Reisners Blick auf die Front: "Für die Ukraine wird der Munitionshunger zum größten Problem"

Die Kämpfe um Awdijiwka sieht Oberst Markus Reisner vor einem Wendepunkt. In den nächsten Tagen werde man sehen, ob die Ukraine es dort Entlastungsangriffe starte wie im vergangenen Jahr bei der Schlacht um Bachmut. “Das wird über das Schicksal der Stadt entscheiden.”

Ein ukrainischer Panzer feuert Ende Dezember auf russische Stellungen bei Awdijiwka. Mittlerweile stecken die ukrainischen Truppen dort nahezu in einem Kessel fest.

Markus Reisner: Militärisch exakt gesprochen ist das kein geschlossener Kessel, da die ukrainischen Soldaten nicht lückenlos vom Gegner eingeschlossen sind. Wir sehen hier eher ein sogenanntes operatives Schließen eines Kessels. Die zwei russischen Zangen, die sich aufeinander zubewegen, sind bereits in der Lage, das Gelände dazwischen durch Feuer zu kontrollieren.

Genau das ist das Problem. Im Nordwesten haben die Russen einen Keil zwischen das Stadtgebiet und die Kokerei getrieben. Dieser Keil berührt mittlerweile die Straße O0542, so dass ein Zu- und Abfließen nach und von Awdijiwka kaum noch möglich ist. Südlich dieser Straße sind nur Felder und Windschutzgürtel. Das wäre die einzige Möglichkeit für die Ukrainer, jetzt noch massiv hinauszukommen.

Aktuell nicht. Hier geht es um den lokal begrenzten Kampf um die Stadt. Bereits im vergangenen Jahr kam es hier infolge einer russischen Zangenbewegung zu einer Zuspitzung. Schon damals stand Awdijiwka kurz vor der Einnahme durch russische Truppen. Durch das Verlegen von Kräften und einen Gegenangriff konnten die Russen damals zum Stoppen gebracht werden. Dazu wurde die 47. mechanisierte Brigade aus dem Raum Robotyne nach Awdijiwka herangeholt – jene Brigade, die mit Kampfpanzern vom Typ Leopard und Bradley ausgestattet ist. Sie hat es geschafft, die nordwestliche Zangenbewegung der Russen zurückzudrängen; im südlichen Teil war es die 53. mechanisierte Brigade. Aber die Russen haben ihre Kräfte ebenfalls in Awdijiwka zusammengezogen. Dieselbe Situation hatten wir vor knapp einem Jahr in Bachmut, auch wenn diese Stadt wesentlich größer ist als Awdijiwka.

Für den neuen Oberkommandierenden Olexander Syrskyj ist der Druck jetzt natürlich sehr hoch. Er muss zeigen, dass er in der Lage ist, die Dinge an der Front in Bewegung zu bringen. Zumal Präsident Selenskyj sagt, er wolle keine Stagnation an der Front. General Syrskyj gilt als jemand, der Befehle stur im Sinne der politischen Führung umsetzt. Syrskyj war auch verantwortlich für die Kämpfe um Bachmut. Der damalige Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj, den Selenskyj gerade entlassen hat, plädierte dagegen für einen Rückzug auf die Höhen westlich der Stadt – dorthin, wo die Ukrainer jetzt stehen. Die Perspektive der ukrainischen Regierung war jedoch, dass die Ukraine in Bachmut zwar hohe Verluste erleidet, die russischen Verluste aber ungleich höher waren. Eine solche Situation haben wir jetzt in Awdijiwka. In den nächsten Tagen werden wir sehen, ob es dort Entlastungsangriffe gibt wie in Bachmut. Das wird über das Schicksal der Stadt entscheiden.

Nach einer Berechnung des Militärexperten Gustav Gressel und des Datenanalysten Marcus Welsch für die “Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung” hatte Russland in den vergangenen drei Monaten bei der Versorgung mit Artilleriegeschossen eine Überlegenheit von drei zu eins bis sieben zu eins. Wie ist es überhaupt möglich für die Ukraine, angesichts einer solchen Unterlegenheit die Verteidigungslinie zu halten?

Das ist etwas, das in den letzten vierzehn Tagen noch massiv zugenommen hat: der sogenannte Munitionshunger. Der Begriff kommt aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Übrigens gab es auch damals, 1915, eine Munitionskrise in Großbritannien, die erst durch eine Verstaatlichung der britischen Rüstungsindustrie gelöst werden konnte. Heute sind die Ursachen für die Munitionskrise der Ukraine vor allem Streitigkeiten im US-Kongress und nicht vorhandene Lieferkapazitäten. Ursprünglich wollte die Europäische Union der Ukraine bis März eine Million Artilleriegranaten liefern. Nun wird es nur die Hälfte sein, das Datum für die Million wurde nach hinten gesetzt. An der Front macht sich jetzt gerade massiv bemerkbar. Für die ukrainischen Truppen wird der Munitionshunger mehr und mehr zum größten Problem. Denn die Russen haben im vergangenen Jahr massiv Munition produziert, vermutlich zwei Millionen Artilleriegranaten. Dazu kommen noch eine Million Artilleriegranaten aus Nordkorea. Nach meinen Informationen kommen auf 2000 ukrainische Granaten derzeit im Schnitt 10.000 russische. Die Ukrainer versuchen, diesen Mangel mit dem Einsatz von First-Person-View-Drohnen wettzumachen.

Mit den FPV-Drohnen erreicht die Ukraine nur Ziele in bis zu zwei Kilometer Entfernung. Damit ist kein effektiver Gegenbeschuss gegen die russischen Artillerieverbände möglich. Hinzu kommt, dass die Ukraine kaum Fliegerabwehrsysteme an der Front einsetzen kann, weil diese für den Schutz des Hinterlandes benötigt werden. Das führt aber dazu, dass die Russen aus sicherer Distanz die sogenannten UMPK-Bomben abwerfen können. Das sind im Prinzip dumme Bomben, die durch Bausätze gleitfähig gemacht werden. Der britische Geheimdienst sprach am 8. Februar davon, dass die Russen in Awdijiwka in den letzten vier Wochen 600 solcher Gleitbomben eingesetzt hat. Auch das setzt die Ukraine enorm unter Druck. Am Wochenende habe ich Nachrichten von ukrainischen Kameraden an der Front bekommen. Die klingen mittlerweile wirklich verzweifelt, weil sie keine Munition mehr haben, mit der sie die Russen auf Distanz halten können.

Das Gleichgewicht zwischen dem Material der Russen und dem Gegenfeuer der Ukraine war immer fragil. Hilfe kam für die Ukraine vor allem durch den Einsatz westlicher Systeme, die im Vergleich zu den russischen Systemen sehr präzise wirken. Die westliche Unterstützung ermöglichte es den Ukrainern, die russischen Artilleriestellungen sehr gezielt anzugreifen, während die Russen immer einen massierten Artillerieeinsatz angewandt haben, da ihre Geschütze nicht so präzise schießen.

Vor einer Woche sagten Sie, es gebe entlang der Front mindestens neun Einbruchstellen.

Mittlerweile sind es fünfzehn, zum Teil bis zu sechs Kilometer tief. Die Ukrainer schaffen es nicht mehr, die Russen an den kritischen Stellen zurückzuhalten, so wie das die letzten Monate gelungen ist. Russland hat rund 500.000 Mann in der Ukraine im Einsatz. Zwischen Kupjansk und Saporischschja befinden sich sechs Gruppierungen in Korpsstärke, also mit jeweils 25.000 bis 30.000 Mann. Allein von der Masse her zwingen sie die Ukraine, ihre Reserven auszuspielen. Das wird in den nächsten Wochen noch zunehmen, weil im März in Russland die Präsidentenwahl ansteht. Vorher will Putin einen Erfolg haben – zumindest Awdijiwka, möglicherweise sogar mehr.

Dieser Fluss ist tatsächlich die belastungsfähigste Verteidigungslinie der Ukrainer. Darum haben die Russen auch gleich zu Beginn ihres Angriffs versucht, ein Fuß auf die andere Seite zu bekommen, und darum hat die ukrainische Armee so vehement versucht, sie aus der Gegend um die Stadt Cherson zu verdrängen, was ihnen ja auch gelungen ist. Wenn die Ukraine es nicht schafft, dem Druck der Russen weiter etwas entgegenzusetzen, wenn sie nicht die Munition bekommt, die sie braucht, dann kann das dazu führen, dass es tatsächlich zu einem Durchbruch der Russen kommt. So prekär ist die Situation im Moment. Und das betrifft nicht nur das taktisch-operative Gefechtsfeld, sondern auch die strategische Komponente, die laufenden Luftangriffe. Seit dem 1. Februar hat die Ukraine mit Ausnahme von drei Tagen in jeder Nacht Luftangriffe erlebt, davon ein schwerer Luftangriff, bei dem Marschflugkörper und Drohnen in Kombination eingesetzt wurden. Wenn das so weitergeht, besteht die Gefahr, dass die Ukraine es nicht schafft, was sie sich für dieses Jahr vorgenommen hat, nämlich die Rüstungsproduktion wieder hochzufahren.

Schauen Sie sich an, wie viele Menschen dieses Interview mittlerweile gesehen haben.

Putin zeigt die Abgründe seiner ParallelweltNicht alle glauben den Unsinn, den Putin erzählt.

Nicht alle glauben den Unsinn, den Putin erzählt.

Das ist natürlich richtig, viele Menschen werden das nur angesehen haben, um sich ein Bild zu machen. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass der Krieg zwischen der Ukraine und Russland von Russland als Auseinandersetzung zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden dargestellt wird. Russland gelingt es ganz offensichtlich, den globalen Süden auf seine Seite zu ziehen, denn sonst, ohne China und ohne Indien, könnte die russische Rüstungsindustrie nicht mehr produzieren. Tucker Carlson hat Putin eine Bühne gegeben, noch einmal seine Propaganda-Narrative vorzutragen, zwei Stunden lang. Für Russland ist das ein Erfolg.

Auch das ist ein Aspekt im Informationskrieg, der den Russen hilft: Wenn ein möglicher künftiger US-Präsident sagt, Putin solle sich ruhig alles holen, von dem er glaubt, es stehe ihm zu, dann gibt der Westen beziehungsweise der globale Norden kein gutes Bild ab. Gleichzeitig ist der Zustand vieler Streitkräfte in den NATO-Staaten sicherlich nicht gut. Trotzdem wurde in den vergangenen zwei Jahren meist beschwichtigt: Wir müssen uns keine Sorgen machen, die Russen sind dilettantisch, sie sind uns militärisch unterlegen. Und nun erleben wir, dass die Russen vorrücken und wir nichts mehr haben, was wir der Ukraine liefern können.

Es steht mir als Österreicher nicht zu, Deutschland gute Ratschläge zu geben. Aber ich kann wie ein Arzt eine zweite Diagnose stellen. Meine Diagnose ist, dass der deutsche Verteidigungsminister sieht, was in den letzten Jahrzehnten liegengeblieben ist. Die Bestände reichen weder für Lieferungen an die Ukraine noch für die eigene Bundeswehr. Deshalb schlägt Boris Pistorius Alarm. Ein NATO-Staat nach dem anderen weist seine Bevölkerungen darauf hin, dass es wirklich ernst ist. Die Skandinavier und Balten waren die ersten, die damit begonnen haben. Mittlerweile hat auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Carsten Breuer, gesagt, dass die Bundeswehr in fünf Jahren kriegstüchtig sein muss.

Das heißt nicht, dass die ersten russischen Panzer bald auf dem Weg nach Berlin sind. Aber wir befinden uns jetzt schon in den Vorphasen eines Krieges – in der kognitiven Kriegsführung, in der es um die Beeinflussung von Wahlen und ähnliches geht. Da sind wir mittendrin statt nur dabei. Viele unserer Bevölkerungen merken dies gar nicht. Sie übernehmen willig die Propaganda unserer Gegner. Unsere Regierungen verlieren hingegen die Deutungshoheit. Wenn wir für die Zukunft gewappnet sein wollen, dann müssen wir jetzt massive Anstrengungen unternehmen. Wir dürfen gegenüber unseren Gegnern kein Bild der Schwäche abgeben. Das macht sie nur noch angriffsfreudiger. Die Lage ist ernst. Dies muss ausgesprochen werden. Niemand soll sagen, er hätte es nicht gewusst.

News Related

OTHER NEWS

Ukraine-Update am Morgen - Verhandlungen mit Moskau wären „Kapitulationsmonolog" für Kiew

US-Präsident Joe Biden empfängt Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus. Evan Vucci/AP/dpa Die US-Regierung hält Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zum jetzigen Zeitpunkt für „sinnlos”. Bei einem Unwetter in Odessa ... Read more »

Deutschland im Wettbewerb: Subventionen schaden dem Standort

Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. November 2023 im Bundestag Als Amerikas Präsident Donald Trump im Jahr 2017 mit Handelsschranken und Subventionen den Wirtschaftskrieg gegen China begann, schrien die Europäer auf ... Read more »

«Godfather of British Blues»: John Mayall wird 90

John Mayall hat Musikgeschichte geschrieben. Man nennt ihn den «Godfather of British Blues». Seit den 1960er Jahren hat John Mayall den Blues geprägt wie nur wenige andere britische Musiker. In ... Read more »

Bund und Bahn: Einigung auf günstigeres Deutschlandticket für Studenten

Mit dem vergünstigten Deutschlandticket will Bundesverkehrsminister Wissing eine junge Kundengruppe dauerhaft an den ÖPNV binden. Bei der Fahrkarte für den Nah- und Regionalverkehr vereinbaren Bund und Länder eine Lösung für ... Read more »

Die Ukraine soll der Nato beitreten - nach dem Krieg

Die Ukraine soll nach dem Krieg Nato-Mitglied werden. Die Ukraine wird – Reformen vorausgesetzt – nach dem Krieg Mitglied der Nato werden. Das hat der Generalsekretär des Militärbündnisses, Jens Stoltenberg, ... Read more »

Präsidentin droht Anklage wegen Tod von Demonstranten

Lima. In Peru wurde eine staatsrechtlichen Beschwerde gegen Präsidentin Dina Boluarte eingeleitet. Sie wird für den Tod von mehreren regierungskritischen Demonstranten verantwortlich gemacht. Was der Politikerin jetzt droht. Perus Präsidentin ... Read more »

Novartis will nach Sandoz-Abspaltung stärker wachsen

ARCHIV: Das Logo des Schweizer Arzneimittelherstellers Novartis im Werk des Unternehmens in der Nordschweizer Stadt Stein, Schweiz, 23. Oktober 2017. REUTERS/Arnd Wiegmann Zürich (Reuters) – Der Schweizer Pharmakonzern Novartis will ... Read more »
Top List in the World