Gratisanwälte für Flüchtlinge machen ihren Job nicht richtig – kritisieren Asylorganisationen
Sie haben Anrecht auf eine kostenlose Rechtsvertretung: Asylsuchende in einem Ankunftszentrum in Chiasso. Pablo Gianinazzi / Keystone
Es ist ein wichtiger Termin für die beiden jungen Männer. Sie sitzen still auf ihren Stühlen, kneten die Hände, schauen abwechselnd zur jungen Frau, die ihnen gegenübersitzt, und dann wieder auf den Boden. Zwischen ihnen sitzt ein Mann, der vom Englischen ins Persische übersetzt.
«Habt ihr den Entscheid dabei?», fragt die Frau auf Englisch. Es ist Lara Hoeft, die Co-Leiterin des Vereins Pikett Asyl. Der Verein unterstützt Asylsuchende, die ihren negativen Asylentscheid vor Gericht anfechten wollen. «Deine Beschwerdefrist ist leider gestern abgelaufen», sagt sie zum einen Mann. Zum anderen: «Bei dir können wir eine Beschwerde schreiben. Aber ich muss dir ehrlich sagen: Deine Chancen sind sehr klein.»
Der Mann schaut kurz auf, lächelt zum ersten Mal in diesem Gespräch und sagt: «I’ll try my luck.» Er versuche sein Glück.
Die beiden Männer sind 25 und 27 Jahre alt und kommen aus Afghanistan. Ihre Asylgesuche wurden abgelehnt. Der Grund: Die beiden Männer sind bereits in Griechenland als Flüchtlinge anerkannt. Sie müssen dorthin zurückkehren. So wollen es die Schweizer Behörden.
Die beiden Afghanen hatten in der Schweiz von Beginn weg einen Rechtsvertreter – vom Staat bezahlt. Darauf haben seit der Asylgesetzrevision, die 2019 in Kraft trat, alle Asylsuchenden Anspruch. Die Idee dahinter: Die Verfahren sollen schneller, aber – dank den Rechtsvertretern – rechtsstaatlich korrekt ablaufen. Angestossen hatte die Revision die frühere SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die SVP hatte die «Gratisanwälte» stets vehement bekämpft.
Kritik an beschleunigten Verfahren
Es sind grösstenteils Hilfsorganisationen, die die Gratisanwälte stellen. Etwa das Heks, die Caritas oder die Berner Rechtsberatungsstelle für Menschen in Not, sie werden vom Bund dafür bezahlt. Im März hat er die Mandate für die nächsten Jahre neu ausgeschrieben, diese Woche ist die Bewerbungsfrist abgelaufen.
Die staatlich finanzierten Rechtsvertreter der beiden Afghanen legten ihr Mandat nach wenigen Tagen nieder. Zu klein waren die Aussichten auf eine erfolgreiche Beschwerde. Stattdessen verwiesen sie ihre Mandanten an den Verein Pikett Asyl von Lara Hoeft. Sie sagt: «Wir werden gerade mit Anfragen überhäuft.» Früher hätten sich pro Monat zwanzig Asylsuchende bei ihnen gemeldet, heute seien es achtzig. In den letzten eineinhalb Jahren hat der Verein über tausend Menschen begleitet.
Hoeft kritisiert das beschleunigte Asylverfahren und die Folgen für den Rechtsschutz: «Unser Eindruck ist, dass die Rechtsvertretungen ihre Mandate zu oft niederlegen und die Asylsuchenden an uns verweisen.» Das führe dazu, dass Pikett Asyl oder die Freiplatzaktionen Zürich und Basel – privat finanzierte und grösstenteils von Freiwilligen getragene Vereine – «systemrelevant» geworden seien.
Die Juristin verweist auf eine Statistik des Bundesverwaltungsgerichts. Dieses sprach sich im letzten Jahr in 127 Fällen im Sinne der Asylsuchenden aus. Das heisst, die Richter hiessen die Beschwerde gut oder wiesen den Fall zurück ans Staatssekretariat für Migration. In knapp 80 Prozent dieser erfolgreichen Fälle wurden die Asylsuchenden durch staatlich finanzierte Rechtsvertreter repräsentiert, in 20 Prozent der Fälle nicht. In diesen Fällen seien oft unabhängige Vereine wie Pikett Asyl involviert gewesen, sagt Hoeft.
Für Hoeft ist dieser Wert zu hoch: «Jeder Fall, den wir vor Gericht gewinnen, zeigt, dass die staatlich finanzierte Rechtsvertretung eine falsche Einschätzung getroffen hat. Sie hat ihr Mandat zu früh niedergelegt.»
Lara Hoeft trägt an diesem Nachmittag einen schwarzen Kapuzenpulli auf dem steht: «Leave no one behind», lass niemanden zurück. Den beiden jungen Afghanen, die vor ihr im Büro sitzen, kann sie dennoch nicht wirklich helfen. Sie werden die Schweiz höchstwahrscheinlich verlassen müssen – Beschwerde hin oder her.
«Es kann sein, dass irgendwann unangekündigt die Polizei kommt und euch nach Griechenland bringt», erklärt sie. Die Männer schauen sie entsetzt an. «Ich will auf keinen Fall zurück nach Griechenland», sagt der eine. Er habe dort monatelang auf der Strasse gelebt. «Nach Griechenland zurückzukehren, ist für mich genauso schlimm, wie in Afghanistan unter dem Terrorregime der Taliban zu leben.»
Staatliche Rechtsvertreter wehren sich
Bei den staatlich finanzierten Rechtsvertretungen zeigt man sich wohlwollend gegenüber den unabhängigen. Dominique Wetli, der Leiter der Berner Rechtsberatungsstelle für Menschen in Not, sagt: «Die unabhängigen Rechtsvertreter sind für die Asylsuchenden insofern systemrelevant, als sie praktisch immer Beschwerde erheben, wenn ihre Klienten das wünschen.»
Das unterscheide die unabhängigen Organisationen von dem Rechtsschutz, der staatlich entgolten werde. «Wir reichen nur dann Beschwerde ein, wenn wir rechtlich begründbare Zweifel an einem Asylentscheid haben. Unser Engagement ist ein juristisches, ihres eher ein soziales.»
Kein Verständnis hat Dominique Wetli für den Vorwurf, die staatlichen Rechtsvertreter würden ihre Mandate zu rasch niederlegen. «Diese Behauptung ist schlicht nicht haltbar.» Er interpretiert die Zahlen des Bundesverwaltungsgerichts gerade umgekehrt: Die 20 Prozent der erfolgreichen Fälle, die nicht von staatlich finanzierten Rechtsvertretern geführt worden seien, seien wenige – gerade einmal 27. «Diese Zahl ist gemessen an den rund 2480 eingegangenen Beschwerden extrem klein. Unsere Fehlerquote ist also sehr tief.»
Zudem sei unklar, in welchen dieser 27 Fälle die gesetzliche Rechtsvertretung keine Beschwerde angeboten habe. «Manche Asylsuchende verzichten auf den staatlichen Rechtsschutz und gehen mit einem privaten Anwalt vor Gericht.»
Das machen die beiden jungen Afghanen nicht. Sie vertrauen auf Lara Hoeft von Pikett Asyl. Obwohl seine Chancen minim sind, bittet einer von ihnen sie, eine Beschwerde einzureichen. Hoeft wird sie am Abend schreiben. Die Männer reisen zurück in ihre Asylunterkunft im Aargau. Lange dürfte dies nicht mehr ihre Bleibe sein.