Busfahrer aus Kenia sollen den deutschen Nahverkehr retten

In deutschen Städten fehlen Busfahrer, die Verkehrsbetriebe suchen dringend Personal – nun auch am ostafrikanischen Viktoriasee. Unterwegs mit Kenianern, die bald auf norddeutschen Straßen fahren sollen.

busfahrer aus kenia sollen den deutschen nahverkehr retten

Busfahrer aus Kenia sollen den deutschen Nahverkehr retten

»Bitte alle anschnallen«, sagt Stephen Sunday auf Deutsch, »wir fahren los.« Dann setzt er den Blinker, macht ordentlich den Schulterblick, lenkt seinen großen gelben Bus auf die linke Spur. Die Szene wirkt im kenianischen Homa Bay ungewöhnlich, denn hierzulande schnallt man sich nur selten in Bussen an, auch der Schulterblick gehört nicht wirklich zum Standard. Doch Sunday will alles richtig machen, denn seine Zukunft sieht er nicht mehr am Ufer des Viktoria-Sees. Sondern in Norddeutschland, bei einem regionalen Verkehrsunternehmen.

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Homa Bay ist nicht Hamburg-Bergedorf, das wird schnell klar. Hupende Motorradtaxis und ein Eselskarren verstopfen die Straße, bergauf geht es nur im Schritttempo voran. Sunday tuckert mit seinem Bus geduldig hinter den Verkehrshindernissen her, er lächelt milde, die linke Hand einsatzbereit am Schalthebel. Ihn kann nur wenig aus der Ruhe bringen.

Sunday fährt seit zehn Jahren Bus. Er ist an einer Schule angestellt, bringt die Kinder tagsüber zu Fußballturnieren. »Mein Vater war Lehrer, ich wollte auch unbedingt mit Kindern arbeiten«, sagt der 38-Jährige. Wenn seine Fahrkünste gerade nicht gebraucht werden, hilft er an der Schule aus, druckt Prüfungszettel oder besorgt Bücher. Er liebe seinen Job, sagt er. Trotzdem freut er sich auf das, was vor ihm liegt: eine Karriere als Busfahrer in Deutschland, ein sicherer Job, im Vergleich zu Kenia ein solides Einkommen, ein Neuanfang. »Ich bin ein Entdecker-Typ.«

Kenia steht inzwischen weit oben auf der Liste möglicher Herkunftsländer für Arbeitskräfte in Deutschland, nicht nur für Busfahrer. Die beiden Länder arbeiten gerade an einem Migrationsabkommen, das Kenianerinnen und Kenianern die Jobmigration erleichtern soll. Bundeskanzler Olaf Scholz war im vergangenen Jahr zum Staatsbesuch in Nairobi, schwärmte von den Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Der kenianische Präsident William Ruto sprach bei einer Pressekonferenz nach dem Treffen gar von 250.000 Stellen, die seine Landsleute in Deutschland besetzen könnten. Ein offenkundiges Versehen, denn so hoch ist der Gesamtbedarf an Arbeitsmigration nach Deutschland. Doch der Hype war längst losgebrochen.

Das Goethe-Institut in der Hauptstadt Nairobi bietet Beratungen für Migrationswillige an, ihre Sprechstunden sind seit dem Besuch des Kanzlers gut besucht. »Die Nachfrage hat deutlich zugenommen, Deutschland ist als Zielland viel stärker auf dem Schirm. Darin liegt für beide Seiten eine große Chance«, sagt Projektleiterin Claudia Schilling. Bei ihr rufen mittlerweile Bäcker aus Nordrhein-Westfalen an, die nach Lehrlingen suchen und Abiturientinnen aus Kenia, die im deutschen Gesundheitswesen arbeiten wollen. Schilling warnt aber auch: »Wir müssen jetzt vor allem Erwartungen managen, die sind teilweise unrealistisch, auf beiden Seiten.«

Denn die Hürden sind nach wie vor hoch. Mehr als 100 Kandidatinnen und Kandidaten hat etwa jene Agentur aus Berlin-Mitte in Kenia identifiziert, mit der auch Busfahrer Sunday nach Deutschland kommen will, um den Nahverkehr zu retten. Der ehemalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Torsten Albig ist Mitgründer der Firma. Gerade haben sie den ersten Vertrag über fünf Busfahrerinnen und Busfahrer mit einem norddeutschen Verkehrsunternehmen abgeschlossen – unkompliziert war das nicht.

»Es ist ein Pilotprojekt, und die bürokratischen Herausforderungen sind enorm«, sagt Mitgründerin Bärbel Boy, man merke: »Deutschland ist noch kein Einwanderungsland.« Das geht schon bei der Anerkennung der Abschlüsse los: Zwar haben alle Kandidatinnen und Kandidaten aus Kenia bereits einen Busführerschein, doch in Deutschland wird nicht einmal ihr PKW-Führerschein akzeptiert. Sie müssen also wieder bei null anfangen. Zusätzlich müssen sie noch eine Handelskammer-Prüfung ablegen, bis zu sechs Monate kann all das dauern. Die möglichen Kosten für die Nahverkehrsunternehmen: mehrere tausend Euro. Britta Oehlrich, Geschäftsführerin der Verkehrsbetriebe Hamburg Holstein, lässt sich angesichts des akuten Nachwuchsmangels von solchen Hindernissen nicht entmutigen: »Wir müssen beim Thema Mitarbeitenden-Rekrutierung neue Wege beschreiten.«

Am Ufer des Viktoria-Sees ist gerade Unterricht angesagt. Eine Deutschlehrerin steht vor den angehenden Fachkräften und wiederholt den Stoff der vergangenen Stunden, los geht es mit einer Vorstellungsrunde. »Ich bin Stephen Sunday und ich bin Busfahrer«, sagt der Schüler fast akzentfrei. Er hat den Satz oft geübt. Am Wochenende steht die Deutschprüfung an, Level B1, es muss alles glattlaufen. »Dieser Test steht zwischen euch und der Reise nach Deutschland, denkt daran«, erhöht Lehrerin Connie Achieng den Druck.

Dann ist Buskunde dran. Die Lehrerin erzählt, dass vor Dienstantritt stets das Fahrzeug geprüft werden müsse, auf Sauberkeit, auf ausreichend Benzin. Es sei wichtig, fit und satt zum Dienst zu erscheinen. Die Anwesenden hören aufmerksam zu und machen sich Notizen. Wenn alles gut geht, sollen sie bereits im März im Flieger sitzen.

Fest steht: Deutschland braucht dringend Arbeitskräfte aus dem Ausland, nicht nur top ausgebildete IT-Spezialisten und Ingenieure, sondern auch Menschen, die Busse fahren, Autos reparieren und alte Menschen pflegen. Kenias Bildungssystem wiederum genießt in Afrika einen guten Ruf, die Absolventinnen und Absolventen der Highschools und Unis gelten als vergleichsweise gut ausgebildet und hoch motiviert. Allerdings findet nur ein Bruchteil von ihnen einen geeigneten Job im Land, die Wirtschaft schwächelt. Eine Arbeitskräftemigration nach Deutschland könnte also eine Win-win-Situation sein.

Vor zwei Wochen war Außenministerin Annalena Baerbock im Land, das Thema Arbeitskräftemigration wurde wieder prominent besprochen. Derzeit wird ein Abkommen zwischen Kenia und Deutschland ausgearbeitet, es wäre nach dem mit Marokko das zweite seiner Art in Afrika. Diese so sogenannten Migrationspartnerschaften sollen mehr Möglichkeiten zur legalen Migration nach Deutschland schaffen, vor allem für Fachkräfte. Die Kandidatinnen und Kandidaten sollen gezielt auf ein Leben in Deutschland vorbereitet werden, unter anderem mit Orientierungskursen. Gleichzeitig verpflichten sich die Herkunftsländer, ausreisepflichtige Staatsbürger zurückzunehmen.

»Das Thema ist ganz oben auf der Agenda, aber die deutsche Bürokratie hinkt leider teilweise noch sehr hinterher«, sagt Maren Diale-Schellschmidt von der deutschen Außenhandelskammer (AHK) in Kenia. Die AHK bietet inzwischen eigene duale Berufsabschlüsse an und versucht seit einigen Monaten, diese in Deutschland als gleichwertig anerkennen zu lassen. So soll der bürokratische Aufwand bei der Ausreise verringert werden. »Selbst wenn das gelingt, heißt das noch lange nicht, dass die lokalen Behörden in Deutschland der Anerkennung auch folgen«, schimpft Diale-Schellschmidt. Teilweise entscheide jede Kommune anders. Bei bisherigen Absolventinnen und Absolventen habe sich der Prozess sehr lange hingezogen.

Mehrere Gesetzesänderungen sollen seit November 2023 solche bürokratischen Hürden schrittweise abbauen, zumindest für bestimmte Berufsgruppen. Die Anerkennung der Abschlüsse soll erleichtert werden, in einigen Fällen gar wegfallen. Doch der Weg ist noch weit, wie sich auch an der Mount Kenya University eine Autostunde vor Nairobi zeigt.

Im 13. Stock, ganz oben auf der Dachterrasse, empfängt Dr. Christopher Mutembei die Gäste vom SPIEGEL. Von hier aus hat man einen 360-Grad-Blick über die karge Landschaft vor den Toren der Hauptstadt, unten schimmert das Blau des Universitätspools, eine Gruppe Studierender planscht im Wasser. Mutembei leitet das Center for Professional Development, und er hat große Pläne. 10.000 Absolventinnen der Uni will er nach Deutschland vermitteln, ein Fünftel aller Eingeschriebenen. »Das Interesse ist riesig, wenn es doch nur genug Deutschlehrer gäbe«, beklagt er. Aufgrund des derzeitigen Booms finden sich kaum noch ausgebildete Lehrkräfte.

Also geht es an der Mount Kenya University erst mal klein los, mit einem Pilotprojekt in Zusammenarbeit mit der Hochschule Koblenz. Im ersten Stock des Universitätsgebäudes steht eine Gruppe junger Menschen in grünen Kitteln, sie umringen Puppen, die auf Krankenbetten liegen. Die Studierenden fühlen den Puls, sie messen Blutdruck, wechseln Infusionen aus. Sie werden trainiert für den Einsatz an deutschen Patientinnen und Patienten. Im Hörsaal gleich um die Ecke wird Deutsch geübt: Jeremy Maina konjugiert das Verb kochen. Er springt mal wieder als Lehrer ein.

Maina spricht fließend Deutsch, er hat fast zehn Jahre lang in Deutschland gelebt, als Student. Während des Studiums hat er zahlreiche Hilfsjobs gemacht: Er hat als Gerüstbauer gearbeitet, in einer Wäscherei, hat auch den SPIEGEL ausgetragen. Dann kehrte er ohne Abschluss nach Kenia zurück, von dort aus bewarb er sich auf zahlreiche Ausbildungsplätze. »Ich habe dutzende Bewerbungen abgeschickt, doch es kamen immer nur Absagen«, erzählt er. Man hört in Kenia viele solcher Geschichten.

Am Ende hatte Jeremy Maina Glück. Er stieß im Internet auf eine Anzeige, es würden Pflegekräfte für Deutschland gesucht. »Ich wollte es erst nicht glauben, dachte, das ist wieder so eine zwielichtige Agentur. Doch dann sah meine Schwester die Werbung auch im Fernsehen«, erzählt Maina. Also bewarb er sich und wurde genommen. Er lernte an den Puppen im Trainingsraum, besuchte Kurse zur interkulturellen Verständigung. Im August vergangenen Jahres schloss er die siebenmonatige Vorbereitung an der Mount Kenya University ab. Dann sollte es eigentlich an einer Caritas-Klinik in Baden-Württemberg losgehen. Doch es geschah erst mal: nichts.

Denn um als Auszubildender in Baden-Württemberg anfangen zu können, muss das Regierungspräsidium Stuttgart zunächst den Schulabschluss anerkennen. Und das dauert, sechs Monate im Schnitt. »Ich wusste, wie das in Deutschland läuft, mich hat das nicht überrascht. Aber die anderen waren schon echt frustriert«, erzählt der 37-Jährige. Zwar sind gerade gute Nachrichten hereingekommen, seine Anerkennung ist durch, der Ausbildungsvertrag unterschrieben. Nun allerdings fehlt noch das Visum. Dafür liegt die durchschnittliche Bearbeitungsdauer bei drei bis vier Monaten.

Die Kenianerin Caroline Mwangi hat das Programm an der Mount Kenya University mit aufgebaut, sie lebt und arbeitet derzeit in Nürnberg. Mwangi leitet auch ein Diaspora-Netzwerk für ihre Landsleute in Deutschland. Sie betreut Neuankömmlinge, bietet Mentoring und Integrationskurse an. »Ohne richtige Anleitung und Begleitmaßnahmen haben die meisten im Behörden-Dschungel keine Chance«, sagt sie.

Doch oft fehle es an einer solchen Betreuung. Stattdessen wollen immer mehr zwielichtige Agenturen vom derzeitigen Boom profitieren und die Notlage der Kenianer ausnutzen. Sie knöpfen den potenziellen Kandidatinnen und Kandidaten vierstellige Summen ab – bevor überhaupt der Arbeitsvertrag unterschrieben ist. Im Internet versprechen sie 60 Urlaubstage, hohe Einkommen und ein Rundum-sorglos-Paket. Auch die kenianische Regierung warnt inzwischen vor solchen Scharlatanen. »Wir müssen die Goldgräber-Stimmung in geordnete Bahnen lenken«, sagt Mwangi.

In Homa Bay fahren die angehenden Busfahrerinnen und Busfahrer gerade zur medizinischen Untersuchung ins städtische Krankenhaus. Sie tragen eine lange Liste bei sich: Augencheck, umfängliches Blutbild, Reaktionstests. Stephen Sunday hält sich ein Auge zu und liest ein paar Buchstaben von der Wand ab. Dann gerät er etwas ins Straucheln, der Arzt diagnostiziert: offenbar leichte Kurzsichtigkeit. In Kenia war der Busfahrer auch ohne Sehhilfe Tag und Nacht unterwegs, das soll sich nun ändern. Doch an einer Brille wird seine Ausreise nicht scheitern. In wenigen Wochen wird er sich im deutschen Spätwinter wieder finden – wenn alles glattgeht. »Ich werde jedenfalls mein Bestes geben«, sagt er.

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