Dass Russland über deutlich mehr Menschen verfügt, die mobilisiert werden können, ist für die Ukraine ein großes Problem. Kiew selbst schafft es oft nicht mal, Soldaten etwas Urlaub zu gönnen. Die Frustration steigt. Hoffnungen ruhen auf verschiedenen Rekrutierungsmaßnahmen.
Wann kommt endlich die Ablösung? Diese Frage stellen sich viele Soldaten in der Ukraine.
Als Russland die Ukraine überfiel, meldete sich Iwan Sadonzew zum Militärdienst. Doch nach fast zwei Jahren Krieg ist der 27 Jahre alte Ukrainer des Kämpfens müde. “Wir sind alle erschöpft. Tauscht uns aus!”, fordert er. Doch Ablösung ist nicht in Sicht: Kiew hat Schwierigkeiten, genügend Soldaten zu rekrutieren, um den russischen Angriffen Stand zu halten. “Ich bin wütend. Wie lange soll das noch so weitergehen?”, schimpft Sadonzew, der Presseoffizier des 24. Angriffsbataillons ist: “Wir brauchen Erholung!”
Serhij Ogorodnyk, der eine Kompanie der Luftlandetruppen leitet, stimmt Sadonzew zu. “Die Leute brauchen Urlaub – nicht nur, um sich zu erholen, um weiter kämpfen zu können, sondern auch, um sich um ihr ziviles Leben zu kümmern”, sagt der 39-Jährige. Viele Soldaten empfänden es als ungerecht, dass manche Ukrainer seit Februar 2024 an der Front sind, während andere noch gar nicht eingezogen wurden.
Die Militärführung steht vor einem Problem: Sie braucht zum einen Rekruten, um die ausgelaugten Soldaten abzulösen, zum anderen aber auch insgesamt mehr Männer und Frauen, um die Truppen im Kampf gegen den zahlenmäßig überlegenen Angreifer zu verstärken. Doch die Rekrutierung von Freiwilligen kommt nur schleppend voran. Um Abhilfe zu schaffen, legte die Regierung einen Gesetzentwurf zur Erleichterung der Einberufung vor. Die geplante Neuregelung hat eine heftige Debatte im Land ausgelöst.
Der Krieg zieht sich in die Länge, die Gegenoffensive im vergangenen Jahr scheiterte: das dämpft den Enthusiasmus der potenziellen Soldaten. Vor einem Jahr, als die Ukraine einen Erfolg nach dem anderen gegen Russland erzielte, habe er überlegt, Soldat zu werden, sagt Daniil, ein Friseur aus Kiew. “Jeder hoffte damals, dass sich die Dinge zum Guten wenden würden, dass wir alles zurückerobern könnten”, sagt der 27-Jährige. “Jetzt sind die Leute realistischer.” Militärdienst ist für Daniil heute keine Option mehr.
Ausbleibende Waffenlieferungen demotivieren
Auch die Unsicherheit, wie lange der Westen der Ukraine noch beistehen werde, trage zur Kampfesmüdigkeit bei, sagt Anton Grutschetsky vom Internationalen Institut für Soziologie in Kiew. “Die Ukrainer waren wirklich bereit, auf dem Schlachtfeld zu sterben, als sie sich stark unterstützt fühlten”, sagt er. “Wenn man aber weiß, dass es keine Waffen für den Kampf gibt, dann ist das demotivierend.”
Eine Reihe von Korruptionsskandalen und die überbordende Bürokratie beim Militär wirken ebenfalls abschreckend. “Ich dachte, es würde sofort losgehen”, sagt Jewgen Spirin, der vor vier Wochen in die Armee eingetreten ist. “Stattdessen braucht man hier einen Stempel, dort eine Unterschrift”, erzählt er und berichtet von dem Hin und Her zwischen den über die ganze Stadt verstreuten und überlasteten Büros, ein Erbe aus Sowjetzeiten.
Inzwischen gibt es Dienstleister, die die Anwerbung einfacher gestalten wollen. Die Rekrutierungsagentur Lobby X veröffentlicht auf ihrer nutzerfreundlichen Website offene Stellen beim Militär, versehen mit Informationen zu den verschiedenen Einheiten und ihren Kommandeuren. Die Modernisierung des Militärsystems “ist eine sehr große Herausforderung”, räumt Geschäftsführer Wladyslaw Grezjew ein. “Aber wir müssen uns ihr stellen, denn nur so können wir den Krieg gewinnen.” 67.000 Bewerbungen sind laut Grezjew bereits bei der Agentur eingegangen.
Hat die Ukraine viele Kämpfer in der Hinterhand?
Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte im Dezember an, bis zu einer halben Million weitere Soldaten zu mobilisieren. Selenskyj will ein “effizientes Rotationssystem” der verfügbaren Truppen einführen und verweist darauf, dass von den “fast eine Million Männern”, die bislang eingezogen wurden, derzeit nur “eine Minderheit” an der Front eingesetzt werde.
Der derzeit im Parlament diskutierte Gesetzentwurf sieht vor, das Einberufungsalter von 27 auf 25 Jahre zu senken, das Rekrutierungssystem zu digitalisieren und den Militärdienst in Kriegszeiten auf 36 Monate zu begrenzen. Diese Änderungen beunruhigen viele, die darin eine Verschärfung der Wehrpflicht sehen.
Im Internet kursieren Berichte über angebliche Einberufungen auf offener Straße. Zwangsrekrutierten sind in der Truppe jedoch nicht willkommen. “In unserer Einheit mögen wir es nicht, wenn Männer gegen ihren Willen eingezogen werden”, sagt Presseoffizier Sadonzew. Die Armee brauche motivierte, ausgebildete Soldaten. Sadonzew hofft, dass seinen Landsleuten klar wird, wie wichtig eine starke Armee ist. “Wir kämpfen für das ganze Land, für unsere Unabhängigkeit”, sagt er. “Wenn wir aufhören zu kämpfen, wird die Ukraine wieder besetzt.”
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