Österreich: Wien für Anfänger: Wie man die lebenswerteste Stadt der Welt überlebt – oder sich zumindest nicht blamiert

österreich: wien für anfänger: wie man die lebenswerteste stadt der welt überlebt – oder sich zumindest nicht blamiert

Wien wird immer beliebter bei Touristen, das verändert das Stadtbild, aber nicht die Menschen

Wien ist Hotspot für Kulturfans, Heimat von Sissi und Hauptstadt von Österreich. Für den Autor Andreas Rainer ist Wien vor allem ein Ort der Widersprüche. Ein Gespräch über eine Stadt zwischen Schmäh und Grant. 

In Umfragen nach der lebenswertesten Stadt der Welt landet Wien seit Jahren auf einem Spitzenplatz. Gleichzeitig gilt sie auch als besonders unfreundlich. Was für viele Menschen nach einem Widerspruch klingt, ist für den Wiener Autor Andreas Rainer nichts Besonderes. Er porträtiert die Wiener seit vielen Jahren und kennt ihre Eigenheiten wie kaum ein anderer. Dem stern verrät er, was die Hauptstadt Österreichs und ihre Bewohner abseits von Sissi, Freud und Klimt noch so zu bieten haben – und wie man als Deutscher nicht direkt ins Fettnäpfchen tritt. 

Herr Rainer, Sie beobachten die Wiener schon seit einer Weile und schreiben Ihre Beobachtungen auf. Welche Geschichte wollten Sie mit Ihrem neuen Buch erzählen?

Ich wollte nie einen Reiseführer über Wien schreiben, das hat sich einfach so entwickelt. Eigentlich wollte ich die Wiener Seele für die Wiener selbst einfangen, ein Buch über uns, für uns. Aber mittlerweile scheint es ein beliebter Ratgeber für Nicht-Wiener und Touristen geworden zu sein.

Ihr “Reiseführer” spielt allerdings nicht mit den touristischen Klischees, sondern eher mit den vielen Widersprüchen der Wiener.  

Tatsächlich. Ich habe mir auch schon ein paar Wien-Reiseführer durchgelesen und immer wieder Sachen gefunden, die einfach falsch sind. Zum Beispiel die Behauptung, dass Wien die Metropole der Kaffeevariationen ist. Ja, wir leben und lieben unsere Kaffeehauskultur, trotzdem findet man heute kaum noch irgendwo mehr als eine Handvoll Kaffeevariationen. In manchen Reiseführern ist aber die Rede von 50 verschiedenen Arten, seinen Kaffee bei uns zu bestellen. Das ist höchstens in sehr touristischen Cafés der Fall – um das Klischee zu erfüllen.

Verändert der Tourismus Wien?

Der Tourismus ist sehr wichtig für Wien, keine Frage. Aber im Gegensatz zu anderen Bundesländern – zum Beispiel Tirol, in dem nahezu alles auf den Tourismus ausgelegt ist – spielt er keine übergeordnete Rolle bei uns. Selbst im ersten Bezirk, wo die meisten Touristen sind, gibt es noch das normale, lokale Leben. Trotzdem kommen jedes Jahr mehr Besucher. Das liegt wohl zum einen an dem Wien-Bild, das wir verkaufen, mit der Geschichte um Sissi und all unseren schönen historischen Gebäuden. Andererseits hat Wien den Ruf der lebenswertesten Stadt. Gleichzeitig gelten wir als unfreundlichste Stadt der Welt. Darauf sind wir übrigens besonders stolz.

Der Wiener und die Deutschen

Worauf ist der gemeine Wiener noch stolz?

Vor allem darauf, kein Deutscher zu sein. (lacht) Tatsächlich vergleichen wir uns sehr oft mit unserem großen Nachbarn. Wir sind zum Beispiel viel entspannter als die Deutschen. Wir können einen ganzen Abend lang die größten Pläne für die nächsten Tage schmieden und dann doch keinen einzigen davon umsetzen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Ein Deutscher setzt die Dinge um, von denen er spricht, er ist da einfach korrekter. Für Deutsche wäre es auch beinahe anstrengend, den ganzen Tag einfach im Kaffeehaus zu sitzen und das Leben auf sich einprasseln zu lassen – wir Wiener lieben das.

Wie vertreibt man sich einen ganzen Tag lang die Zeit im Kaffeehaus?

Wenn ich Zeit habe, dann lese ich gemütlich Zeitung, schreibe zwischendurch mal ein paar Sätze, trinke Kaffee, lausche dem Treiben und beobachte die Menschen um mich herum. Das ist herrlich.

Viele Wiener sind nicht gerade gut auf Deutsche zu sprechen. Woher kommt diese Feindseligkeit?

Ein bisschen liegt das auch am Wiener Selbstverständnis. Wien war einmal eine der wichtigsten Städte Europas. Jetzt ist Wien die Hauptstadt eines vergleichsweise kleinen Landes und international, fragt man die Wiener, deutlich unterrepräsentiert. Anders als Deutschland, das international eine wichtige Rolle spielt und uns in vielen Dingen faktisch überlegen zu sein scheint. Das führt zu einem Minderwertigkeitskomplex. Und darüber sind wir anscheinend noch nicht ganz hinweggekommen. Ich vergleiche das immer gerne mit einem Geschwisterverhältnis. Deutschland ist Österreichs großer Bruder, da ist ein bisschen Neid nicht unüblich.

Sie müssen zugeben, dass man als Deutscher in Wien relativ viel Schmäh abbekommt. 

Ja, weil der Wiener euch Deutsche für gewöhnlich für ziemlich humorbefreit hält und das damit testen möchte. Wir haben immer einen Schmäh auf den Lippen und nehmen das alles selbst nicht so ernst. Es gibt aber Deutsche, die sich dann sofort angegriffen fühlen – die haben keine gute Zeit in Wien. Wenn man das Ganze selbst allerdings etwas lockerer angeht, kann man viel Gaude mit den Wienern haben – auch als Deutscher.

Wie schaffe ich es als Deutscher, mich nicht gleich als solcher zu erkennen zu geben?

Versuchen Sie es erst gar nicht. Sobald Sie versuchen, den Dialekt zu imitieren, machen Sie sich nur lächerlich. Das kommt gar nicht gut an. Besser: Stehen Sie dazu und lassen Sie den Schmäh über sich ergehen – erfreuen Sie sich im besten Fall sogar dran. Im nächsten Moment macht der Wiener wahrscheinlich einen Schmäh über sich selbst, dann können auch Sie über ihn lachen, und alle sind happy. Man darf nicht vergessen: Der Wiener verarscht sich auch mit Leidenschaft gerne selbst.

Gemeckert wird überall – und über alles

Wo findet man heute noch das “echte Wien”?

Wien findet an ganz vielen Orten statt, das echte Wien ist überall in Wien, wenn man so will. Wir sind zum Glück nicht Barcelona oder Venedig, wo der Tourismus bereits die Kultur verändert hat. Besonders empfehlen kann ich aber eine Fahrt mit der U-Bahnlinie 6. Sie fährt Bezirke an, in denen die Mieten günstiger sind und in denen Wien sich noch mal von einer authentischeren Seite zeigt. Es wird lauter, bunter und ein bisschen “Multikulti”. Aber all das gehört zu Wien dazu. Wien ist eben auch Einwandererstadt. Zum Glück. Kaum vorstellbar, wenn es hier immer noch nur Wiener Schnitzel und Germknödel geben würde.

Der Wiener Grant ist mindestens so bekannt wie der Wiener Schmäh. Wie werde ich so grantig wie ein waschechter Wiener?

Grundregel Nummer eins: Es gibt nichts, über das man sich nicht aufregen darf – oder besser: sollte. Das fängt beim Wetter an und hört bei der Arbeitsmentalität auf. Wenn Sie einen Wiener fragen, wie es bei der Arbeit läuft, gibt es nur eine hinnehmbare Antwort: “Ich bin völlig überarbeitet.” Das sagen auch diejenigen, die den ganzen Tag im Büro sitzen und nur einen einzigen Anruf annehmen müssen. Ein anderes Thema ist unsere Bahn. Sie ist, ehrlich gesagt, sehr zuverlässig. Aber wehe, wir müssen mal eine Minute warten – dann geht das kollektive Gesudere aber los! Das ist ohnehin eine Grundeinstellung: Wir sagen nicht, wir sind die lebenswerteste Stadt der Welt, sondern: Anderswo ist es halt noch schlimmer.

Wien ist aber nicht nur die lebenswerteste Stadt, sondern ragt auch in Sachen Alkoholkonsum heraus. Woher kommt die große Trinkfreude?

Wieder so ein Paradoxon. Auf unseren hohen Alkoholkonsum sind wir Wiener durchaus stolz. Jedes Jahr, wenn Österreich wieder eins der stärksten Konsumländer ist, feiern wir das völlig ab. Lebenswerteste Stadt? Wurscht! Wir trinken am meisten Bier in Europa? Leiwand! Das feiern wir, als hätten wir eine Weltmeisterschaft gewonnen. Wir trinken aber auch einfach wirklich gerne. Ein großes Bier oder ein Spritzer am Nachmittag gehören hier zum guten Ton. Das zählt man gar nicht als Alkohol. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Wenn Sie im Sommer nachmittags über den Naschmarkt schlendern, werden Sie selten ein nicht-alkoholisches Getränk auf den Tischen sehen. Und das sind dann meistens die Touristen.

Und wie ist es am Wochenende?

Wenn Sie am Wochenende fortgehen und noch gerade auf zwei Beinen nach Hause gehen können, dann gelten Sie beinahe als Spaßbremse. Wer nicht mittrinkt, der braucht schon eine gute Ausrede. Akzeptiert werden hier meist nur Schwangerschaft und schwere Krankheit. Ansonsten braucht man in Wien eine gewisse Trinkfestigkeit. Und wenn man bei der Weihnachtsfeier nackt auf den Tischen tanzt, nimmt einem das am nächsten Tag eben auch niemand übel – weil der Rausch hier einen anderen Ruf hat. Mit der Scham muss man dann allerdings trotzdem fertig werden.

Sie waren auch mal eine Zeitlang in Nordamerika zu Hause, sind aber zurückgekehrt nach Wien. Was macht die Stadt für Sie so lebenswert?

Das ist nicht so einfach zu beantworten, es sind mehrere Faktoren. Wohnen ist im Vergleich zu anderen europäischen Städten noch bezahlbar, und wir haben ein gutes Sozialsystem. Ich sage immer, man kann in Wien nicht richtig reich werden, aber eben auch nicht richtig arm sein. Wir haben außerdem viel Kultur und Kulinarik und werden als Stadt immer urbaner und moderner. Man kann im Sommer in der Donau schwimmen und sich danach an eine Strandbar setzen, und das mitten in der Stadt. Und natürlich leben hier diese vielen wunderbar widersprüchlichen Menschen.

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