmigrant, Geld wohin überweist. Deshalb ist es unseriös, daraus politische Schlussfolgerungen zu ziehen“, sagt der Wissenschaftler. Er plädiert dafür, die Debatte um Geflüchtete auf einer sachlichen Ebene zu führen und diese nicht populistischen Kräften zu überlassen.

Ob Asylsuchende, die Sozialleistungen erhalten, davon große Summen in die Herkunftsländer überweisen, hält Angenendt für fraglich. Auch eine Sprecherin des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) betont gegenüber der F.A.Z., dass der Behörde keine Belege vorliegen, dass die „Aussicht auf Bürgergeld“ – noch dazu als alleiniger Grund – ein Kriterium zur Auswanderung sei. Als wissenschaftlich gesichert gelte jedoch, dass ein komplexes Zusammenspiel persönlicher Gründe und struktureller Faktoren Menschen dazu bewege, ihre Heimat zu verlassen.

Angenendt erklärt, warum es so schwer ist, zu identifizieren, woher die Gelder für Rücküberweisungen stammen: „Diese tauchen oft nicht in Zahlungsbilanzen auf.“ Denn nur ein Teil der Geldsendungen erfolgt über Banken und Finanzdienstleister wie Western Union, Ria oder Moneygram. „Denn die Gebühren dort sind teils exorbitant hoch – im Schnitt 6,3 Prozent der transferierten Summe, nach Subsahara-Afrika kostet es sogar bis zu 8 Prozent“, weiß der Forscher. Das heißt: Bei einer Durchschnittssumme von 200 Euro je Transfer beträgt die Gebühr dafür 16 Euro. Mi­granten haben deshalb in vielen Ländern inoffizielle Bezahlwege über Mittelsleute etabliert. Auch Mariame Sow lässt Geld über private Kreise, die sich über Whatsapp-Gruppen organisieren, in den Senegal schicken.

Transferkosten zu hoch

Die Vereinten Nationen, die die Bedeutung der Rücküberweisungen seit Langem anerkennen, fordern eine Senkung der Transferkosten. Diese Forderung unterstützt auch die Bundesregierung. Die Weltbank und die Bundesbank erheben trotz der Schwierigkeiten, die Geldströme zu erfassen, Zahlen zu den Rücküberweisungen. Aus Deutschland schickten Migranten laut Schätzungen der Bundesbank im vergangenen Jahr knapp 7,2 Milliarden Euro in ihre Heimatländer. Der größte Teil davon floss aber nicht in Entwicklungsländer, sondern in europäische Staaten, darunter die Türkei (848 Millionen Euro), Rumänien (656 Millionen Euro), Polen (557 Millionen Euro) oder die vom russischen Angriffskrieg getroffene Ukraine (360 Millionen Euro).

Das ist wenig überraschend, da aus diesen Ländern in der Vergangenheit die meisten Menschen zum Arbeiten nach Deutschland kamen. Überweisungen in den Rest der Welt machten vergleichsweise wenig aus, wobei die Bürgerkriegsländer Syrien mit gut 400 Millionen Euro und Afghanistan mit 162 Millionen Euro den Großteil ausmachen.

Die Ausgaben, die Mariame Sow tätigt, sind typisch für Migranten, bestätigt das BMZ. Die Behörde bewertet die Rücküberweisungen positiv. „Sie bieten eine Verbesserung individueller Lebenssituationen und Chancen für nachhaltige Entwicklung in vielen Partnerländern oder können nach Kriegen oder Naturkata­strophen den Wiederaufbau unterstützen“, erklärt die Sprecherin.

Kommt den Staatseinnahmen zugute

Kritiker bemängeln, dass Rücküberweisungen hauptsächlich für den privaten Konsum und weniger für betriebliche Investitionen ausgegeben werden und so nicht der Volkswirtschaft zugutekommen. Migrationsforscher Angenendt hält dagegen, dass auch Ausgaben für Konsum eine Wertschöpfungskette in Gang setzen, etwa wenn ein Kühlschrank gekauft wird und daran Händler und Transporteure verdienen. Zudem werde auch der Staat finanziell gestärkt, da der erhöhte Konsum zu höheren Einfuhren führe, auf die Mehrwertsteuern erhoben werden, die wiederum den Staatseinnahmen zugutekommen.

Viele Ausgaben, die Menschen durch Geldtransfers ihrer Verwandten im Ausland tätigen, könnten sie vor Ort nicht erwirtschaften. Wie wichtig diese für viele Länder sind, zeigt ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP): Im westafrikanischen Gambia lag er im Jahr 2022 bei fast 30 Prozent, in Somalia waren es mehr als 20 Prozent und im Senegal rund 10 Prozent.

Die Höhe der Rücküberweisungen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen steigt laut Weltbank seit Jahren an. 2023 werden sie sich weltweit auf 656 Milliarden US-Dollar belaufen, 1,4 Prozent mehr als im Vorjahr. Damit übertreffen diese Geldtransfers die offizielle Entwicklungshilfe um ein Dreifaches. Im Jahr 2022 war Indien mit rund 111,2 Milliarden US-Dollar das Empfängerland mit den höchsten Rücküberweisungen durch im Ausland lebende Staatsangehörige, auf Platz zwei folgt Mexiko mit 61,1 Milliarden Dollar.

Die Rücküberweisungen werden nach Ansicht der Weltbank sogar noch an Bedeutung gewinnen, da die Konjunkturschwäche in vielen reichen Ländern zu rückläufigen ausländischen Direktinvestitionen in Entwicklungs- und Schwellenländern führt.

Deutschland bedeutet Sicherheit

Die in Deutschland entbrannte Debatte über die Sozialleistungen für Geflüchtete hält Mariame Racine Sow für falsch. „Ich arbeite jeden Tag mit Geflüchteten und ihre Motivation, nach Deutschland zu kommen, ist nicht Geld. Deutschland bedeutet für sie Schutz und ein Gefühl von Sicherheit.“ Natürlich wollten sie hier auch arbeiten und Geld verdienen. Das Geld mache einen großen Unterschied für sie und die Verwandten in der Heimat: „Geld ändert vieles in den Familien. Es bietet besseren Zugang zu Gesundheitsversorgung und zu Bildung, die Kinder erhalten bessere Zukunftschancen.“

Mariame Sow kritisiert das bestehende System: „Ich erlebe täglich in der Flüchtlingsunterkunft, wie schwer es denen, die arbeiten wollen, gemacht wird.“ Die Arbeitenden müssten sich regelmäßig im Jobcenter einfinden und über ihren Verdienst Rechenschaft ablegen, damit er mit etwaigen anderen Leistungen wie Lohn- oder Mietaufstockung verrechnet werden kann. „Die, die allein Sozialleistungen beziehen, haben ihre Ruhe“, sagt Sow. Ihrer Meinung nach müssten die Strukturen und Möglichkeiten so geschaffen werden, dass Migranten keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen müssten, sondern einfach eine Arbeit aufnehmen könnten.

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