Mit Unwahrheiten, Beleidigungen und neuen Mitarbeitern versucht Boris Johnson, sein Amt zu retten. Selbst engste Vertraute verlassen ihn. Kann er das politisch überleben?

An diesem Wochenende feierte Königin Elisabeth II. ihr 70-jähriges Thronjubiläum – im kleinen Kreis auf Schloss Sandringham. Zu diesem Anlass sagte sie ihrem Volk, sie werde auf ewig dankbar sein und Demut darüber zeigen, welch Loyalität und Zuneigung ihr die Öffentlichkeit entgegenbringe. Das Wort “Demut” würden die Briten derzeit gern öfter hören – nicht von der Queen, sondern von ihrem 14. Premierminister Boris Johnson.
Großbritannien erlebt derzeit einen eklatanten Gegensatz: die Königin, die seit 70 Jahren mit Disziplin und Integrität ihre Rolle als Staatsoberhaupt ausfüllt – und gleichzeitig einen Premierminister, der als “Lord of Misrule” beschimpft wird und seine Regierung wie Partei mit Skandalen und seiner Politik der Lügen immer tiefer in den Abgrund zieht. Dennoch gehen 60 Prozent der Öffentlichkeit nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut YouGov davon aus, dass Johnson nicht von allein zurücktreten werde.
In den vergangenen Tagen soll Johnson nach Angaben britischer Medien durch die Büros gestürmt sein und seine Leute mit der Parole “Vorwärts” angefeuert haben. Am Wochenende verkündete der durch Partygate schwer angeschlagene Premier, dass er einen Abgeordneten, den ehemaligen Brexit-Minister Steve Barclay, zum neuen Stabschef ernannt hat. Es ist ein ungewöhnlicher Schritt, dass ein Abgeordneter, der eigentlich dem Parlament gegenüber Rechenschaft ablegen muss, gleichzeitig die Fäden in Downing Street in die Hand nimmt.
Die Spitzenbeamtin Sue Gray hatte in ihrem kritischen Untersuchungsbericht über die Downing-Street-Partys gefordert, dass die Verantwortlichkeiten in Downing Street klarer geregelt werden müssten. “Das ist jetzt genau nicht der Fall, sondern es wird im Zweifel alles noch viel, viel schlimmer”, so das Urteil von Jill Rutter, einer früheren Beamtin und nun führenden Kritikerin von Ministerialangelegenheiten.
Engste Vertraute verlassen den Premier
Die hastige Berufung ist nur eine von zahlreichen Entscheidungen, mit denen Johnson versucht, die Löcher in seiner Personaldecke zu stopfen. In den vergangenen Tagen haben gleich fünf seiner führenden Mitarbeiter den Rücktritt eingereicht, darunter sein durch Partygate angeschlagener Privatsekretär Martin Reynolds und sein Stabschef Dan Rosenfield, der erst knapp ein Jahr im Amt war. Für Johnson wird es immer schwieriger, hochkarätige Führungsfiguren für die Downing Street zu gewinnen, da kaum noch jemand seine Karriere mit einem Schleudersitz im Amt des Premiers aufs Spiel setzen will.
Selbst die seit 14 Jahren engste Mitarbeiterin von Johnson, seine politische Beraterin Munira Mirza, reichte vergangene Woche mit Kritik an Johnsons moralischem Anstand ihren Rücktritt ein. Die Kultusministerin Nadine Dorries ist eine der wenigen Kabinettsmitglieder, die Johnson – mit teils absurden Interviews – verteidigt, egal um welche Vorwürfe es sich handelt.
Die Nation wartet darauf, dass Johnson seinen kompletten Stil ändert. “Johnson hat keine andere Wahl. Er muss mit seiner Strategie der ewigen Angeberei aufhören”, kritisierte ihn die Tageszeitung The Times am Wochenende. “Ernst gemeinte Demut für das Verhalten, dass die Öffentlichkeit und das Parlament so erbost haben, wäre mal angesagt.” Aber Johnson ändert sein Verhalten nicht, auch wenn er dem Parlament vergangene Woche versprach: “I get it, I fix it”, nach dem Motto: “Ich hab es kapiert, ich bring das in Ordnung.”
Indessen greift Johnson zu einem von populistischen Politikern gern gewählten Stil: der Politik der Lüge. In einem Video von 2006 ist Johnson in einem Fernsehinterview zu sehen. Darin erklärt er seine Strategie: “Man überschüttet die Öffentlichkeit, die Medien einfach nur mit unsagbar viel Mist. (…) Daran hängen sich die Medien dann auf, (…) wissen gar nicht mehr, wo sie hinschauen sollen. (…) Dann stiehlt man sich einfach leise weg und macht sein eigenes Ding.” Für den Ausdruck “Mist” benutzte Johnson das englische Wort gaff, sprichwörtlich ein Angelhaken.
Johnson hat die Überlebenslüge von seinem Vater gelernt, schreibt der politische Autor Tom Bower in seinem Buch The Gambler über Johnson. Sein Vater versuchte, seine Affären und politisch wenig erfolgreiche Karriere zu kaschieren. Später auf Eton musste Johnson – im Gegensatz zu den reichen anderen Schülern – als Stipendiat den Intelligenten spielen, was er im Studium in Oxford perfektionierte.
Die Tageszeitung The Times feuerte Johnson für ein fabriziertes Lügenzitat bereits im Jahr 1987, als er gerade mal ein Praktikum machte. Als er von 1989 bis 1994 für die Tageszeitung The Telegraph in Brüssel tätig war, erfand er zahlreiche Geschichten, die Brüssel gegenüber seinen Lesern in möglichst schlechtem Bild erscheinen ließen. Am meisten schockiert hat die Öffentlichkeit freilich Johnsons Behauptung gegenüber Königin Elisabeth II. im Sommer 2019, das Parlament müsse ausgesetzt werden, um die Brexit-Politik zu retten. Die daraufhin von ihr abgezeichnete Aussetzung des Unterhauses wurde wenig später vom obersten Gericht für verfassungswidrig und nichtig erklärt.
Sein ehemaliger Chefberater Dominic Cummings bemerkte in einem Interview mit der BBC im vergangenen Jahr, dass Johnson nicht mehr in der Lage sei, Lüge und Wahrheit auseinander zu halten. Es gehe nur noch darum, sich von Tag zu Tag durch seine Eskapaden zu retten.
Kaum Substanz bei politischen Vorhaben
Mittlerweile scheint es, als ob nicht nur die langjährigen Kritikerinnen und Kritiker und Brexit-Gegner des Landes dies begriffen haben, sondern auch die Wählerinnen und Wähler sowie immer mehr seiner eigenen Abgeordneten. Die jetzt hastig lancierten politischen Programme verpuffen in den Medien, weil sie kaum noch Substanz haben. So wurde vergangene Woche vom Kabinettsmitglied Michael Gove das lang erwartete Programm Levelling-up vorgestellt.
Es wiederholt Programmpunkte, die seit vielen Jahren immer wieder verkündet werden, um den Ausbildungs- und Lebensstandard in den Regionen zu erhöhen. Es ist nahezu das gleiche Programm, das bereits unter der ehemaligen Premierministerin Theresa May aufgesetzt worden war. Es soll jedoch frühestens 2030 umgesetzt werden.
Sogar der finanziellen Ausstattung fehlt die Substanz: Die in Großbritannien als Beispiel für ein Aufbauprogramm zitierte deutsche Wiedervereinigung hat die Bundesrepublik zwischen 1990 und 2014 etwa zwei Billionen Euro gekostet, umgerechnet etwa 71 Milliarden Pfund im Jahr. Die britische Regierung hat für ihr Aufbauprogramm einen Gesamtfonds von 4,8 Milliarden Pfund aufgesetzt.
Im Parlament verkündet Johnson seine Regierungserfolge immer öfter mit Argumenten, die einer Überprüfung nicht standhalten. Großbritannien verfügt nicht über das stärkste Wirtschaftswachstum der G7-Länder, sondern – über die ganze Pandemie gesehen – sind es die Vereinigten Staaten, gefolgt von Frankreich, Deutschland, Italien, Kanada und dann Großbritannien. Zudem hat die Bank von England gerade davor gewarnt, dass die verfügbaren Einkommen der Haushalte dieses Jahr so drastisch sinken werden wie seit drei Jahrzehnten nicht mehr.
Die Impfkampagne ist nicht mehr die schnellste Kampagne in Europa, sondern Großbritannien ist lange von anderen Ländern überholt worden, da im Trubel um Partygate die Boosterimpfung ins Hintertreffen geraten ist.
Die Kriminalstatistiken sehen nicht besser aus als vor der Pandemie, wie der Chef der Statistikbehörde, Sir David Norgrove, Johnson korrigierte. Und am britischen Arbeitsmarkt sind nicht mehr Leute als zu Beginn der Pandemie beschäftigt, wie es Johnson siebenmal im Parlament behauptet hat, sondern 600.000 Personen weniger. Die Behauptung von Johnson ist so eklatant falsch, dass sich hierauf die statistische Behörde meldete.
Schlimmer als all diese Unwahrheiten, mit denen Johnson versucht die Wählerinnen und Wähler und eigenen Hinterbänkler zu beeindrucken, war jedoch eine Beleidigung, die er dem Oppositionsführer Keir Starmer vergangene Woche im Parlament an den Kopf warf. Obwohl ihn seine Mitarbeiter davor gewarnt hatten, diese Lüge im Parlament zu benutzen, ignorierte Johnson ihren Rat und behauptete im Parlament, Starmer habe es in seiner Zeit als Direktor der britischen Staatsanwaltschaft (von 2003 bis 2013) unterlassen, den später als notorischen Pädophilen bekannten DJ und BBC-Moderator Jimmy Savile anzuklagen. Starmer hatte mit dem Fall nie etwas zu tun, wie die BBC klarstellte.
Zahlreiche Tory-Abgeordnete entschuldigten sich privat bei Starmer dafür, dass Johnson ihn im Parlament so beleidigt habe. Nachdem seine engste politische Beraterin Munira Mirza Johnson vergeblich gedrängt hatte, sich im Parlament zu entschuldigen, trat sie zurück. Mirza schrieb: “Das war nicht mehr das normale Hauen und Stechen in der Politik; es war unangemessen und das parteipolitische Ausnutzen eines furchtbaren Verbrechens von Kindesmisshandlung.”
Großbritannien erlebt in diesen Wochen, dass es keine Handhabe gibt, gegen einen Premierminister, der im Parlament lügt, vorzugehen, wenn es die eigene Partei nicht will. Als der Abgeordnete der Scottish National Party SNP, Ian Blackford, vergangene Woche im Parlament aufstand und Johnson beschuldigte, das Parlament getäuscht zu haben, zeigte sich das Paradox der veralteten, englischen Konventionen der Mutter aller Parlamente.
Verhaltenskodex verlangt Rücktritt bei Täuschung
Eigentlich verlangt der Verhaltenskodex, der ministerial code, dass Abgeordnete im Parlament nicht lügen. Die Konvention verlangt, dass ein Abgeordneter zurücktreten soll, wenn er das Parlament getäuscht hat. Die britischen Parlamentarier sprechen sich während der Debatte mit “my honourable friend” an, da implizit angenommen wird, dass ein Abgeordneter honorig ist und aus Integrität handelt. Aber was Jahrhunderte Konvention war, zählt bei Johnson nicht mehr. Zumal es der Premierminister selbst ist, der Konventionen im Parlament im Zweifel durchsetzen muss.
Das Paradox: Gerade weil die Abgeordneten als honorig gelten, dürfen sie sich nicht gegenseitig der Lüge bezichtigen. Blackford musste daher sofort die Debatte und das Unterhaus verlassen. Der Sprecher des Unterhauses, Lindsay Hoyle, kritisierte später, die Abgeordneten sollten sich gegenseitig nicht beschuldigen. Seine Aufgabe sei es nicht zu urteilen, ob im Parlament die Wahrheit gesagt werde oder nicht.
Johnson kalkuliert, dass er deshalb mit seinen Unwahrheiten durchkommt. In Wirklichkeit aber, so kritisiert ihn Oppositionsführer Starmer, ziehe er alles und jeden auf seinem Weg mit nach unten. Und so gibt es immer wieder Tory-Abgeordnete, die nun doch einen Misstrauensbrief bei der Fraktion einreichen, sich von ihm distanzieren, ihn fallen lassen.
Johnsons Popularität ist auf dem Tiefpunkt angekommen. Die Queen könnte in ihrer langjährigen Zeit auf dem Thron auch noch einen 15. Premierminister oder eine Premierministerin im Amt küren.
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