«So schlecht war die Situation noch nie»

Lukas Meier bewegt sich zwischen den verhärteten Fronten von Fanszene und Behörden. Ein Gespräch über Willkür, Machtdemonstration und Sippenhaft.

«so schlecht war die situation noch nie»

Für Lukas Meier von der Fanarbeit Bern ist es höchste Zeit, dass die Sicherheitsbehörden wieder für einen Dialog auf Augenhöhe offen sind.

Die YB-Fankurve blieb am Wochenende geschlossen.

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Lukas Meier, wie steht es zurzeit um die Befindlichkeit der Berner Fan-Seele?

Der Unmut ist gross. Die momentane Entwicklung macht mir Sorgen. Obwohl Zahlen der Behörden belegen, dass Spiele mit gravierenden Vorfällen deutlich abgenommen haben, werden nun Kollektivstrafen ausgesprochen. Dass Fansektoren geschlossen werden, ist extreme Willkür.

Der Fansektor blieb geschlossen, weil YB-Fans letztes Jahr in Zürich ein Tram demoliert und den Chauffeur bedroht haben. Soll das ohne Konsequenzen bleiben?

Es ist völlig korrekt, dass solche Vorfälle sanktioniert werden. Die beteiligten Personen muss man bestrafen. Doch die Verfolgung der Einzeltäter scheint bei der Polizei kein Thema mehr zu sein. Man macht es sich einfach und spricht Kollektivstrafen aus. Davon waren letzten Samstag 3000 YB-Fans betroffen. Das, obwohl am Vorfall in Zürich nur drei bis vier Personen beteiligt waren. Das ist rechtsstaatlich in höchstem Masse bedenklich. Damit wird endgültig eine Eskalation der Situation befeuert.

Wie meinen Sie das?

Das hat mit der Dynamik der Fankurve zu tun. Wenn Strafen verhängt werden, die 3000 Zuschauende treffen, dann löst das auch ausserhalb der Szene einen Solidarisierungseffekt aus. Gleichzeitig sorgen diese Massnahmen für grosse Empörung. Dadurch werden die radikaleren Kräfte in der Kurve gestärkt. Das kann eine Negativspirale einleiten. Der besonnene Teil der aktiven Fans verliert an Einfluss. Deshalb ist das Verhalten der Sicherheitsbehörden destruktiv und gefährlich.

«so schlecht war die situation noch nie»

Beim letzten Heimspiel gegen die Grasshoppers blieb im Wankdorf die Fankurve der YB-Anhänger geschlossen.

Was tra

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gen solche Kollektivstrafen zur angespannten Situation bei?

Es ist wissenschaftlich belegt, dass solche Massnahmen die Situation verschlechtern. Das zeigen Beispiele aus dem Ausland. Die Schliessungen der Fansektoren können zu extrem unübersichtlichen Situationen führen, die schwer kontrollierbar sind. Manche Teile der aktiven Fanszene werden trotzdem an die Spiele reisen. Das geschieht dann über den normalen Personenverkehr anstatt per Extrazug. Die Fans können nicht daran gehindert werden, sich Tickets für Sektoren zu kaufen, die nicht gesperrt sind.

Die Fans schieben die Schuld an dieser Situation auf die Behörden ab. Lässt das nicht eine gewisse Selbstreflexion vermissen?

Mehr Selbstreflexion wäre sicher wünschenswert. Es gab bestimmt Phasen, in denen die Fankurve reflektierter war. Aber in diesem Klima ist es auch für uns als Fanarbeiter schwierig, ein solches Denken bei den Fans zu fördern.

«so schlecht war die situation noch nie»

Für Aussenstehende ist die Fankurve ein eher undurchsichtiges Konstrukt. Intern gibt es jedoch klare Regeln.

Ein Lieblingsbegriff der Fanszene in Krisenzeiten ist die Selbstregulierung. Man will die Probleme unter sich regeln. Wie soll das funktionieren?

Die Selbstregulierung funktioniert gut. Aber es ist eine Wellenbewegung. Als nach der Pandemie eine neue Generation junger Fans zur Szene stiess, brauchte es eine gewisse Zeit, um ihnen die Regeln der Kurve beizubringen.

Wie sehen diese aus?

Es gibt viele Beispiele. Die aktive Fanszene ist grundsätzlich sehr gut organisiert. Zum Beispiel werden im Extrazug Flyer gegen Böller, also Knallpetarden, verteilt. Wer trotzdem solche abfeuert, wird darauf angesprochen. Auch wird nicht die Konfrontation mit Unbeteiligten gesucht. Man darf aber nicht vergessen, dass die aktive Fanszene mehrere Tausend  Menschen umfasst und YB bis zu 60 Spiele im Jahr absolviert. Es ist extrem schwierig, zu verhindern, dass dabei nie etwas passiert. Schliesslich gibt es in der Kurve durchaus auch Leute, die es legitim finden, Radau zu machen. Sie gehören aber zu einer klaren Minderheit.

Der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause verlangt von der Fankurve, dass sie Gewalttäter ausliefert. Wie realistisch ist diese Forderung?

Ein solches von einer Sicherheitsbehörde aktiv gefordertes Denunziantentum lehne ich klar ab. Es ist die Arbeit der Polizei, für die öffentliche Sicherheit zu sorgen. Das liegt keinesfalls in der Verantwortung der Stadionbesuchenden. Aber dass wir darüber diskutieren müssen, widerspiegelt die momentane Gesamtsituation.

Zurzeit wird das Kaskadenmodell ausgearbeitet, eine Art Strafenkatalog für Delikte rund um Fussballspiele. Die Fanarbeit Bern hat daran nicht mitgearbeitet. Wieso?

Wir wurden dazu nicht eingeladen. Als Präventionsstelle kommt es für uns auch nicht infrage, an der Ausarbeitung dieser Repressionsmassnahme mitzumachen. Ob ein solches Modell überhaupt zielführend ist, wurde nie diskutiert. Dass wir nicht einmal eingeladen wurden, zeigt, wie es um die Fanarbeit in der Schweiz steht.

Können Sie das ausführen?

Ich bin seit 17 Jahren Fanarbeiter. So schlecht wie jetzt war die Situation aber noch nie. Die Fanarbeit Bern hat drei Teilzeitstellen. Damit können wir unsere Arbeit kaum abdecken. Durch die vielen internationalen Spiele wurde diese natürlich erheblich grösser. Es ist auch ein nationales Problem. Die Fanarbeit Schweiz wurde eingestellt, weil die Liga sie nicht mehr finanzieren wollte. Das stösst bei mir auf blankes Unverständnis. Der Schweizer Fussball generiert durch TV-Rechte Millionenbeträge, aber man ist nicht bereit, in die Prävention und Sicherheit zu investieren. Das Ungleichgewicht von Repression und Prävention hat sich so nochmals massiv verstärkt.

«so schlecht war die situation noch nie»

Fanarbeiter Lukas Meier begleitet die YB-Fans bereits seit 17 Jahren.

Es gibt Stimmen, die sagen, das pädagogische Präventionskonzept der Fanarbeit tauge nicht, um gegen Gewalttäter vorzugehen. Was sagen Sie dazu?

Diese Wahrnehmung kann natürlich existieren. Unsere Wirkung ist schwierig auszuweisen. Man sieht vieles nur indirekt. Die Fanarbeit ist eine unabhängige Stelle zwischen momentan extrem festgefahrenen Fronten. Ich finde es wichtig, dass man nun an den Tisch zurückkehrt und auf Augenhöhe diskutiert. Wir setzen uns für einen konstruktiven Dialog ein.

Die Fankurve wird in der Öffentlichkeit oft als Ort wahrgenommen, wo sich gewaltbereite Rowdys treffen. Inwiefern deckt sich dieses Bild mit Ihrer Erfahrung als Fanarbeiter?

Es ist wohl tatsächlich so, dass die breite Öffentlichkeit vor allem dann mit der Fanszene konfrontiert wird, wenn es zu Gewalt kam. Dabei ist die Fanszene ein sehr vielfältiger sozialer Raum, der viel Gutes schafft. Die grossen Choreografien und die Gesänge im Stadion wären ohne Fanszene nicht denkbar. Auch darüber hinaus zeigt die Szene grosses Engagement. Es wurde zum Beispiel Geld für die Gassenküche oder die Ukraine gesammelt.

Und trotzdem kommt es immer wieder zu Gewalt. Ist sie schlicht ein fester Bestandteil der Fankultur?

Da hat sich über die Jahrzehnte einiges bewegt. Ein Hooliganproblem wie vor 30 Jahren gibt es heute nicht mehr. Nun haben die Ultras in der Kurve das Sagen. Diese lehnen Gewalt zwar nicht komplett ab, aber sie steht nicht mehr im Zentrum. Zudem wird Gewalt von den Behörden sehr breitflächig definiert. Beim Grossteil der erfassten Gewaltdelikte rund um Fussballspiele handelt es sich um abgebrannte Pyrotechnik. Körperliche Gewalt kommt eher selten vor.

Ist eine Fanszene ohne Gewalt überhaupt realistisch?

Die Fanszene lebt auch von einem Konkurrenzdenken. Oft wird dieser Wettbewerb auf kreative Weise ausgetragen, also durch Choreos oder Gesänge. Dennoch gibt es handgreifliches Konfliktpotenzial. Im europaweiten Vergleich passiert in der Schweiz aber relativ wenig. Sicher trägt auch das Auftreten der Fans zum negativen Bild in der Öffentlichkeit bei. Alle sind gleich angezogen und teils vermummt. Das kann militant wirken. Manche Fans sehen ihre Märsche durch andere Städte denn auch als Machtdemonstration. Dabei handelt es sich vornehmlich um junge Männer.

Gibt es auch Frauen in der Kurve?

Die Szene ist machoid. Frauen haben einen schweren Stand. Bern ist eine der wenigen Kurven, die eine weibliche Ultragruppierung hat. In anderen Stadien wäre das undenkbar.

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