Großer russischer Angriff – US-Regierung spricht von „Offensive gegen Charkiw“
Russland bereitet nach Einschätzung der US-Regierung offenbar einen größeren Angriff auf Charkiw vor. Das aktuelle Vorgehen des russischen Militärs sei „besorgniserregend“. Präsident Wolodymyr Selenskyj pocht auf rechtzeitige Waffenlieferungen.
Die US-Regierung beobachtet den neuen russischen Großangriff nahe der ukrainischen Millionenstadt Charkiw mit Sorge. „Wir haben damit gerechnet, dass Russland eine Offensive gegen Charkiw starten würde, und diese scheint nun begonnen zu haben“, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, am Freitag. In den Monaten nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine habe Russland bereits verzweifelt versucht, die Stadt einzunehmen, was nicht gelungen sei.
„In der Tat war es vor allem das Scheitern der Einnahme von Charkiw, das Herrn Putin dazu veranlasste, seine Truppen über die Grenze zurückzuziehen“, sagte Kirby weiter mit Blick auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Das aktuelle Vorgehen des russischen Militärs dort sei daher „sehr interessant und sicherlich besorgniserregend“. Die US-Regierung habe sich eng mit der Ukraine abgestimmt, um sie bei den Vorbereitungen zu unterstützen.
Russische Truppen hatte am Freitag einen Angriff in der ostukrainischen Region Charkiw gestartet. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach nach den russischen Vorstößen von einem „heftigen Kampf“. „Russland hat eine neue Welle von Gegenoffensivaktionen gestartet“, sagte Selenskyj am Freitag bei einer Pressekonferenz. „Die Ukraine begegnete ihnen dort mit unseren Truppen, Brigaden und Artillerie (…). Jetzt ist in dieser Richtung ein heftiger Kampf im Gange.“
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In seiner allabendlichen Videoansprache betonte Selenskyj später, zur Abwehr der Offensive bräuchten die ukrainischen Streitkräfte rechtzeitige Hilfslieferungen aus dem Ausland. „Was wirklich hilft, sind die Waffen, die tatsächlich in die Ukraine gebracht werden, und nicht nur angekündigte Pakete“, sagte Selenskyj. Die russische Offensive sei nicht überraschend gekommen. „Wir kennen die Stärke der Truppen des Besatzers und sehen ihren Plan“, sagte Selenskyj. „Unsere Soldaten, unsere Artillerie und unsere Drohnen reagieren auf die Besatzer.“
Das Verteidigungsministerium in Kiew hatte zuvor erklärt, die russischen Streitkräfte hätten am frühen Morgen in Charkiw versucht, mithilfe gepanzerter Fahrzeuge die ukrainischen Verteidigungslinien zu durchbrechen. Ziel der Angriffe war demnach die ukrainische Stadt Wowtschansk, die etwa 40 Kilometer nordöstlich von Charkiw dicht an der Grenze liegt. Weiter hieß es aus dem Ministerium, die Angriffe seien „zurückgedrängt“ worden, es fänden jedoch weiterhin „Kämpfe unterschiedlicher Intensität“ statt.
Nach Angaben des Gouverneurs der Region Charkiw, Oleh Synehubow, versuchten die russischen Truppen, die Grenze zur Ukraine zu durchbrechen. Sie hätten den Beschuss von Wowtschansk verstärkt, erklärte Synehubow auf dem Kurzmitteilungsdienst Telegram. Die Angriffsversuche seien abgewehrt worden, die ukrainischen Streitkräfte hätten „selbstbewusst ihre Stellungen gehalten und keinen einzigen Meter verloren“. Russland habe nicht die Mittel, um auf die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw vorzurücken. Die Aktionen der russischen Truppen an der Grenze seien eine „Provokation“.
Wenige Stunden nach dem Beginn der Angriffe gaben die USA am Freitag weitere Militärhilfe für die Ukraine im Wert von 400 Millionen Dollar (gut 370 Millionen Euro) bekannt. Die Unterstützung besteht einer Erklärung des Weißen Hauses zufolge unter anderem aus militärischer Ausrüstung und Unterstützung bei der Ausbildung ukrainischer Soldaten sowie weiteren Dienstleistungen des Pentagon.
Über eine mögliche russische Offensive bei Charkiw wird seit Wochen spekuliert. Es gibt Berichte, dass die russischen Truppen dort mehrere Zehntausend Mann zusammengezogen haben. Für den Ernst der Lage spricht, dass das Verteidigungsministerium in Kiew sich dazu äußerte, nicht wie sonst der Generalstab. „Zur Verstärkung der Verteidigung an diesem Frontabschnitt werden Reserven herangeführt“, teilte das Ministerium mit.
Auswärtiges Amt ruft zu „notwendiger Unterstützung“ für Verteidigung der Ukraine auf
Das Auswärtige Amt rief dazu auf, „die notwendige Unterstützung“ für die Verteidigung der Ukraine zu sichern. „Die Bevölkerung von Charkiw leistet weiterhin tapferen Widerstand gegen die ständige russische Bombardierung“, schrieb das Ministerium auf seinem englischsprachigen Profil im Onlinedienst X. „Ihr Mut erfordert unsere Solidarität. Gemeinsam mit unseren Partnern stehen wir der Ukraine bei und müssen die notwendige Unterstützung für ihre Verteidigung sicherstellen.“
Russland versuchte seit Beginn seiner Invasion im Februar 2022, die Grenzregion Charkiw zu erobern; im Herbst 2022 musste sich die russische Armee von dort aber wieder weitgehend zurückziehen.
Schon am Tag zuvor war der Frontabschnitt bei Wowtschansk von russischen Kampfflugzeugen aus der Luft mit Gleitbomben bombardiert worden. Über Nacht habe dann die russische Artillerie die vordersten ukrainischen Stellungen beschossen zur Vorbereitung des Angriffs, hieß es vom ukrainischen Verteidigungsministerium. Auch der russische Militärblogger Rybar beschrieb die Kämpfe bei Wowtschansk: Es gehe zunächst darum, die Kampfzone auszuweiten und im Gefecht die feindlichen Stellungen aufzuklären.
Hinweis: Im Text hieß es zuerst, Russland habe Charkiw nach Beginn der Invasion erobert, die Stadt selbst aber besetzten die Truppen nicht. Wir haben den Fehler korrigiert.