Gastbeitrag von Henning Beck - Das Ende von „Wetten, dass…?“ ist folgerichtig und fatal zugleich

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Thomas Gottschalk rechnet mit «Wetten, dass..?» ab imago/Future Image

Die Zeit von „Wetten, dass..?“ ist nicht vorbei, weil Thomas Gottschalk nicht mehr in die Zeit passt. Sondern weil das TV-Massenereignis nicht mehr in die Zeit passt. Wir erleben den Beginn einer Ära, in der der Geschmack der Gesellschaft zerfällt, argumentiert Neurowissenschaftler Henning Beck.

Nun ist er endgültig abgetreten. Mit einem grandiosen Quotenfeuerwerk. Über 12 Millionen Menschen schauten Thomas Gottschalk bei seiner letzten „Wetten, dass?“-Sendung zu.

Wie sich die Zeiten ändern. Wolfgang Lippert wurde 1993 als Moderator abgesetzt, weil er „nur“ knapp 13 Millionen Zuschauer hatte. 1995 sahen 18 Millionen Menschen den legendären Auftritt von Michael Jackson. Und zehn Jahre zuvor holte die „Schwarzwaldklinik“ mit knapp 28 Millionen Zuschauern allein in Westdeutschland eine Einschaltquote, von der die Fußballnationalmannschaft nur träumen kann. Selbst wenn sie gut spielen sollte.

Früher wechselten sich samstagabends Blockbuster wie „Versteckte Kamera“, „Geld oder Liebe“ und „Wetten, dass..?“ ab. Doch diese Zeiten des millionenversammelnden Lagerfeuers sind vorbei. Nicht weil Thomas Gottschalk mit seiner Art nicht mehr in die Zeit passt. Sondern weil die Idee eines Straßenfegers vorbei ist. Gottschalk hätte die beste Sendung aller Zeiten abliefern können, er hätte dennoch keine Chance gehabt.

Der Niedergang von „Wetten, dass..?“ hat nichts mit Thomas Gottschalk zu tun

Der Grund: Seit knapp 20 Jahren werden wir darauf trainiert, ein individuelles Medienangebot zu erhalten. Früher identifizierten wir uns darüber, dass wir alle das Gleiche sahen, über das man sprechen konnte. Heute erlangen wir unsere Identität dadurch, dass wir das konsumieren, was am besten zu uns passen soll.

Der Niedergang von „Wetten, dass..?“ begann damit, dass passgenaue Konkurrenzangebote immer besser zu den Menschen gebracht wurden. Zunächst übernahmen das andere Fernsehsender (erst RTL mit „DSDS“), später zeigte Social Media, wie man den Geschmack einer Gesellschaft komplett zerlegt.

Heute schauen dreiviertel aller Deutschen beim Fernsehen parallel aufs Smartphone – und bekommen dort eine Welt, die optimal auf sie zugeschnitten wurde. Gottschalk wollte noch ein Programm für alle machen. Das war in den 90ern noch möglich, heute ist es ein utopisches Unterfangen. Denn einen mehrheitsfähigen Mainstream-Geschmack gibt es nicht mehr.

Dein Instagram, dein Netflix, dein Amazon, dein Google, dein Spotify, dein Tiktok

Heute hat jeder seine individuelle Medienwelt. Es gibt nicht „das“ Internet. Es gibt „dein“ Internet. Dein Instagram, dein Netflix, dein Amazon, dein Google, dein Spotify, dein Tiktok, dein Facebook. Wir haben heute jederzeit die Videos, die Musik, die Bilder verfügbar, die wir haben wollen. Früher kontrollierte Gottschalk den Fernsehabend. Heute kontrolliert jeder Mensch seine eigene Medienwelt. Denn das größte Geschäftsmodell unserer Zeit ist die totale Individualisierung. Das hat Folgen – nicht nur für das Fernsehen.

Konkretes Beispiel: Was ist der typische Musiksound der 2010er-Jahre? Oder der jungen Protestgeneration? Praktisch jede Jugend- oder Protestbewegung hatte eine typische Musikrichtung, die sie zusammenschweißte: die 68er, die Antiatomkraftbewegung. Der Zusammenbruch der Berliner Mauer ist ohne tatkräftige Mithilfe durch die Scorpions und David Hasselhoff überhaupt nicht vorstellbar. Das waren die Zeiten, in denen gemeinsame Musik Identität stiftete.

Heute ist es das individuelle Musikerlebnis, das Identität gibt. Denn seit knapp 15 Jahren gibt es Musikstreaming – und damit die Möglichkeit, dass jeder das bekommt, was er will. So verschwindet das verbindende Element und damit der epochenprägende Sound der jungen Generation.

Was ist die Protestmusik der „Letzten Generation“? Es gibt keine. Denn jeder hat seine eigene Musik. Achten Sie im Radio darauf: Es gibt das „Beste der 70er, 80er, 90er – und das Beste von Heute“, denn die Musik ab den 2000ern verschwimmt in einem Brei aus kurzzeitigen individuellen Trends und Moden. Aber in 20 Jahren wird es bestimmt keine Retro-Sendung geben, in der man nostalgisch auf die Musik der 2010er Jahre zurückblickt.

Früher machte es Freude, wenn man das schaute, was alle anderen auch schauten

Exakt diesem Trend fällt auch „Wetten, dass..?“ zum Opfer – etwas zeitverzögert, denn individuelle Videoangebote greifen erst seit Social Media wirklich um sich. Warum noch eine Sendung für alle schauen, wenn ich doch meine eigenen Videos jederzeit streamen oder durchscrollen kann? Diese neue Medienwelt verspricht das passgenaue Angebot zu jeder Zeit – und schafft dennoch die Notwendigkeit, sich abzugrenzen.

Auch das können Sie konkret erleben. Denn in einer Welt, in der es praktisch unendlich viele Möglichkeiten gibt, ist man erst dann etwas Besonderes, wenn man sich anders definiert als alle anderen. Früher machte es Freude, wenn man das schaute, was alle anderen auch schauten. Heute definiert man sich darüber, dass man etwas gefunden hat, was kein anderer hat: eine Onlineserie, eine Nischenband oder eine Ernährungsform. Wir suchen das besonders Individuelle. Und genau das bietet „Wetten, dass…?“ eben nicht.

Übrigens fühlen sich genau deswegen heute auch viel mehr Menschen angegriffen, wenn Thomas Gottschalk einen unsensiblen Spruch raushaut. Denn das passiert nun mal, wenn man etwas konsumiert, das weit jenseits der üblichen Filterblasen auf Social Media liegt, in denen man nur mit dem konfrontiert wird, was zu einem passen soll.

Was passiert mit einer Gesellschaft, der das verbindende Element fehlt?

Das heißt nicht, dass man Gottschalks aus der Zeit gefallenen jovialen Chauvinismus gutheißen muss. Aber eine Gesellschaft muss ihn aushalten können. Bedenken Sie nämlich, was passiert, wenn man diesen Trend der medialen Zerfaserung weiter denkt. Mit Künstlicher Intelligenz steht gerade in diesem Moment eine Technologie bereit, die zum ersten Mal in der Geschichte das hyper-Persönliche massenhaft herstellbar macht.

Eine Welt ohne Medien – das ist die langfristige Vision dieser Technik. Eine Welt ohne Fernsehen, ohne Spotify, ohne Instagram, ohne YouTube, Netflix oder Amazon. Sondern nur mit einer KI, die Ihnen alles herstellen kann, was Sie wollen. Perfekt abgestimmt auf Ihren Geschmack: Eine Musikplaylist von Bands, die nur für Sie existieren? Ein Radiosender, nur für Sie? Kinofilme zu Ihren Wunschthemen, mit Ihnen selbst und Brad Pitt in der Hauptrolle?

Prinzipiell wird das möglich sein – und nur die konsequente Weiterentwicklung des größten Trends der Gegenwart: der Individualisierung von allem. Was heute noch unglaublich klingt, könnte für eine nachwachsende Generation in zehn Jahren schon Standard sein.

Was passiert jedoch mit einer Gesellschaft, der das verbindende Element fehlt? Leben wir als Demokratie nicht davon, dass wir zwar nicht alle einer Meinung sind, aber doch den gemeinsamen Kulturraum teilen? Was passiert, wen Shirin David nur noch ihren Followern und Jan-Josef Liefers seinen „Tatort-Fanboys“ zujubelt?

Dass „Wetten, dass..?“ verschwindet, ist nur folgerichtig – und fatal zugleich

Über Thomas Gottschalks Sendung konnten wir uns alle aufregen – aber zumindest taten wir das gemeinsam. Er war das, was jeder Online-Algorithmus hasst: das Über-den-Tellerrand-Schauen. Mit allen Vor- und Nachteilen. Die viel größere Gefahr ist, dass unsere Gesellschaft in so viele individuelle Grüppchen zerfällt, dass wir gar nicht mehr miteinander reden können, weil wir alle in passgenauen unterschiedlichen Wirklichkeiten leben.

Dass „Wetten, dass..?“ verschwindet, ist nur folgerichtig – und fatal zugleich. Vielleicht werden Historiker in 30 Jahren zurückschauen und diese Entwicklung als Beginn der totalen Zerfaserung unserer Gesellschaft erkennen. Thomas Gottschalk zumindest hat sich gewehrt bis zum Ende. Danke dafür.

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