FDJ-Chef Aurich attackiert seinen Ex-Chef Krenz wegen DDR-Erinnerung

fdj-chef aurich attackiert seinen ex-chef krenz wegen ddr-erinnerung

Sieht eigentlich ganz freundlich aus: Egon Krenz (2.v.l.) gratuliert Eberhard Aurich nach seiner Wahl zum 1. Sekretär des FDJ-Zentralrates. Das war im Dezember 1983. Links: Wolfgang Herger

Ein Spitzenfunktionär der DDR-Führung attackiert öffentlich und scharf einen Ex-Genossen von noch weiter oben: Beide sind längst nicht mehr in Amt und Verantwortung, ihre Ära endete vor 35 Jahren. Doch beendet ist das Kapitel DDR weder für sie noch für viele andere, wie die Hitzigkeit der jüngsten Ost-Ost-Kontroverse wieder einmal zeigt.

Eberhard Aurich (77), zwischen 1983 und 1989 1. Sekretär des Zentralrats der FDJ, zudem Mitglied des Zentralkomitees der SED, Mitglied des Staatsrates und der Volkskammer, hat in einem Gastbeitrag im nd, ehemals Neues Deutschland, Egon Krenz (87) eine Wagenladung Ärger und Frustration vor die Füße gekippt. Der war sein Amtsvorgänger bei der Freien Deutschen Jugend, Mitglied des ZK und des Politbüros, zuletzt Generalsekretär der Partei und Vorsitzender des Staatsrates und hat kürzlich den zweiten Teil seiner Erinnerungen unter dem Titel „Gestaltung und Veränderung“ (1974 bis 1989) vorgelegt.

Die langen Titelwürmer signalisieren auch jüngeren Leuten: Hier geht es um Männer, die in der DDR viel zu sagen hatten. Beide sind Zeitzeugen eines untergegangenen Staates, ihre Erinnerungen Teil der Geschichte und Quelle künftiger Geschichtsschreibung. Wobei: Erinnerung heißt, sich etwas ins Innere, ins Gedächtnis zurückrufen – ein per se subjektiver Vorgang, also keine Geschichtsschreibung. Die Debatten des Jahres 2023 zielten auf das Gewinnen eines realistischeren Bildes von der DDR, was die „Aufarbeitung“ aus der Bürgerrechtlerszene heraus naturgemäß nicht allein liefern kann. Es geht um faire Einordnung, die noch lange nicht gelungen ist. Und die alten Granden gehören nun einmal dazu.

Aurich wie Krenz haben Bücher geschrieben, beide reden in der Öffentlichkeit – allerdings nicht miteinander. Freunde waren die Genossen wohl schon zu DDR-Zeiten nicht. Im aktuellen Fall nimmt Eberhard Aurich das neue Buch seines alten Chefs zum Anlass, einem offenbar seit langem kochenden Ärger Luft zu machen. Man blickt in einstige, fast vergessene Konfliktzonen. Krenz’ Erinnerungen haben Aurich enttäuscht und erzürnt. Er fragt: „Was hat der Autor denn gestaltet und verändert? Er war im obersten SED-Zirkel zuständig für Sicherheit und Verteidigung, für Staat und Recht, für Jugend und Sport. Zu dieser seiner konkreten Verantwortung schreibt er fast nichts.“ Aurich benennt mit der Insiderkenntnis des seinerzeit unmittelbar Beteiligten „Leerstellen“.

Was das Buch jenen Zeitgenossen mitteilt, die über deutlich weniger Interna verfügen, reicht ihm bei weitem nicht. Diesbezüglich kann sich jeder ein eigenes Bild verschaffen, durch Lektüre des Buches. Krenz selbst bietet auf Seite 165 eine funktionale Erklärung zu seinen Zuständigkeiten an: Die Abteilung, die er als Sekretär des ZK leitete, „war zuständig für die politische Arbeit und die Tätigkeit der Parteiorganisationen in den Schutz- und Sicherheitsorganen der DDR“. Also nicht für deren operative Arbeit.

Natürlich macht es neugierig, wenn man auf Leerstellen hingewiesen wird. Aurich legt einige dar. Zum Beispiel den Umgang mit Umfragen zur Stimmung in der DDR: „Angeblich hätten laut Krenz immer wieder Studien des Zentralinstituts für Jugendforschung Leipzig bewiesen, dass die Jugend treu zur DDR stand. Warum befahl er aber dann den Wenigen, die Zugang zu diesen Aussagen hatten (ich gehörte dazu), diese in ihre Panzerschränke einzuschließen und nichts daraus verlauten zu lassen?

Im Januar 1988 stellte allerdings Prof. Dr. Walter Friedrich, der Leiter des Leipziger Instituts, auf einer von mir nun schon ohne Wissen von Krenz anberaumten Versammlung im Zentralrat der FDJ einen ,zunehmenden Trend der Betonung der Selbstständigkeit, der persönlichen Unabhängigkeit, der Individualität‘ fest. Er verwies auf eine ‚tendenzielle Abschwächung des Engagements, des Interesses an politischen Zielen und Aufgaben, so wie sie vermittelt werden‘.“

Als er, Aurich, solche Einschätzungen und Wertungen an Krenz geschickt habe, habe der „die eigene Verantwortung der Funktionäre des Zentralrats, der Bezirks- und Kreisleitungen betont“ und geschrieben: „Der Verweis darauf, dass andere noch weniger mit der Jugend reden, ist wenig produktiv.“ Gleichzeitig sei er, Aurich, zu einer Aussprache ins ZK bestellt worden. (Krenz dazu in seinem Buch auf den Seiten 29/30).

Aurich wirft Krenz vor, „Details aus dem Dauerkonflikt mit der sowjetischen Führung“, über die er heute spreche, seinerzeit der FDJ-Führung verborgen zu haben – „damals natürlich im Interesse seiner Freundschaft zur Sowjetunion“.

Einen „zentralen Knick in der DDR“ spare Krenz völlig aus, habe ihn offensichtlich gar nicht verstanden: „1976 korrigierte die SED auf Befehl von Breschnew endgültig das Reformkonzept von Ulbricht, seine Vorstellung von der eigenständigen Gesellschaftsformation Sozialismus wurde mit einem neuen Parteiprogramm entsorgt. Jetzt sollte es nahtlos bald zum Kommunismus gehen.“ (Krenz beschäftigt sich in seinem Buch ausführlich mit Ulbrichts Politik.) Des Weiteren fehlt Aurich die Erwähnung, dass „die DDR zu dieser Zeit eine eigenständige deutsche Nation werden sollte, sogar die Verfassung der DDR deshalb geändert wurde“. Das wird anderen weniger fehlen, weil es zum Allgemeinwissen gehört.

Dann liest man in seinem nd-Beitrag: „Egon Krenz hatte sogar den kühnen Einfall, für die DDR-Nationalhymne einen neuen Text schreiben zu lassen. Wenigstens das hat dann Honecker verhindert.“ Spätestens an diesem Punkt fühlt sich ein anderer Insider zur Reaktion veranlasst: Hartmut König, Erfinder der ersten Beatband der DDR (Team 4), als Autor von eingängigen Bekenntnissongs wie „Sag mir, wo Du stehst“ (für den Oktoberklub) oder populären Defa-Filmmusiken („Heißer Sommer“) einer der bekanntesten DDR-Liedermacher, langjähriger FDJ-Kulturfunktionär und zuletzt stellvertretender Kulturminister.

In einem offenen Brief, veröffentlicht im nd als Leserbrief, schreibt König nach der betont neutralen Anrede „Hallo Eberhard“ und der neckischen Erinnerung „Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche“, dessen Kritik benötige einen Faktencheck. Er greift „aus der Fülle“ der Behauptungen und korrigiert: „Krenz hatte nie erwogen, einen neuen Text für die Nationalhymne schreiben zu lassen, sondern ein Wort zu verändern (,unser deutsches Vaterland‘ statt ,Deutschland, einig Vaterland‘), damit die Hymne endlich wieder gesungen würde. Die deutsche Einheit war für Krenz, Dich, mich und viele andere damals keine Option.“

Dann geht es um den 1987 heiß diskutierten „antistalinistisch intendierten sowjetischen Film ,Die Reue‘“ des georgischen Regisseurs Tengis Abuladse, der 1987 in den Westkinos lief und im Herbst über das ZDF auch das DDR-Volk erreichte. Im Reiche Honeckers war er wie auch in Gorbatschows Glasnost-SU verboten. Krenz schreibt darüber auf Seite 436, er habe den Chefredakteur der Jungen Welt, Hans Dieter Schütt, „zu einer kritischen Rezension verleitet, die mich bis heute nicht reut. Dafür ihn umso mehr.“ Schütts Verriss wurde damals als Signal verstanden, die Staats- und Parteiführung mache solche Reformexperimente nicht mit. Es folgten Proteste, weit über die Kulturszene hinaus. Später tauchten Hinweise auf, Erich Honecker habe Schütts Fassung persönlich verschärft.

Aurich kreidet Krenz also ganz richtig an, die Kritik des Anti-Stalin-Films noch heute für richtig zu halten. Andererseits weist König darauf hin, dass er (und FDJ-Funktionär Jochen Willerding) „vehement gegen den beabsichtigen Beitrag votiert“ hätten, und an Aurich: „Du hast geschwiegen.“

Interessant. Mit diesen Informationen im Hinterkopf liest man weitere Klagen nachdenklicher. Zum Beispiel missfällt Aurich, wie Krenz seine Kollegen im Politbüro beurteilt und fragt: „Warum hat er nicht den Aufstand geprobt, wenn das in seinen Augen alles nur Dumme und Karrieristen waren?“ (Krenz führt Erklärungen für die allseits interessierende Frage auf mehreren Seiten an, ab Seite 427). Man könnte zusammenfassen: moralisch begründete Beißhemmung. Für das Land war das schlecht. Als Krenz und Freunde zur Tat schritten, war es zu spät. Viel, viel zu spät.

Manche Fragen, an die Aurich erinnert, haben tatsächlich damals viele umgetrieben: Krenz habe 1983 das Forum, Zeitung für geistige Probleme der Jugend, endgültig verboten. Warum? Damals war das nicht nur Kleinkram. Warum durfte der Defa-Film „Erscheinen Pflicht“ über die Auseinandersetzung einer 16-Jährigen mit den Verhältnissen in der DDR nicht bei einem Jugendfestival gezeigt werden? Aurich habe das gewollt, schreibt er.

Im selben Jahr bewegte der Film „Insel der Schwäne“ über die Natursehnsucht eines 13 Jahre alten Jungen in einer Plattenbaugroßsiedlung die Gemüter – genauer gesagt, empörte das zensierende Gewürge um den Film, der schließlich in entschärfter Form in die Kinos kam. Egon Krenz habe einen Zeitungsverriss bewirkt, klagt Aurich.

Tatsächlich war die DDR randvoll mit solchen ätzende Kontroversen, getrieben von Kleingeisterei, Gängelei, ideologischer Enge, Unterdrückung von Kritik. Hartmut König räumt in seinem offenen Brief ein: „Uns ist manches vorzuwerfen. Aber wir müssen es aus unseren Fehlern erklären und vor allem nicht so tun, als wären wir nicht dabei gewesen.“

Das nd hat reichlich Leserreaktionen auf die Kontroverse erhalten ­– zustimmende wie ablehnende. Dass es zahlreiche Abo-Kündigungen wegen des als hasserfüllt empfundenen Aurich-Textes gab, wollte man weder bestätigen noch bestreiten. Die Frage, ob die Information stimme, dass es auch Kündigungen von Genossenschaftsverträgen gab, blieb unbeantwortet. Sichtbar wurde jedenfalls: Da ist noch nichts am Ende in der Debatte über die Erinnerung.

Aurich selbst geht mit „Widerworten“ in die nächste Runde und wirft seinen Kritikern vor, in ihm ausschließlich einen „Abtrünnigen“ einen „Verräter“ oder ein „gewendetes Mitglied des ZK der SED zu sehen“, den „ihr beschimpfen könnt, indem ihr in alter stalinistischer Manier am liebsten den Mund verbietet. Das erspart euch die ehrliche Selbstreflexion unseres eigenen Tuns und die Antwort auf die Frage, warum dieser Sozialismus in der DDR mit dieser Partei und dieser Führung untergehen musste.“ Einen Hinweis darauf, wie ihm der Mund verboten wird, liefert er nicht.

Der Autor hatte seine kritische Rezension nach dem nd auch der Berliner Zeitung angeboten, die nd-Kollegen waren schneller, der Text findet sich hier.

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